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[171] Unsere Luft. – Wir wissen es wohl: wer nur wie im Spazierengehen einmal einen Blick nach der Wissenschaft hin tut, nach Art der Frauen und leider auch vieler Künstler: für den hat die Strenge ihres Dienstes, diese Unerbittlichkeit im kleinen wie im großen, diese Schnelligkeit im Wägen, Urteilen, Verurteilen etwas Schwindel- und Furchteinflößendes. Namentlich erschreckt ihn, wie hier das Schwerste gefordert, das Beste getan wird, ohne daß dafür Lob und Auszeichnungen[171] da sind, vielmehr, wie unter Soldaten, fast nur Tadel und scharfe Verweise laut werden – denn das Gutmachen gilt als die Regel, das Verfehlte als die Ausnahme; die Regel aber hat hier wie überall einen schweigsamen Mund. Mit dieser »Strenge der Wissenschaft« steht es nun wie mit der Form und Höflichkeit der allerbesten Gesellschaft – sie erschreckt den Uneingeweihten. Wer aber an sie gewöhnt ist, mag gar nicht anderswo leben als in dieser hellen, durchsichtigen, kräftigen, stark elektrischen Luft, in dieser männlichen Luft. Überall sonst ist es ihm nicht reinlich und luftig genug: er argwöhnt, daß dort seine beste Kunst niemandem recht von Nutzen und ihm selber nicht zur Freude sein werde, daß unter Mißverständnissen ihm sein halbes Leben durch die Finger schlüpfe, daß fortwährend viel Vorsicht, viel Verbergen und Ansichhalten not tue – lauter große und unnütze Einbußen an Kraft! In diesem strengen und klaren Elemente aber hat er seine Kraft ganz: hier kann er fliegen! Wozu sollte er wieder hinab in jene trüben Gewässer, wo man schwimmen und waten muß und seine Flügel mißfarbig macht! – Nein! Da ist es zu schwer für uns zu leben: was können wir dafür, daß wir für die Luft, die reine Luft geboren sind, wir Nebenbuhler des Lichtstrahls, und daß wir am liebsten auf Ätherstäubchen gleich ihm reiten würden, und nicht von der Sonne weg, sondern zu der Sonne hin! Das aber können wir nicht – so wollen wir denn tun, was wir einzig können: der Erde Licht bringen, »das Licht der Erde« sein! Und dazu haben wir unsere Flügel und unsere Schnelligkeit und Strenge, um dessenthalben sind wir männlich und selbst schrecklich, gleich dem Feuer. Mögen die uns fürchten, welche sich nicht an uns zu wärmen und zu erhellen verstehen!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 171-172.
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Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
Die fröhliche Wissenschaft
Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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