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[235] Unser Glaube an eine Vermännlichung Europas. – Napoleon verdankt man's (und ganz und gar nicht der französischen Revolution, welche[235] auf »Brüderlichkeit« von Volk zu Volk und allgemeinen blumichten Herzens-Austausch ausgewesen ist), daß sich jetzt ein paar kriegerische Jahrhunderte aufeinander folgen dürfen, die in der Geschichte nicht ihresgleichen haben, kurz daß wir ins klassische Zeitalter des Kriegs getreten sind, des gelehrten und zugleich volkstümlichen Kriegs im größten Maßstabe (der Mittel, der Begabungen, der Disziplin), auf den alle kommenden Jahrtausende als auf ein Stück Vollkommenheit mit Neid und Ehrfurcht zurückblicken werden – denn die nationale Bewegung, aus der diese Kriegs-Glorie herauswächst, ist nur der Gegenschock gegen Napoleon und wäre ohne Napoleon nicht vorhanden. Ihm also wird man einmal es zurechnen dürfen, daß der Mann in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Philister geworden ist; vielleicht sogar über »das Weib«, das durch das Christentum und den schwärmerischen Geist des achtzehnten Jahrhunderts, noch mehr durch die »modernen Ideen« verhätschelt worden ist. Napoleon, der in den modernen Ideen und geradewegs in der Zivilisation etwas wie eine persönliche Feindin sah, hat mit dieser Feindschaft sich als einer der größten Fortsetzer der Renaissance bewährt: er hat ein ganzes Stück antiken Wesens, das entscheidende vielleicht, das Stück Granit wieder heraufgebracht. Und wer weiß, ob nicht dies Stück antiken Wesens auch endlich wieder über die nationale Bewegung Herr werden wird und sich im bejahenden Sinne zum Erben und Fortsetzer Napoleons machen muß – der das eine Europa wollte, wie man weiß, und dies als Herrin der Erde.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 235-236.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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