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[201] Vita femina. – Die letzten Schönheiten eines Werkes zu sehen – dazu reicht alles Wissen und aller guter Wille nicht aus; es bedarf der seltensten glücklichen Zufälle, damit einmal der Wolkenschleier von diesen Gipfeln für uns weiche und die Sonne auf ihnen glühe. Nicht nur müssen wir gerade an der rechten Stelle stehen, dies zu sehen: es muß gerade unsere Seele selber den Schleier von ihren Höhen weggezogen haben und eines äußern Ausdruckes und Gleichnisses bedürftig sein, wie um einen Halt zu haben und ihrer selber mächtig zu bleiben. Dies alles aber kommt so selten gleichzeitig zusammen, daß ich glauben möchte, die höchsten Höhen alles Guten, sei es Werk, Tat, Mensch, Natur, seien bisher für die meisten und selbst für die Besten etwas Verborgenes und Verhülltes gewesen – was sich aber uns enthüllt, das enthüllt sich uns einmal! – Die Griechen beteten wohl: »zwei- und dreimal alles Schöne!« Ach, sie hatten da einen guten Grund, Götter anzurufen, denn die ungöttliche Wirklichkeit gibt uns das Schöne gar nicht oder einmal! Ich will sagen, daß die Welt übervoll von schönen Dingen ist, aber trotzdem arm, sehr arm an schönen Augenblicken und Enthüllungen dieser Dinge. Aber vielleicht ist dies der stärkste Zauber des Lebens: es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheißend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 201.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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