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[173] Kurze Gewohnheiten. – Ich liebe die kurzen Gewohnheiten und halte sie für das unschätzbare Mittel, viele Sachen und Zustände kennenzulernen, und hinab bis auf den Grund ihrer Süßen und Bitterkeiten; meine Natur ist ganz für kurze Gewohnheiten eingerichtet, selbst in den Bedürfnissen ihrer leiblichen Gesundheit und überhaupt, soweit ich nur sehen kann: vom Niedrigen bis zum Höchsten. Immer glaube ich, dies werde mich nun dauernd befriedigen – auch die kurze Gewohnheit hat jenen Glauben der Leidenschaft, den Glauben an die Ewigkeit – und ich sei zu beneiden, es gefunden und erkannt zu haben: und nun nährt es mich am Mittage und am Abende und verbreitet eine tiefe Genügsamkeit um sich und in mich hinein, so daß mich nach anderem nicht verlangt, ohne daß ich zu vergleichen oder zu verachten oder zu hassen hätte. Und eines Tages hat es seine Zeit gehabt: die gute Sache scheidet von mir, nicht als etwas, das mir nun Ekel einflößte – sondern friedlich und an mir gesättigt, wie ich an ihm, und wie als ob wir einander dankbar sein müßten und uns so die Hände zum Abschied reichten. Und schon wartet das Neue an der Türe, und ebenso mein Glaube – der unverwüstliche Tor und Weise! – dies Neue werde das Rechte, das letzte Rechte sein. So geht es mir mit Speisen, Gedanken, Menschen, Städten, Gedichten, Musiken, Lehren, Tagesordnungen, Lebensweisen. – Dagegen hasse ich die dauernden Gewohnheiten und meine, daß ein Tyrann in meine Nähe kommt und daß meine Lebensluft sich verdickt, wo die Ereignisse sich so gestalten, daß dauernde Gewohnheiten daraus mit Notwendigkeit zu wachsen scheinen: zum Beispiel durch ein Amt, durch ein beständiges Zusammensein mit denselben Menschen, durch einen festen Wohnsitz, durch eine einmalige Art Gesundheit. Ja, ich bin allem[173] meinem Elend und Kranksein, und was nur immer unvollkommen an mir ist – im untersten Grunde meiner Seele erkenntlich gesinnt, weil dergleichen mir hundert Hintertüren läßt, durch die ich den dauernden Gewohnheiten entrinnen kann. – Das Unerträglichste freilich, das eigentlich Fürchterliche, wäre mir ein Leben ganz ohne Gewohnheiten, ein Leben, das fortwährend die Improvisation verlangt – dies wäre meine Verbannung und mein Sibirien.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 173-174.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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