Mein Leben

[39] Meine frühste Jugendzeit floß still und ungetrübt dahin und umsäuselte mich sanft gleich einem süßen Traum. Der Friede und die Ruhe, die über einem Pfarrhause schwebt, drückte ihre tiefen, unauslöschbaren Spuren in mein Gemüt ein, wie man denn überhaupt findet, daß die ersten Eindrücke, welche die Seele empfängt, unvergänglich sind. Da aber verdüsterte sich plötzlich der Himmel; mein geliebtet Vater erkrankte schwer und anhaltend. So trat auf einmal Angst und Spannung an die Stelle des heitern, goldenen Friedens, des ruhigen Familienglücks. Endlich nach langer Zeit geschah das Schreckliche: Mein Vater starb! Noch jetzt berührt mich der Gedanke daran innigtief und schmerzlich; damals erkannte ich die ungeheure Wichtigkeit dieses Ereignisses noch nicht so, wie jetzt. – Wenn ein Baum seiner Krone beraubt wird, so sieht er öd und traurig aus. Schlaff hängen die Zweige zur Erde nieder; die Vöglein verlassen die dürren Äste und alles rege Leben ist verschwunden. Und stand es nicht ebenso mit unsrer Familie? Alle Freude war vorüber; Schmerz und Trauer waren an ihrer Stelle. – Nach einem halben Jahr verließen wir das[39] friedliche Dorf; ich war nun ohne Vater, ohne Heimat. Naumburg bot uns zwar eine neue Wohnstätte dar; viel Liebe und Segen bescherte uns Gott auch hier; aber immer wird mein Sinnen nach dem teuren Vaterhaus hingezogen und auf Flügeln der Wehmut eile ich oft dahin, wo mein erstes Glück einst still erblühte. –

In Naumburg begann ich nun einen neuen Lebensabschnitt. Hier gewann ich meine lieben Freunde P. und K., die mir Naumburg für immer lieb und teuer machten. Obschon auch an diesem Ort manche Unglücksfälle unsre Familie trafen, so war doch in allem Gottes segnende Hand zu erkennen. Nachdem ich einige Zeit auf einem Institut vorbereitet worden war, wurde ich in das Domgymnasium aufgenommen. Treue Lehrer waren hier beständig bemüht, unser Wissen zu mehren und zu fördern. Aber auch das Verhältnis der Schüler gegen- und die rege Teilnahme füreinander, machten mir diese Anstalt sehr wert und teuer. Ich befand mich hier recht wohl und wäre sicher bis zur Universität hier geblieben, wenn es nicht Gottes weiser Rat anders beschlossen hätte. Denn plötzlich wurde uns eine Freistelle von Pforta angetragen. Nun, der Vater im Himmel wird mich auch hier an seiner Hand führen und leiten. –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 39-40.
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