169.
An Lou von Salomé und Paul Rée

[1196] [Fragment; Mitte Dezember 1882]


Meine Lieben, Lou und Rée! Beunruhigt Euch nicht zu sehr über die Ausbrüche meines »Größenwahns« oder meiner »verletzten Eitelkeit« – und wenn ich selbst aus irgendeinem Affekte mir zufällig einmal das Leben nehmen sollte, so würde auch da nicht allzuviel zu betrauern sein. Was gehen Euch meine Phantasterein an! (Selbst meine »Wahrheiten« gingen Euch bisher nichts an.) Erwägen Sie beide doch sehr miteinander, daß ich zuletzt ein kopfleidender Halb-Irrenhäusler bin, den die lange Einsamkeit vollends verwirrt hat.

Zu dieser, wie ich meine, verständigen Einsicht in die Lage der Dinge komme ich, nachdem ich eine ungeheuere Dosis Opium – aus Verzweiflung – eingenommen habe. Statt aber den Verstand dadurch zu verlieren, scheint er mir endlich zu kommen. Übrigens war ich wirklich wochenlang krank; und wenn ich sage, daß ich hier 20 Tage Orta-Wetter gehabt habe, so brauche ich nichts mehr zu sagen.[1196]

Freund Rée, bitten Sie Lou, mir alles zu verzeihen – sie gibt auch mir noch eine Gelegenheit, ihr zu verzeihen. Denn bis jetzt habe ich ihr noch nicht verziehn.

Man vergibt seinen Freunden viel schwerer als seinen Feinden.

Da fällt mir Lous »Verteidigung« ...

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1196-1197.
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