Im Süden

[263] So häng ich denn auf krummem Aste

Und schaukle meine Müdigkeit.

Ein Vogel lud mich her zu Gaste,

Ein Vogelnest ists, drin ich raste.

Wo bin ich doch? Ach, weit! Ach, weit!


Das weiße Meer liegt eingeschlafen,

Und purpurn steht ein Segel drauf.

Fels, Feigenbäume, Turm und Hafen,

Idylle rings, Geblök von Schafen, –

Unschuld des Südens, nimm mich auf!


Nur Schritt für Schritt – das ist kein Leben,

Stets Bein vor Bein macht deutsch und schwer.

Ich hieß den Wind mich aufwärts heben,

Ich lernte mit den Vögeln schweben, –

Nach Süden flog ich übers Meer.


Vernunft! Verdrießliches Geschäfte!

Das bringt uns allzubald ans Ziel!

Im Fliegen lernt ich, was mich äffte, –

Schon fühl ich Mut und Blut und Säfte

Zu neuem Leben, neuem Spiel...


Einsam zu denken nenn ich weise,

Doch einsam singen – wäre dumm!

So hört ein Lied zu eurem Preise[263]

Und setzt euch still um mich im Kreise,

Ihr schlimmen Vögelchen, herum!


So jung, so falsch, so umgetrieben

Scheint ganz ihr mir gemacht zum Lieben

Und jedem schönen Zeitvertreib?

Im Norden – ich gestehs mit Zaudern –

Liebt ich ein Weibchen, alt zum Schaudern:

»Die Wahrheit« hieß dies alte Weib...

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 263-264.
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Ausgewählte Ausgaben von
Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
Die fröhliche Wissenschaft
Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Die fröhliche Wissenschaft - La gaya scienza