27.
An Paul Deussen

[992] [Leipzig, zweite Oktoberhälfte 1868]


Mein lieber Freund, Deine Briefe kommen neuerdings immer bei besonders feierlichen Gelegenheiten an: so, als ich vor kurzem in meine neue Leipziger Wohnung einzog, lag Dein Brief auf dem Tisch, den Freund Roscher bereits richtig expediert hatte. Bald darauf habe ich denn auch den ersten Teil meines Laertianum an Dich addressiert, damit[992] ich nicht wieder dem Vorwurfe verfalle, undankbar gegen Freunde zu sein und durch anhaltendes Stillschweigen den Eindruck eines Toten zu machen. Nein, ich lebe und, was mehr sagen will, ich lebe gut und wünsche, daß Du Dich einmal persönlich davon überzeugst: besonders um die Einsicht zu gewinnen, daß philosophein und Kranksein doch nicht identische Begriffe sind; daß es aber allerdings eine gewisse »Gesundheit« gibt, die ewige Feindin tieferer Philosophie, die bekanntlich neuerdings zum Spitznamen für bestimmte Sorten von Grenzbotenhelden und Historikern geworden ist.

Indem ich so an den Schluß Deines Briefes anknüpfe, erledige ich zugleich den dort mir zugemuteten Vorschlag. Lieber Freund, »gut schreiben« (wenn anders ich dies Lob verdiene: nego ac pernego) berechtigt doch wahrhaftig nicht, eine Kritik des Schopenhauerschen Systems zu schreiben: im übrigen kannst Du Dir von dem Respekt, den ich vor diesem »Genius ersten Ranges« habe, gar keine Vorstellung machen, wenn Du mir (i. e. homini pusillullullo!) die Fähigkeiten zutraust, jenen besagten Riesen über den Haufen zu werfen: denn hoffentlich verstehst Du unter einer Kritik seines Systems nicht nur die Hervorhebung irgendwelcher schadhaften Stellen, mißlungner Beweisführungen, taktischer Ungeschicktheiten: womit allerdings gewisse überverwegne Überwege und in der Philosophie nicht heimische Hayme alles getan zu haben glauben. Man schreibt überhaupt nicht die Kritik einer Weltanschauung: sondern man begreift sie oder begreift sie eben nicht, ein dritter Standpunkt ist mir unergründlich. Jemand, der den Duft einer Rose nicht riecht, wird doch wahrhaftig nicht darüber kritisieren dürfen: und riecht er ihn: à la bonheur! Dann wird ihm die Lust vergehn, zu kritisieren.

– Wir verstehn uns einfach nicht: erlaube mir über die besagten Dinge zu schweigen: was ich mich erinnre, Dir schon einmal vorgeschlagen zu haben.

Mit Deiner Ablehnung einer Apologie bin ich auch nicht sehr zufrieden, insbesondre nicht damit, daß ich Dir zugemutet habe, die »Philologie« zu verteidigen. Daran liegt mir gar nichts: ich möchte aber wissen, was Du über den gegenwärtigen Stand der Philologie, über die herrschenden Methoden, über die Entwicklung der jetzigen Philologen, über ihre Stellung zu den Schulen usw. denkst und zwar[993] im Gegensatz zu meinen etwas derb ausgesprochnen Ansichten. Denn deutlich (oder »martialisch«) zu reden hat in Briefen den besonderen Vorteil, seinen Halbpart aus schwebenden, vermittelnden Standpunkten zu drängen und ihm ein direktes Ja! und Nein! zu erpressen. Natürlich mit Gründen; aber Deine mythologische Auffassung der Philologie als Tochter (sage Tochter! heu heu!) der Philosophie, die als solche jeder Kontrolle und Gerichtsbarkeit entzogen sei, enthält doch keinen auch nur leise angedeuteten Grund. Soll ich mythologisch reden, so betrachte ich Philologie als Mißgeburt der Göttin Philosophie, erzeugt mit einem Idioten oder Kretin. Schade, daß Plato nicht schon denselben mithos erdacht hat: dem würdest Du eher glauben – und mit Recht. – Allerdings frage ich jede einzelne Wissenschaft nach ihrem Freipaß; und wenn sie nicht nachweisen kann, daß irgendwelche großen Kulturzwecke in ihrem Horizont liegen: so lasse ich sie zwar immer noch passieren, da die Käuze im Reich des Wissens ebenso ihr Recht haben als im Reich des Lebens, lache aber, wenn besagte Kauzwissenschaften sich pathetisch gebärden und den Kothurn am Fuße führen. Insgleichen werden einige Wissenschaften einmal senil: und der Anblick ist betrübend, wenn diese, abgezehrten Leibes, mit vertrockneten Adern, welkem Munde das Blut junger und blühender Naturen aufsuchen und vampyrartig aussaugen: ja, es ist die Pflicht eines Pädagogen, die frischen Kräfte fernzuhalten von den Umschlingungen jener greisen Scheusale: die vom Standpunkt des Historikers Ehrerbietung, von dem der Gegenwart Widerwillen, von dem der Zukunft Vernichtung zu erwarten haben.

Alla tauta men tropikôs. Hêmeis de, lieber Freund, sind Jünger der Gegenwart: soyons de notre siècle! –

Schließlich einige persönliche Allotrien. Erstens bitte ich Dich, mir einige Worte über das Laertianum zu schreiben: weil ich wissen möchte, was derartige Arbeiten in Deinem ingenium für eine Wertstellung einnehmen. Zweitens bin ich Dir zu erzählen schuldig, wie, wo und warum ich hier lebe. Vor allem nicht als Student: und es ist bereits über ein Jahr her, daß ich diesen unerträglichen Zustand abgelegt habe. Vielmehr bin ich hier der zukünftige Privatdozent Leipzigs und richte nach dieser Intention mein Leben ein. Die Familie, in der ich meine schöne Behausung aufgeschlagen habe, ist die des Prof. Biedermann,[994] ehemaligen Parlamentlers und jetzigen Redakteurs der Deutschen Allgemeinen: durch den es mir möglich ist, eine Anzahl interessanter Bekanntschaften zu machen (als da sind: geistreiche Frauen, hübsche Schauspielerinnen, bedeutende Literaten und Politiker etc.). Eine Anzahl größerer Aufsätze wartet der glücklichen Stunde, über die ich Dir später einmal schreibe. Ritschl, mein verehrter Lehrer und seine mir sehr nahestehende Gattin erweisen mir manches Angenehme: dazu blühe ich im Kreise strebender Freunde und Genossen und bedaure nur, nicht zur Hand zu haben den vortrefflichen Paul Deussen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 992-995.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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