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[233] Zwei Arten Ursache, die man verwechselt. – Das erscheint mir als einer meiner wesentlichsten Schritte und Fortschritte: ich lernte die Ursache des Handelns unterscheiden von der Ursache des So- und So-Handelns, des In-dieser-Richtung-, Auf-dieses-Ziel-hin-Handelns. Die erste Art Ursache ist ein Quantum von aufgestauter Kraft, welches darauf wartet, irgendwie, irgendwozu verbraucht zu werden; die zweite Art ist dagegen etwas, an dieser Kraft gemessen, ganz Unbedeutendes, ein kleiner Zufall zumeist, gemäß dem jenes Quantum sich nunmehr auf eine und bestimmte Weise »auslöst«: das Streichholz im[233] Verhältnis zur Pulvertonne. Unter diese kleinen Zufälle und Streichhölzer rechne ich alle sogenannten »Zwecke«, ebenso die noch viel sogenannteren »Lebensberufe«: sie sind relativ beliebig, willkürlich, fast gleichgültig im Verhältnis zu dem ungeheuren Quantum Kraft, welches danach drängt, wie gesagt, irgendwie aufgebraucht zu werden. Man sieht es gemeinhin anders an: man ist gewohnt, gerade in dem Ziele (Zwecke, Berufe usw.) die treibende Kraft zu sehen, gemäß einem uralten Irrtume – aber er ist nur die dirigierende Kraft, man hat dabei den Steuermann und den Dampf verwechselt. Und noch nicht einmal immer den Steuermann, die dirigierende Kraft... Ist das »Ziel«, der »Zweck« nicht oft genug nur ein beschönigender Vorwand, eine nachträgliche Selbstverblendung der Eitelkeit, die es nicht Wort haben will, daß das Schiff der Strömung folgt, in die es zufällig geraten ist? Daß es dorthin »will«, weil es dorthin – muß? Daß es wohl eine Richtung hat, aber ganz und gar – keinen Steuermann? – Man bedarf noch einer Kritik des Begriffs »Zweck«.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 233-234.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
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