4. Das Verhältnis der schopenhauerschen Philosophie zu einer deutschen Kultur

Vorrede

[287] Im lieben niederträchtigen Deutschland liegt jetzt die Bildung so verkommen auf den Straßen, regiert die Scheelsucht auf alles Große so schamlos und tönt der allgemeine Tumult der zum »Glücke« Rennenden so ohrbetäubend, daß man einen starken Glauben, fast im Sinne des credo quia absurdum est, haben muß, um hier auf eine werdende Kultur doch noch hoffen und vor allem für dieselbe – öffentlich lehrend, im Gegensatze zu der »öffentlich meinenden« Presse – arbeiten zu können. Mit Gewalt müssen die, denen die unsterbliche Sorge um das Volk am Herzen liegt, sich von den auf sie einstürmenden Eindrücken des gerade jetzt Gegenwärtigen und Geltenden befreien und den Schein erregen, als ob sie dasselbe den gleichgültigen Dingen zurechneten. Sie müssen so scheinen, weil sie denken wollen und weil ein widerlicher Anblick und ein verworrener, wohl gar mit den Trompetenstößen des Kriegsruhms gemischter Lärm ihr Denken stört, vor allem aber, weil sie an das Deutsche glauben wollen und mit diesem Glauben ihre Kraft verlieren würden. Verargt es diesen Gläubigen nicht, wenn sie sehr aus der Entfernung und von oben herab nach dem Lande ihrer Verheißungen hinschauen! Sie scheuen sich vor den Erfahrungen, denen der wohlwollende Ausländer sich preisgibt, wenn er jetzt unter Deutschen lebt und sich verwundern muß, wie wenig das deutsche Leben jenen großen Individuen, Werken und Handlungen entspricht, die er, in seinem Wohlwollen, als das eigentlich Deutsche zu verehren gelernt hat. Wo sich der Deutsche nicht ins Große erheben kann, macht er einen weniger als mittelmäßigen Eindruck. Selbst die berühmte deutsche Wissenschaft, in der eine Anzahl der nützlichsten häuslichen und familienhaften Tugenden, Treue, Selbstbeschränkung, Fleiß, Bescheidenheit, Reinlichkeit, in eine freiere Luft versetzt und gleichsam verklärt erscheint, ist doch[287] keineswegs das Resultat dieser Tugenden; aus der Nähe betrachtet sieht das zu unbeschränktem Erkennen antreibende Motiv in Deutschland einem Mangel, einem Defekt, einer Lücke viel ähnlicher als einem Überfluß von Kräften, fast wie die Folge eines dürftigen formlosen unlebendigen Lebens und selbst wie eine Flucht vor der moralischen Kleinlichkeit und Bosheit, denen der Deutsche, ohne solche Ableitungen, unterworfen ist und die auch, trotz der Wissenschaft, ja noch in der Wissenschaft des öfteren hervorbrechen. Auf die Beschränktheit, im Leben, Erkennen und Beurteilen, verstehen sich die Deutschen als wahre Virtuosen des Philisterhaften; will sie einer über sie hinaus ins Erhabene tragen, so machen sie sich schwer wie Blei, und als solche Bleigewichte hängen sie an ihren wahrhaft Großen, um diese aus dem Äther zu sich und zu ihrer dürftigen Bedürftigkeit herabzuziehen. Vielleicht mag diese Philister-Gemütlichkeit nur Entartung einer echten deutschen Tugend sein – einer innigen Versenkung in das Einzelne, Kleine, Nächste und in die Mysterien des Individuums – aber diese verschimmelte Tugend ist jetzt schlimmer als das offenbarste Laster; besonders seitdem man sich nun gar dieser Eigenschaft, bis zur literarischen Selbstglorifikation, von Herzen froh bewußt geworden ist. Jetzt schütteln sich die »Gebildeten« unter den bekanntlich so kultivierten Deutschen und die »Philister« unter den bekanntlich so unkultivierten Deutschen öffentlich die Hände und treffen eine Abrede miteinander, wie man fürderhin schreiben, dichten, malen, musizieren und selbst philosophieren, ja regieren müsse, um weder der »Bildung« des einen zu ferne zu stehen noch der »Gemütlichkeit« des andern zu nahe zu treten. Dies nennt man jetzt »die deutsche Kultur der Jetztzeit«; wobei nur noch zu erfragen wäre, an welchem Merkmale jener »Gebildete« zu erkennen ist, nachdem wir wissen, daß sein Milchbruder, der deutsche Philister, sich jetzt selbst, ohne Verschämtheit, gleichsam nach verlorner Unschuld, aller Welt als solchen zu erkennen gibt.

