Achtes Kapitel
Christus, der Erstling der Entschlafenen, ist in den Himmel aufgefahren

[92] Nach dem bisher Gezeigten ist nun leicht einzusehen, daß Christus der Erstling der Gestorbenen ist (primogenitum ex mortuis esse); denn kein Mensch konnte vor ihm auferstehen, weil die menschliche Natur noch nicht in der Zeit zu ihrem Höhepunkte (ad maximum) gelangt, noch nicht mit der Unzerstörlichkeit und Unsterblichkeit, wie in Christus, geeint war. Alle waren unfähig dazu, bis Der kam, welcher sagte: »ich habe die Macht mein Leben hinzugeben und es wieder zu nehmen.« In Christus, dem Erstlinge der Entschlafenen, hat daher die menschliche Natur die Unsterblichkeit angezogen. Nun gibt es aber nur Eine untheilbare Menschheit und nur eine specifische Wesenheit aller Menschen, durch welche alle einzelnen Menschen unter sich der Zahl nach verschiedene Wesen sind, so daß die Menschheit Christi und aller andern Menschen die gleiche ist, unbeschadet des numerischen Unterschiedes der einzelnen Individuen. Hienach ist klar, daß die Menschheit aller Menschen, die zeitlich vor oder nach Christus lebten oder noch leben werden, in Christus die Unsterblichkeit angezogen haben. Der Schluß ist also giltig: der Mensch Christus ist auferstanden, folglich werden nach dem ganzen Ablaufe der zeitlichen Zerstörlichkeit alle Menschen durch ihn auferstehen, um ewig unzerstörlich zu sein. Wiewohl jedoch die Menschheit aller Menschen Eine und Dieselbe ist, so sind doch die individualisirenden Principien, welche die Menschheit auf dieses oder jenes Subject einschränken, mannigfach und verschieden. Nur in Jesus Christus waren sie am vollkommensten und mächtigsten, dem[92] Wesen der Menschheit am nächsten, die mit der Gottheit geeint war, in deren Kraft Jesus im Stande war, mit eigener Kraft aufzuerstehen, eine Kraft, die ihm aus der Gottheit zukam. Eben deßhalb heißt es auch, Gott habe ihn von den Todten auferweckt, während er, da er Gott und Mensch war, durch eigene Kraft auferstanden ist. Christus, der nur nach seiner Abstammung von einer Mutter zeitlich geboren ist, hat bei seiner Auferstehung nicht den ganzen Abfluß der Zeit abgewartet, weil die Zeit seine Geburt durchaus nicht erfaßt hat.

Beachte ferner: die menschliche Natur hat in Christus die Unsterblichkeit angezogen; daher werden wir zwar Alle, Gute wie Böse, auferstehen, aber nicht durch die Herrlichkeit (per gloriam), die uns durch Christus, den Sohn Gottes, zu Kindern Gottes (in filios adoptionis) umgestaltet, verwandelt werden. Alle werden durch Christus auferstehen, aber nicht Alle wie Christus und durch Einigung mit ihm, sondern nur Jene, die ihm durch Glaube, Hoffnung und Liebe angehören.

