Mein Lebenslauf [II]
[Aus dem Jahre 1861]

[90] Es macht auf mich immer einen eigentümlichen Eindruck, wenn ich auf die verflossnen Jahre zurückschaue und mir längst geschwundene Zeiten vergegenwärtige. Jetzt erst erkenne ich, wie manche Ereignisse auf meine Entwicklung eingewirkt haben, wie sich Geist und Herz durch den Einfluß der umgebenden Verhältnisse gestaltet haben. Denn wenn auch die Grundzüge des Charakters jedem Menschen gleichsam angeboren sind, so bilden doch erst die Zeit und die Umstände diese rohen Keime aus und prägen ihnen bestimmte Formen auf, die dann durch die Dauer fest und unverlöschlich werden. Wenn ich nun mein Leben ansehe, so finden sich mehrere Ereignisse, deren Einflüsse auf meine Entwicklung unverkennbar sind. Diese Vorfälle sind aber eben nur für mich bedeutsam und mögen für andre wenig Anziehendes haben.

Mein Vater war Geistlicher zu Röcken, einem Dorf, das in der Nähe von Lützen liegt und sich an der Landstraße hinstreckt. Rings[90] wird es durch mehrere größere Teiche, teils durch frische Waldungen umgeben, ist aber sonst weder schön, noch anziehend gelegen. Hier bin ich am 15. 10. 1844 geboren und erhielt meinem Geburtstag zufolge den Namen Friedrich Wilhelm. Was ich über die ersten Jahre meines Lebens weiß, ist zu unbedeutend, es zu erzählen. Verschiedene Eigenschaften entwickelten sich schon sehr frühe, eine gewisse betrachtende Ruhe und Schweigsamkeit, durch die ich mich von andern Kindern leicht fernhielt, dabei eine bisweilen ausbrechende Leidenschaftlichkeit.

Bedeutungsvoll war für mich das Jahr 1848. Neue Eindrücke nahm ich hier in mich auf; ich lernte das Kriegswesen durch die Einquartierung von Husaren kennen. Von der ausgebreiteten Revolution blieb unser Ort verschont, doch erinnere ich mich noch wohl, auf der Landstraße häufig Wagen mit großen bunten Fahnen und Leuten, die Lieder sangen, gesehen zu haben. Wichtiger wurde für mich noch das Jahr durch die Krankheit meines Vaters, die sich noch bis ins folgende Jahr hinzog und dann schnell das Ende herbeibrachte. Es war eine Gehirnentzündung, in ihren Symptomen der Krankheit des höchst seligen Königs ungemein gleich. Trotz der ausgezeichneten Beihilfe des Hofrat Opolcer nachher Kaiserl. österreich. Leibarzt, nahm die Krankheit einen reißenden Fortgang. Unruhe und Besorgnis breitete sich um unser Haus, das früher der Aufenthalt der schönsten Glückseligkeit gewesen war. Und wenn ich auch die Größe der bevorstehenden Gefahr nicht völlig begriff, so mußte doch die traurige, angstvolle Stimmung auf mich einen beunruhigenden Eindruck machen. Die Leiden meines Vaters, die Tränen meiner Mutter, die sorgenvollen Mienen des Arztes, endlich die unvorsichtigen Äußerungen der Landleute mußten mich ein drohendes Unglück ahnen lassen. Und dieses Unglück brach endlich ein.

Das war jene erste verhängnisvolle Zeit, von der aus sich mein ganzes Leben anders gestaltete.[91]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 90-92.
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