Der Gebildete ist jetzt vor allem historisch gebildet: durch sein historisches Bewußtsein rettet er sich vor dem Erhabenen; was dem Philister durch seine »Gemütlichkeit« gelingt. Nicht mehr der Enthusiasmus, den die Geschichte erregt – wie doch Goethe vermeinen durfte –, sondern gerade die Abstumpfung alles Enthusiasmus ist jetzt das Ziel[288] dieser Bewunderer des nil admirari, wenn sie alles historisch zu begreifen suchen; ihnen müßte man aber zurufen: »Ihr seid die Narren aller Jahrhunderte! Die Geschichte wird euch nur die Bekenntnisse machen, die eurer würdig sind! Die Welt ist zu allen Zeiten voll von Trivialitäten und Nichtigkeiten gewesen: eurem historischen Gelüste entschleiern sich eben diese und gerade nur diese. Ihr könnt zu Tausenden über eine Epoche herfallen – ihr werdet nachher hungern wie zuvor und euch eurer Art angehungerter Gesundheit rühmen dürfen. Illam ipsam quam iactant sanitatem non firmitate sed ieiunio consequuntur (Dial. de orator. c. 25). Alles Wesentliche hat euch die Geschichte nicht sagen mögen, sondern höhnend und unsichtbar stand sie neben euch, dem eine Staatsaktion, jenem einen Gesandtschaftsbericht, einem andern eine Jahreszahl oder eine Etymologie oder ein pragmatisches Spinnengewebe in die Hand drückend. Glaubt ihr wirklich, die Geschichte zusammenrechnen zu können wie ein Additionsexempel und haltet ihr dafür euren gemeinen Verstand und eure mathematische Bildung für gut genug? Wie muß es euch verdrießen, zu hören, daß andre von Dingen erzählen, aus den allerbekanntesten Zeiten heraus, die ihr nie und nimmer begreifen werdet!«

Wenn nun zu dieser historisch sich nennenden, der Begeisterung baren Bildung und zu der gegen alles Große feindseligen und geifernden Philistertätigkeit noch jene dritte brutale und aufgeregte Genossenschaft kommt – derer, die zum »Glücke« rennen –, so gibt das in summa ein so verwirrtes Geschrei und ein so gliederverrenkendes Getümmel, daß der Denker mit verstopften Ohren und verbundenen Augen in die einsamste Wildnis flüchtet – dorthin, wo er sehen darf, was jene nie sehen werden, wo er hören muß, was aus allen Tiefen der Natur und von den Sternen her zu ihm tönt. Hier beredet er sich mit den an ihn heranschwebenden großen Problemen, deren Stimmen freilich ebenso ungemütlich-furchtbar als unhistorisch-ewig erklingen. Der Weichliche flieht vor ihrem kalten Atem zurück, und der Rechnende läuft durch sie hindurch, ohne sie zu spüren. Am schlimmsten aber ergeht es mit ihnen dem »Gebildeten«, der sich mitunter in seiner Art ernstliche Mühe um sie gibt. Für ihn verwandeln sich diese Gespenster in Begriffsgespinste und hohle Klangfiguren. Nach ihnen greifend, wähnt er die Philosophie zu haben, nach ihnen zu suchen,[289] klettert er an der sogenannten Geschichte der Philosophie herum – und wenn er sich endlich eine ganze Wolke von solchen Abstraktionen und Schablonen zusammengesucht und aufgetürmt hat, so mag es ihm begegnen, daß ein wahrer Denker ihm in den Weg tritt und sie – wegbläst. Verzweifelte Ungelegenheit, sich als »Gebildeter« mit Philosophie zu befassen! Von Zeit zu Zeit scheint es ihm zwar, als ob die unmögliche Verbindung der Philosophie mit dem, was sich jetzt als »deutsche Kultur« brüstet, möglich geworden sei; irgendein Zwittergeschöpf tändelt und liebäugelt zwischen beiden Sphären herum und verwirrt hüben und drüben die Phantasie. Einstweilen ist aber den Deutschen, wenn sie sich nicht verwirren lassen wollen, ein Rat zu geben. Sie mögen bei allem, was sie jetzt »Bildung« nennen, sich fragen: ist dies die erhoffte deutsche Kultur, so ernst und schöpferisch, so erlösend für den deutschen Geist, so reinigend für die deutschen Tugenden, daß sich ihr einziger Philosoph in diesem Jahrhundert, Arthur Schopenhauer, zu ihr bekennen müßte?

Hier habt ihr den Philosophen – nun sucht die zu ihm gehörige Kultur! Und wenn ihr ahnen könnt, was das für eine Kultur sein müßte, die einem solchen Philosophen entspräche, nun, so habt ihr, in dieser Ahnung, bereits über alle eure Bildung und über euch selbst – gerichtet![290]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 287-291.
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