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[218] Vom Ursprung der Religionen. – Die eigentliche Erfindung der Religionsstifter ist einmal: eine bestimmte Art Leben und Alltag der Sitte anzusetzen, welche als disciplina voluntatis wirkt und zugleich die Langeweile wegschafft; sodann: gerade diesem Leben eine Interpretation zu geben, vermöge deren es vom höchsten Werte umleuchtet scheint, so daß es nunmehr zu einem Gute wird, für das man kämpft und, unter Umständen, sein Leben läßt. In Wahrheit ist von diesen zwei Erfindungen die zweite die wesentlichere: die erste, die Lebensart, war gewöhnlich schon da, aber neben andren Lebensarten und ohne Bewußtsein davon, was für ein Wert ihr innewohne. Die Bedeutung, die Originalität des Religionsstifters kommt gewöhnlich darin zutage, daß[218] er sie sieht, daß er sie auswählt, daß er zum ersten Male errät, wozu sie gebraucht, wie sie interpretiert werden kann. Jesus (oder Paulus) zum Beispiel fand das Leben der kleinen Leute in der römischen Provinz vor, ein bescheidnes, tugendhaftes, gedrücktes Leben: er legte es aus, er legte den höchsten Sinn und Wert hinein – und damit den Mut, jede andre Art Leben zu verachten, den stillen Herrenhuter-Fanatismus, das heimliche unterirdische Selbstvertrauen, welches wächst und wächst und endlich bereit ist, »die Welt zu überwinden« (das heißt Rom und die höheren Stände im ganzen Reiche). Buddha insgleichen fand jene Art Menschen vor, und zwar zerstreut unter alle Stände und gesellschaftliche Stufen seines Volks, welche aus Trägheit gut und gütig (vor allem inoffensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, abstinent, beinahe bedürfnislos leben: er verstand, wie eine solche Art Menschen mit Unvermeidlichkeit, mit der ganzen vis inertiae, in einen Glauben hineinrollen müsse, der die Wiederkehr der irdischen Mühsal (das heißt der Arbeit, des Handelns überhaupt) zu verhüten verspricht – dies »Verstehen« war sein Genie. Zum Religionsstifter gehört psychologische Unfehlbarkeit im Wissen um eine bestimmte Durchschnittsart von Seelen, die sich noch nicht als zusammengehörig erkannt haben. Er ist es, der sie zusammenbringt; die Gründung einer Religion wird insofern immer zu einem langen Erkennungs-Feste.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 218-219.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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