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[179] Indem wir tun, lassen wir. – Im Grunde sind mir alle jene Moralen zuwider, welche sagen: »Tue dies nicht! Entsage! Überwinde dich!« – ich bin dagegen jenen Moralen gut, welche mich antreiben, etwas zu tun und wieder zu tun und von früh bis abend und nachts davon zu träumen, und an gar nichts zu denken als: dies gut zu tun, so gut als es eben mir allein möglich ist! Wer so lebt, von dem fällt fortwährend eins um das andre ab, was nicht zu einem solchen Leben gehört: ohne Haß und Widerwillen sieht er heute dies und morgen jenes von sich Abschied nehmen, den vergilbten Blättern gleich, welche jedes bewegtere Lüftchen dem Baume entführt: oder er sieht gar nicht, daß es Abschied nimmt, so streng blickt sein Auge nach seinem Ziele und überhaupt vorwärts, nicht seitwärts, rückwärts, abwärts. Unser Tun soll bestimmen, was wir lassen: indem wir tun, lassen wir – so gefällt es mir, so lautet mein placitum. Aber ich will nicht mit offnen Augen meine Verarmung anstreben, ich mag alle negativen Tugenden nicht – Tugenden, deren Wesen das Verneinen und Sichversagen selber ist.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 179.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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