Neuntes Kapitel
Christus ist der Richter der Lebendigen und der Todten

[95] Welcher Richter ist gerechter, als der, welcher die Gerechtigkeit selbst ist? Christus, das Haupt und der Anfang jedes vernünftigen Geschöpfes, ist die größte Vernunft selbst, von der jede Vernunft stammt. Die Vernunft fällt das unterscheidende Urtheil. Sonach ist der mit Recht der Richter der Lebendigen und der Todten, der mit allen vernünftigen Naturen die menschliche Natur angenommen hat und dabei Gott geblieben ist, der der Vergelter von Allem ist.

Christus richtet Alles überzeitlich, durch sich und in sich, weil er alle Geschöpfe als der größte Mensch, in dem Alles ist, in sich begreift. Gott als Gott ist das unendliche Licht, in dem keine Finsterniß ist, das Alles erleuchtet, so daß in diesem Lichte dem Lichte selbst Alles ganz klar und offenbar ist. Dieses unendliche vernünftige Licht umfaßt überzeitlich so Gegenwart als Vergangenheit, Lebendes und Todtes in sich, wie das physische Licht die Hyposthase aller Farben ist. Christus ist wie das reinste Feuer, das vom Lichte unzertrennlich ist, und nicht in sich, sondern im Lichte seinen Bestand hat. Er ist das Feuer des geistigen und vernünftigen Lebens, das, indem es Alles verzehrt und in sich aufnimmt, eben dadurch Alles prüft und beurtheilt. Alle vernünftigen Geister werden in Christus so geprüft, wie das dem Feuer Uebergebene (ignibile) im Feuer. Einiges wird, während es im Feuer aushält, doch ganz in die Aehnlichkeit mit dem Feuer umgewandelt. So wird das beste und vollkommenste Gold im Feuer so in Feuer verwandelt, daß man nicht Gold mehr als Feuer wahrnimmt. Anderes nimmt an der Intensität des Feuers nicht in diesem Grade Antheil, wie das geläuterte Silber, Erz und Eisen. Jedoch scheint Alles in Feuer verwandelt, obwohl Jegliches in einem besondern Grade. Dieses Gericht übt jedoch nur das Feuer aus, nicht die vom Feuer ergriffenen Gegenstände (ignitum), da jeder der letztern in jedem andern nur das heftige Feuer bemerkt, nicht aber die Gradunterschiede der vom Feuer ergriffenen Gegenstände, gleichwie auch wir, wenn wir geschmolzenes Gold, Silber und Kupfer in einem sehr großen Feuer sehen, die Unterschiede der Metalle, wenn sie in die Form des Feuers umgestaltet sind, nicht wahrnehmen. Hätte nun dieses Feuer Bewußtsein und Vernunft, so kennete es die Grade der Vollkommenheit eines Jeden, und die Fähigkeit für die Aufnahme eines intensiven Feuers würde in Jedem graduell verschieden erscheinen. Wie es daher einige dem Feuer unterworfene Stoffe gibt, die im Feuer unzerstörlich verharrend Licht und Wärme in sehr hohem Grade aufnehmen[95] und vermöge ihres geläuterten Zustandes leicht zur Aehnlichkeit des Feuers sich umgestalten lassen, während andere Stoffe wegen ihrer unreinen Beschaffenheit zwar wärmefähig, aber nicht in Licht verwandelbar sind, so theilt auch Christus der Richter in Einem einfachsten und unterschiedlosen Ausspruche (judicium), in Einem Momente, an Alle auf die gerechteste Weise, ohne alle Mißgunst, nicht in zeitlicher, sondern natürlicher Ordnung, die Wärme der anerschaffenen Verständigkeit (calorem creatae rationis communicat) aus, und ist diese Wärme von Jedem aufgenommen, so gießt er das göttliche Licht der Vernunft von Oben ein, so daß Gott Alles in Allem ist und Alles durch ihn, den Mittler, in Gott und ihm (dem Mittler) gleich, so weit dies nach der Empfänglichkeit eines Jeden möglich ist. Daß aber einige Stoffe (quaedam), die mehr geeint und geläutert sind, nicht nur für Wärme, sondern auch für Licht empfänglich sind, andere kaum für Wärme, aber nicht für Licht, ist eine Folge der mangelhaften Disposition der Gegenstände. Da nun jenes unendliche Licht die Ewigkeit und Wahrheit