2. Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten

Vorrede

[272] Der Leser, von dem ich etwas erwarte, muß drei Eigenschaften haben. Er muß ruhig sein und ohne Hast lesen. Er muß nicht immer sich selbst und seine »Bildung« dazwischen bringen. Er darf endlich nicht am Schlusse, etwa als Resultat, neue Tabellen erwarten. Tabellen und neue Stundenpläne für Gymnasien und andre Schulen verspreche ich nicht, bewundere vielmehr die überkräftige Natur jener, welche imstande sind, den ganzen Weg von der Tiefe der Empirie aus bis hinauf zur Höhe der eigentlichen Kulturprobleme und wieder von da hinab in die Niederungen der dürrsten Reglements und des zierlichsten Tabellenwerks zu durchmessen; sondern zufrieden, wenn ich, unter Keuchen, einen ziemlichen Berg erklommen habe und mich oben des freieren Blicks erfreuen darf, werde ich eben in diesem Buche die Tabellenfreunde nie zufriedenstellen können. Wohl sehe ich eine Zeit kommen, in der ernste Menschen, im Dienste einer völlig erneuten und gereinigten Bildung und in gemeinsamer Arbeit, auch wieder zu Gesetzgebern der alltäglichen Erziehung – der Erziehung zu eben jener Bildung – wer den; wahrscheinlich müssen sie dann wiederum Tabellen machen; aber wie fern ist die Zeit! Und was wird nicht alles inzwischen geschehen sein! Vielleicht liegt zwischen ihr und der Gegenwart die Vernichtung des Gymnasiums, vielleicht selbst die Vernichtung der Universität, oder wenigstens eine so totale Umgestaltung der eben genannten Bildungsanstalten, daß deren alte Tabellen sich späteren Augen wie Überreste aus der Pfahlbautenzeit darbieten möchten.

Für die ruhigen Leser ist das Buch bestimmt, für Menschen, welche noch nicht in die schwindelnde Hast unseres rollenden Zeitalters hineingerissen sind und noch nicht ein götzendienerisches Vergnügen daran empfinden, wenn sie sich unter seine Räder werfen, für Menschen[272] also, die noch nicht den Wert jedes Dinges nach der Zeitersparnis oder Zeitversäumnis abzuschätzen sich gewöhnt haben. Das heißt – für sehr wenige Menschen. Diese aber »haben noch Zeit«, diese dürfen, ohne vor sich selbst zu erröten, die fruchtbarsten und kräftigsten Momente ihres Tages zusammensuchen, um über die Zukunft unserer Bildung nachzudenken, diese dürfen selbst glauben, auf eine recht nutzbringende und würdige Art bis zum Abend zu kommen, nämlich in der meditatio generis futuri. Ein solcher Mensch hat noch nicht verlernt zu denken, während er liest, er versteht noch das Geheimnis, zwischen den Zeilen zu lesen, ja er ist so verschwenderisch geartet, daß er gar noch über das Gelesene nachdenkt – vielleicht lange nachdem er das Buch aus den Händen gelegt hat. Und zwar nicht, um eine Rezension oder wieder ein Buch zu schreiben, sondern nur so, um nachzudenken! Leichtsinniger Verschwender! Du bist mein Leser, denn du wirst ruhig genug sein, um mit dem Autor einen langen Weg anzutreten, dessen Ziele er nicht sehen kann, an dessen Ziele er ehrlich glauben muß, damit eine spätere, vielleicht ferne Generation mit Augen sehe, wonach wir, blind und nur vom Instinkt geführt, tasten. Wenn der Leser dagegen meinen sollte, es bedürfe nur eines geschwinden Sprungs, einer frohmütigen Tat, wenn er etwa mit einer neuen von Staats wegen eingeführten »Organisation« alles Wesentliche für erreicht hielte, so müssen wir fürchten, daß er weder den Autor noch das eigentliche Problem verstanden hat.

Endlich ergeht die dritte und wichtigste Forderung an ihn, daß er auf keinen Fall, nach Art des modernen Menschen, sich selbst und seine »Bildung« unausgesetzt etwa als Maßstab dazwischen bringe, als ob er damit ein Kriterium aller Dinge besäße. Wir wünschen, er möge gebildet genug sein, um von seiner Bildung recht gering, ja verächtlich zu denken. Dann dürfte er wohl am zutraulichsten sich der Führung des Verfassers hingeben, der es gerade nur von dem Nichtwissen und von dem Wissen des Nichtwissens auswagen durfte, zu ihm zu reden. Nichts anderes will er vor den übrigen für sich in Anspruch nehmen, als ein stark erregtes Gefühl für das Spezifische unserer gegenwärtigen Barbarei, für das, was uns als die Barbaren des neunzehnten Jahrhunderts vor anderen Barbaren auszeichnet. Nun sucht er, mit diesem Buche in der Hand, nach solchen, die von einem ähnlichen[273] Gefühle hin- und hergetrieben werden. Laßt euch finden, ihr Vereinzelten, an deren Dasein ich glaube! Ihr Selbstlosen, die ihr die Leiden der Verderbnis des deutschen Geistes an euch selbst erleidet! Ihr Beschaulichen, deren Auge unvermögend ist, mit hastigem Spähen von einer Oberfläche zur andern zu gleiten! Ihr Hochsinnigen, denen Aristoteles nachrühmt, daß ihr zögernd und tatenlos durchs Leben geht, außer wo eine große Ehre und ein großes Werk nach euch verlangen! Euch rufe ich auf. Verkriecht euch nur diesmal nicht in die Höhle eurer Abgeschiedenheit und eures Mißtrauens. Denkt euch, dies Buch sei bestimmt, euer Herold zu sein. Wenn ihr erst selbst, in eurer eignen Rüstung, auf dem Kampfplatze erscheint, wen möchte es dann noch gelüsten, nach dem Herolde, der euch rief, zurückzuschauen? –[274]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 272-275.
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