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[180] Stoiker und Epikureer. – Der Epikureer sucht sich die Lage, die Personen und selbst die Ereignisse aus, welche zu seiner äußerst reizbaren intellektuellen Beschaffenheit passen, er verzichtet auf das übrige – das heißt das allermeiste –, weil es eine zu starke und schwere Kost für ihn sein würde. Der Stoiker dagegen übt sich, Steine und Gewürm, Glassplitter und Skorpionen zu verschlucken und ohne Ekel zu sein; sein Magen soll endlich gleichgültig gegen alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet – er erinnert an jene arabische Sekte der Assaua, die man in Algier kennenlernt; und gleich diesen Unempfindlichen hat er auch gerne ein eingeladenes Publikum bei der Schaustellung seiner Unempfindlichkeit, dessen gerade der Epikureer gerne enträt – der hat ja seinen »Garten«! Für Menschen, mit denen das Schicksal improvisiert, für solche, die in gewaltsamen Zeiten und abhängig von plötzlichen und veränderlichen Menschen leben, mag der Stoizismus sehr ratsam sein. Wer aber einigermaßen absieht, daß das Schicksal ihm einen langen Faden zu spinnen erlaubt, tut wohl, sich epikureisch einzurichten; alle Menschen der geistigen Arbeit haben es bisher getan! Ihnen wäre es nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit einzubüßen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu bekommen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 180.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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