selbst ist, so muß das verständige Geschöpf, das durch dasselbe erleuchtet werden will, sich über Welt und Zeit zu dem Wahren und Ewigen hinwenden. Denn Körperliches und Geistiges sind Gegensätze. Das bloße Vegetiren ist körperlicher Natur, es verwandelt die von Außen aufgenommene Nahrung in die Natur des Genährten, es verwandelt sich nicht das Thier in Brod, sondern umgekehrt. Der vernünftige Geist hingegen, dessen Thätigkeit überzeitlich, gleichsam am Horizont der Ewigkeit sich bewegt, kann das Ewige, weil es ewig ist, nicht in sich verwandeln; allein er kann auch sich, da er gleichfalls unzerstörlich ist, nicht so in das Ewige verwandeln, daß er aufhört, ein vernünftige Substanz zu sein. Er wird daher so in jenes verwandelt, daß er zur Aehnlichkeit mit dem Ewigen umgestaltet wird (absorbeatur), jedoch mit graduellem Unterschiede. Ist er stärker und inniger dem Ewigen zugewandt, so geht seine Vollendung durch das Ewige auch tiefer (profundius ab aeternis perficiatur) und sein Sein verbirgt sich in dem ewigen Sein (et abscondatur ejus esse in ipso esse aeterno). Da Christus unsterblich ist und fortlebt, ja das Leben und die Wahrheit ist, so wendet sich, wer zu ihm sich wendet, zum Leben und zur Wahrheit hin; mit je regerem Eifer es geschieht, desto mehr erhebt er sich über das Zeitliche und Vergängliche zum Ewigen hin, so daß sein Leben verborgen ist in Christus. Die Tugenden sind die ewige Gerechtigkeit, die in alle Ewigkeit dauert, das Leben und die Wahrheit. Wer sich der Tugend zuwendet, wandelt auf den Wegen Christi, auf den Wegen der Reinheit und Unsterblichkeit. Die wahren Tugenden sind eine göttliche Erleuchtung (divinae illuminationes). Wer sich daher in diesem Leben durch Christus, der die Tugend ist, zur Tugend wendet, wird, wenn er[96] von diesem zeitlichen Leben befreit ist, in der Reinheit des Geistes erfunden werden, und eingehen dürfen in die Freude, Gott ewig zu besitzen. Die Hinkehr (conversio) unseres Geistes erfolgt, wenn er sich mit allen seinen geistigen Kräften zur reinsten ewigen Wahrheit im Glauben, dem er Alles hintansetzt, hinwendet und diese Wahrheit als das allein Liebenswürdige liebt. Die Hinkehr zu Christus, der die Wahrheit ist, im felsenfesten Glauben ist Verachtung der Welt und siegreiches Bezähmen alles Weltlichen (est mundum istum deserere atque in victoria calcare). Christus auf das Herzlichste lieben, heißt in geistiger Bewegung zu ihm hinziehen, der nicht nur liebenswürdig, sondern die Liebe (caritas) selbst ist. Zieht der Geist in den Stufen der Liebe zur Liebe selbst hin, so vertieft er sich, erhoben über die Zeit und alle weltliche Bewegung, in der Liebe (in ipsam caritatem profundatur). Wie jeder Liebende in der Liebe, so leben Alle, welche die Tugend lieben, in Christus. Und wie jeder Liebende durch die Liebe liebt, so lieben alle Freunde der Wahrheit die Wahrheit durch Christus. Niemand kennt also die Wahrheit, es sei denn der Geist Christi in ihm. Wie es unmöglich ist, daß ein Liebender ohne Liebe sei, so ist es unmöglich, daß Jemand Gott besitze ohne den Geist Christi, in welchem Geist wir allein Gott anbeten können. Daher sind die Glaubenslosen, die sich nicht Christus zuwenden, als unempfänglich für das zur Glorie umgestaltende Licht schon verurtheilt zur Finsterniß und zum Schatten des Todes; denn sie sind weggewandt von dem Leben, das Christus ist, von dessen Fülle allein Alle in der Herrlichkeit durch die Vereinigung mit ihm gesättigt werden. Hierüber will ich weiter unten in dem Abschnitte über die Kirche auf gleicher Grundlage zu unserem Troste noch Einiges beifügen.

Quelle:
Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Freiburg im Breisgau 1862, S. 95-97.
Lizenz:
Kategorien: