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[194] Hoch die Physik! – Wie viel Menschen verstehen denn zu beobachten! Und unter den wenigen, die es verstehen – wie viele beobachten sich selber! »Jeder ist sich selber der Fernste« – das wissen alle Nierenprüfer, zu ihrem Unbehagen; und der Spruch »erkenne dich selbst!« ist, im Munde eines Gottes und zu Menschen geredet, beinahe eine Bosheit. Daß es aber so verzweifelt mit der Selbstbeobachtung steht, dafür zeugt nichts mehr als die Art, wie über das Wesen einer moralischen Handlung fast von jedermann gesprochen wird, diese schnelle, bereitwillige, überzeugte, redselige Art, mit ihrem Blick, ihrem Lächeln, ihrem gefälligen Eifer! Man scheint dir sagen zu wollen: »Aber mein Lieber, das gerade ist meine Sache! Du wendest dich mit deiner Frage an den, der antworten darf: ich bin zufällig in nichts so weise wie hierin. Also: wenn der Mensch urteilt ›so ist es recht‹, wenn er darauf schließt ›darum muß es geschehen!‹ und nun tut, was er dergestalt als recht erkannt und als notwendig bezeichnet hat – so ist das Wesen seiner Handlung moralisch!« Aber, mein Freund, du sprichst mir da von drei Handlungen statt von einer: auch dein Urteilen, zum Beispiel »so ist es recht«, ist eine Handlung – könnte nicht schon auf eine moralische und auf eine unmoralische Weise geurteilt werden? Warum hältst du dies und gerade dies für recht? – »Weil mein Gewissen es mir sagt; das Gewissen redet nie unmoralisch, es bestimmt ja[194] erst, was moralisch sein soll!« – Aber warum hörst du auf die Sprache deines Gewissens? Und inwiefern hast du ein Recht, ein solches Urteil als wahr und untrüglich anzusehen? Für diesen Glauben – gibt es da kein Gewissen mehr? Weißt du nichts von einem intellektuellen Gewissen? Einem Gewissen hinter deinem »Gewissen«? Dein Urteil »so ist es recht« hat eine Vorgeschichte in deinen Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen und Nicht-Erfahrungen; »wie ist es da entstanden?« mußt du fragen, und hinterher noch: »was treibt mich eigentlich, ihm Gehör zu schenken?« Du kannst seinem Befehle Gehör schenken wie ein braver Soldat, der den Befehl seines Offiziers vernimmt. Oder wie ein Weib, das den liebt, der befiehlt. Oder wie ein Schmeichler und Feigling, der sich vor dem Befehlenden fürchtet. Oder wie ein Dummkopf, welcher folgt, weil er nichts dagegen zu sagen hat. Kurz, auf hundert Arten kannst du deinem Gewissen Gehör geben. Daß du aber dies und jenes Urteil als Sprache des Gewissens hörst – also, daß du etwas als recht empfindest, kann seine Ursache darin haben, daß du nie über dich nachgedacht hast und blindlings annahmst, was dir als recht von Kindheit an bezeichnet worden ist: oder darin, daß dir Brot und Ehren bisher mit dem zuteil wurde, was du deine Pflicht nennst, – es gilt dir als »recht«, weil es dir deine »Existenz-Bedingung« scheint (daß du aber ein Recht auf Existenz habest, dünkt dich unwiderleglich!). Die Festigkeit deines moralischen Urteils könnte immer noch ein Beweis gerade von persönlicher Erbärmlichkeit, von Unpersönlichkeit sein, deine »moralische Kraft« könnte ihre Quelle in deinem Eigensinn haben – oder in deiner Unfähigkeit, neue Ideale zu schauen! Und, kurz gesagt: wenn du feiner gedacht, besser beobachtet und mehr gelernt hättest, würdest du diese deine »Pflicht« und dies dein »Gewissen« unter allen Umständen nicht mehr Pflicht und Gewissen benennen: die Einsicht darüber, wie überhaupt jemals moralische Urteile entstanden sind, würde dir diese pathetischen Worte verleiden – so wie dir schon andre pathetische Worte, zum Beispiel »Sünde«, »Seelenheil«, »Erlösung« verleidet sind. – Und nun rede mir nicht vom kategorischen Imperativ, mein Freund! – dies Wort kitzelt mein Ohr und ich muß lachen, trotz deiner so ernsthaften Gegenwart: ich gedenke dabei des alten Kant, der, zur Strafe dafür, daß er »das Ding an sich« – auch eine sehr lächerliche Sache! – sich [195] erschlichen hatte, vom

»kategorischen Imperativ« beschlichen wurde und mit ihm im Herzen sich wieder zu »Gott«, »Seele«, »Freiheit« und »Unsterblichkeit« zurückverirrte, einem Fuchse gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt – und seine Kraft und Klugheit war es gewesen, welche diesen Käfig erbrochen hatte! – Wie? Du bewunderst den kategorischen Imperativ in dir? Diese »Festigkeit« deines sogenannten moralischen Urteils? Diese »Unbedingtheit« des Gefühls »so wie ich, müssen hierin alle urteilen«? Bewundere vielmehr deine Selbstsucht darin! Und die Blindheit, Kleinlichkeit und Anspruchslosigkeit deiner Selbstsucht! Selbstsucht nämlich ist es, sein Urteil als Allgemeingesetz zu empfinden; und eine blinde, kleinliche und anspruchslose Selbstsucht hinwiederum, weil sie verrät, daß du dich selber noch nicht entdeckt, dir selber noch kein eigenes, eigenstes Ideal geschaffen hast – dies nämlich könnte niemals das eines anderen sein, geschweige denn aller, aller! – – Wer noch urteilt »so müßte in diesem Falle jeder handeln«, ist noch nicht fünf Schritt weit in der Selbsterkenntnis gegangen: sonst würde er wissen, daß es weder gleiche Handlungen gibt, noch geben kann – daß jede Handlung, die getan worden ist, auf eine ganz einzige und unwiderbringliche Art getan wurde, und daß es ebenso mit jeder zukünftigen Handlung stehen wird, daß alle Vorschriften des Handelns sich nur auf die gröbliche Außenseite beziehen (und selbst die innerlichsten und feinsten Vorschriften aller bisherigen Moralen) – daß mit ihnen wohl ein Schein der Gleichheit, aber eben nur ein Schein erreicht werden kann – daß jede Handlung, beim Hinblick oder Rückblick auf sie, eine undurchdringliche Sache ist und bleibt – daß unsere Meinungen von »gut«, »edel«, »groß« durch unsere Handlungen nie bewiesen werden können, weil jede Handlung unerkennbar ist – daß sicherlich unsere Meinungen, Wertschätzungen und Gütertafeln zu den mächtigsten Hebeln im Räderwerk unserer Handlungen gehören, daß aber für jeden einzelnen Fall das Gesetz ihrer Mechanik unnachweisbar ist. Beschränken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Wertschätzungen und auf die Schöpfung neuer eigener Gütertafeln – über den »moralischen Wert unserer Handlungen« aber wollen wir nicht mehr grübeln! Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwätz der einen über die andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch zu Gericht sitzen,[196] soll uns wider den Geschmack gehen! Überlassen wir dies Geschwätz und diesen üblen Geschmack denen, welche nicht mehr zu tun haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen, und welche selber niemals Gegenwart sind – den vielen also, den allermeisten! Wir aber wollen die werden, die wir sind – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Ge setzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden! Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Notwendigen in der Welt werden: wir müssen Physiker sein, um in jenem Sinne Schöpfer sein zu können – während bisher alle Wertschätzungen und Ideale auf Unkenntnis der Physik oder im Widerspruche mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch die Physik! Und höher noch das, was uns zu ihr zwingt – unsere Redlichkeit!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 194-197.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
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