Hieraus siehst du, wenn ich mich nicht täusche, daß es keine vollkommene, den Menschen zum höchsten und ersehnten Ziel des Friedens führende Religion gibt, die Christus nicht als Mittler und Erlöser, als Gott und Menschen, als den Weg, die Wahrheit und das Leben auffaßt. Wie widersinnig ist daher der Irrglaube der Saracenen, welche Christus für den größten und vollkommensten Menschen halten, geboren aus der Jungfrau, und glauben, daß er lebendig in den Himmel aufgefahren, aber seine Gottheit läugnen. Sie sind fürwahr verblendet, weil sie Unmögliches behaupten. Nach dem Gesagten muß es für jeden Menschen sonnenklar sein, daß kein Mensch der durchaus vollkommenste und größte und übernatürliche aus einer Jungfrau geboren sein kann, der nicht zugleich Gott ist. Die Saracenen sind daher unverständig, Feinde des Kreuzes, die dessen Mysterien nicht verstehen und darum auch die göttliche Frucht der Erlösung nicht verkosten werden. Auch von dem Gesetze ihres Mahomed, das nichts als Befriedigung sinnlicher Lust verheißt, die durch den Tod Christi in uns ertödtet ist, dürfen sie nicht erwarten, wornach wir in Hoffnung auf den Besitz unvergänglicher Herrlichkeit eifrig streben. Mit den Saracenen glauben auch die Juden, der Messias sei der größte, vollkommenste, unsterbliche Mensch, läugnen aber gleichfalls seine Gottheit, von derselben teuflischen Blindheit geschlagen. Auch sie werden die höchste Seligkeit, Gott zu genießen, auf die sie nicht hoffen, auch nicht erlangen. Was am Befremdendsten ist, ist das, daß sowohl Juden als Saracenen an eine einstige allgemeine Auferstehung glauben, aber die Möglichkeit derselben durch einen Menschen, der zugleich Gott ist, nicht zulassen. Wollte[93] man auch sagen, die Auferstehung sei schon darum nothwendig, weil sonst, wenn die Bewegung des Entstehens und der Zerstörung aufhört, daß Universum nicht mehr seine Vollkommenheit hätte, und da die menschliche Natur ein wesentlicher Theil des Universums ist, das Universum ohne sie nicht nur nicht vollkommen, sondern überhaupt kein Universum mehr sein würde, und daß, wenn einmal die Bewegung aufhört, entweder das ganze Universum zu Grunde gehen oder die Menschen, deren Natur als die mittlere das Ganze in sich faßt, zur Unzerstörlichkeit auferstehen müssen (andere lebende Wesen brauchen nicht aufzuerstehen, da der Mensch die Vollkommenheit derselben ist); oder wollte man auch die Auferstehung nur deßhalb annehmen, damit der ganze Mensch die ihm gebührende Vergeltung von dem gerechten Gott erhalte, so ist doch zu allem Dem vor Allem der Glaube an Christus als den Gottmenschen nothwendig, durch welche allein die menschliche Natur zur Unvergänglichkeit gelangen kann. Blind sind daher Alle, welche an die Auferstehung glauben, aber Christus, die Vermittlung ihrer Möglichkeit, nicht bekennen, da der Glaube an die Auferstehung auch der Glaube an die Gottheit und Menschheit Christi, an seinen Tod und seine Auferstehung ist.

Auferstanden ist er, um durch die Himmelfahrt in seine Herrlichkeit einzugehen. Ich glaube, daß diese Himmelfahrt zu denken ist als über alle Bewegung der Zerstörlichkeit und über allen Einfluß der Himmel erhaben. Denn wiewohl Jesus seiner Gottheit und überall ist, so ist doch das sein ihm eignender Ort, wo kein Wechsel, Leiden, Traurigkeit, überhaupt nichts von dem ist, was der Zeitlichkeit angehört. Dieser Ort der ewigen Freude und des Friedens – sagen wir – ist über den Himmeln, wiewohl er weder zu beschreiben, noch zu definiren ist. Christus ist der Mittelpunkt und die Peripherie der vernünftigen Natur, und da die Vernunft Alles umfaßt (omnia ambiat), so ist er über Allem. Indessen wohnt er in den heiligen Seelen und vernünftigen Geistern, welche die Himmel sind, die seine Herrlichkeit verkünden, als in seinem Tempel. Wir erkennen also, daß Christus über Raum und Zeit zu einer unzerstörlichen bleibenden Wohnung sich erhoben haben, wenn er heißt: er erhob sich über alle Himmel, um Alles zu erfüllen. Da er Gott ist, so ist er Alles in Allem; er herrscht in den Himmeln der vernünftigen Naturen, da er die Wahrheit selbst ist. Er ist nicht räumlich mehr in der Peripherie, als im Centrum, da er der Mittelpunkt aller vernünftigen Geister und ihr Leben ist. Daher sagt er auch, er, der die Quelle des Lebens und das Ziel aller Geister ist, das Himmelreich sei in den Menschen.[94]

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 92-95.
Lizenz:
Kategorien: