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[217] Inwiefern Moral kaum entbehrlich ist. – Der nackte Mensch ist im allgemeinen ein schändlicher Anblick – ich rede von uns Europäern (und nicht einmal von den Europäerinnen!). Angenommen, die froheste Tischgesellschaft sähe sich plötzlich durch die Tücke eines Zauberers[217] enthüllt und ausgekleidet, ich glaube, daß nicht nur der Frohsinn dahin und der stärkste Appetit entmutigt wäre, – es scheint, wir Europäer können jener Maskerade durchaus nicht entbehren, die Kleidung heißt. Sollte aber die Verkleidung der »moralischen Menschen«, ihre Verhüllung unter moralische Formeln und Anstandsbegriffe, das ganze wohlwollende Verstecken unsrer Handlungen unter die Begriffe Pflicht, Tugend, Gemeinsinn, Ehrenhaftigkeit, Selbstverleugnung nicht seine ebenso guten Gründe haben? Nicht daß ich vermeinte, hierbei sollte etwa die menschliche Bosheit und Niederträchtigkeit, kurz das schlimme wilde Tier in uns vermummt werden; mein Gedanke ist umgekehrt, daß wir gerade als zahme Tiere ein schändlicher Anblick sind und die Moral-Verkleidung brauchen – daß der »inwendige Mensch« in Europa eben lange nicht schlimm genug ist, um sich damit »sehen lassen« zu können (um damit schön zu sein –). Der Europäer verkleidet sich in die Moral, weil er ein krankes, kränkliches, krüppelhaftes Tier geworden ist, das gute Gründe hat, »zahm« zu sein, weil er beinahe eine Mißgeburt, etwas Halbes, schwaches, Linkisches ist... Nicht die Furchtbarkeit des Raubtiers findet eine moralische Verkleidung nötig, sondern das Herdentier mit seiner tiefen Mittelmäßigkeit, Angst und Langeweile an sich selbst. Moral putzt den Europäer auf – gestehen wir es ein! – ins Vornehmere, Bedeutendere, Ansehnlichere, ins »Göttliche« –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 217-218.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
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