Mein Lebenslauf [I]
[Aus dem Jahre 1861]

[88] Die verflossene Zeit des Lebens zu überschauen, und Gedanken an die wichtigsten Ereignisse desselben anzuknüpfen, kann und darf niemandem uninteressant sein, dem seine eigne Sitten- und Geistesentwicklung am Herzen liegt. Denn wenn auch die Keime zu den geistigen und sittlichen Anlagen schon in uns verborgen liegen und der Grundcharakter jedem Menschen gleichsam angeboren ist, so pflegen doch erst die äußern einwirkenden Verhältnisse, die in bunter Mannigfaltigkeit den Menschen bald tiefer, bald flüchtiger berühren, ihn so zu gestalten, wie er als Mann sowohl in sittlicher als geistiger Beziehung auftritt. Günstige Lebensverhältnisse können deshalb, ebenso[88] wie unglückliche, sich sowohl nützlich als schädlich zeigen, je nachdem die verschiedenen Keime zu bösen und guten Neigungen dadurch geweckt werden. Wie oft doch preisen die Menschen die Reichen, Berühmten, überhaupt vom Glück Begünstigten glücklich und wie oft verwünschen nicht gerade jene ihre Lebensstellung, die sie in Laster und Gemütsunruhe gestürzt habe und Neigungen, die ihre Lebensfreude aufzehren, in ihnen erweckt habe. Wofern diese Anschuldigung des Schicksals gerecht ist, wofern überhaupt alle die ihm gemachten Vorwürfe billig sind, so muß diese austeilende Macht entweder blind oder das Prinzip der Ungerechtigkeit sein. Es ist aber ebenso undenkbar, die höchsten Interessen des Menschengeschlechts in die Hände eines gedanken- und unterscheidungslosen Wesens zu legen, als einem urbösen Etwas anzuvertrauen. Denn ein abstraktes, ungeistiges Schöpferisches kann ebensowenig wie ein urböses Wesen unsre Geschicke leiten, da im ersten Fall das Geistlose nicht existieren kann – denn alles, was ist, lebt – im zweiten Fall der dem Menschen angestammte Trieb zum Guten unerklärbar wäre. Es gibt in allem Geschaffnen Stufenleitern, die sich auch auf unsichtbare Wesen erstrecken müssen, wenn nicht die Welt selbst die Urseele sein soll. So bemerken wir einen Fortschritt des Lebens, ausgehend vom Stein, überhaupt dem scheinbar Festen, Starren, fortschreitend zu Pflanzen, Tieren, Menschen und auslaufend in Erde, Luft, Himmelskörper, Welt oder Raum, Stoff und Zeit. Soll hier die Grenze und das Ende sein? Sollen abstrakte Begriffe die Schöpfer alles Seins sein? Nein, über das Stoffliche, Räumliche, Zeitliche hinaus ragen die Urquellen des Lebens, sie müssen höher und geistiger sein, die Lebensfähigkeit unendlich, die Schöpferkraft unbegrenzt sein.

Eine andre Stufenleiter bildet die anwachsende Verteilung der Geisteskräfte, und hier steht von allen sichtbaren der Mensch an der Spitze, da er die größte Geistesausdehnbarkeit hat. Aber die Unvollkommenheit und Beschränktheit des menschlichen Geistes, der die Welt klar durchdringen müßte, wenn er der Urgeist sein sollte, leitet unsre Blicke auf eine höhere, erhabenere Geisteskraft, von der alle andern Geisteskräfte wie von einer Urquelle herfließen. So lassen sich noch viele solche Stufenleitern finden, wie der anwachsende Fortschritt des Stofflichen, Räumlichen, Zeitlichen, der Moral usw. Alle[89] aber – und das ist das Wichtige – bestimmen uns erstens die Existenz des ewigen Wesens, dann auch die Eigenschaften desselben. Nur auf einem guten Wesen und zwar auf einem Prinzip des Guten kann die Austeilung der Geschicke ruhen und wir müssen nicht verwegen den Schleier zu heben wagen, der über der Leitung unsrer Verhältnisse gebreitet ist. Wie vermöchte auch der Mensch mit seinen so gering ausgebreiteten Anlagen des Geistes die erhabenen Pläne zu durchdringen, die der Urgeist aussann und ausführt! Es gibt keinen Zufall; alles was geschieht, hat Bedeutung, und je mehr die Wissenschaft forscht und sucht, desto einleuchtender wird der Gedanke, daß alles, was ist oder geschieht, ein Glied einer verborgenen Kette sei. Wirf deinen Blick auf die Geschichte; glaubst du, daß bedeutungslos die Zahlen sich aneinanderreihen? Schaue den Himmel an; meinst du, daß ordnungs- und gesetzlos die Himmelskörper ihre Bahnen wandeln? Nein, nein! Was geschieht, das geschieht nicht von ungefähr, ein höheres Wesen leitet berechnend und bedeutungsvoll alles Erschaffne.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 88-90.
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