1. Über das Pathos der Wahrheit

Vorrede

[267] Ist der Ruhm wirklich nur der köstlichste Bissen unserer Eigenliebe? – Er ist doch an die seltensten Menschen, als Begierde, angeknüpft und wiederum an die seltensten Momente derselben. Dies sind die Momente der plötzlichen Erleuchtungen, in denen der Mensch seinen Arm befehlend, wie zu einer Weltschöpfung, ausstreckt. Licht aus sich schöpfend und um sich ausströmend. Da durchdrang ihn die beglückende Gewißheit, daß das, was ihn so ins Fernste hinaushob und entrückte, also die Höhe dieser einen Empfindung, keiner Nachwelt vorenthalten bleiben dürfe; in der ewigen Notwendigkeit dieser seltensten Erleuchtungen für alle Kommenden erkennt der Mensch die Notwendigkeit seines Ruhms; die Menschheit, in alle Zukunft hinein, braucht ihn, und wie jener Moment der Erleuchtung der Auszug und der Inbegriff seines eigensten Wesens ist, so glaubt er als der Mensch dieses Momentes unsterblich zu sein, während er alles andere als Schlacke, Fäulnis, Eitelkeit, Tierheit oder als Pleonasmus von sich wirft und der Vergänglichkeit preisgibt.

Jedes Verschwinden und Untergehen sehen wir mit Unzufriedenheit, oft mit der Verwunderung, als ob wir darin etwas im Grunde Unmögliches erlebten. Ein hoher Baum bricht zu unserem Mißvergnügen zusammen und ein einstürzender Berg quält uns. Jede Silvesternacht läßt uns das Mysterium des Widerspruchs von Sein und Werden empfinden. Daß aber ein Augenblick höchster Welt-Vollendung gleichsam ohne Nachwelt und Erben wie ein ßüchtiger Lichtschein verschwände, beleidigt am allerstärksten den sittlichen Menschen. Sein Imperativ vielmehr lautet: das, was einmal da war, um den Begriff »Mensch« schöner fortzupflanzen, das muß auch ewig vorhanden sein. Daß die großen Momente eine Kette bilden, daß sie als Höhenzug die Menschheit durch Jahrtausende hin verbinden,[267] daß für mich das Größte einer vergangenen Zeit auch groß ist und daß der ahnende Glaube der Ruhmbegierde sich erfülle, das ist der Grundgedanke der Kultur.

An der Forderung, daß das Große ewig sein soll, entzündet sich der furchtbare Kampf der Kultur; denn alles andere, was noch lebt, ruft nein! Das Gewöhnte, das Kleine, das Gemeine, alle Winkel der Welt erfüllend, als schwere Erdenluft, die zu atmen wir alle verdammt sind, um das Große qualmend, wirft sich hemmend, dämpfend, erstickend, trübend, täuschend in den Weg, den das Große zur Unsterblichkeit zu gehen hat. Der Weg führt durch menschliche Gehirne! Durch die Gehirne erbärmlicher kurzlebender Wesen, welche, engen Bedürfnissen überliefert, immer wieder zu denselben Nöten auftauchen und mit Mühe eine geringe Zeit das Verderben von sich abwehren. Sie wollen leben, etwas leben – um jeden Preis. Wer möchte unter ihnen jenen schwierigen Fackelwettlauf vermuten, durch den das Große allein weiterlebt? Und doch erwachen immer wieder einige, die sich, im Hinblick auf jenes Große, so beseligt fühlen, als ob das Menschenleben eine herrliche Sache sei und als ob es als schönste Frucht dieses bitteren Gewächses gelten müsse, zu wissen, daß einmal einer stolz und stoisch durch dieses Dasein gegangen ist, ein anderer mit Tiefsinn, ein dritter mit Erbarmen, alle aber eine Lehre hinterlassend, daß der das Dasein am schönsten lebt, der es nicht achtet. Wenn der gemeine Mensch diese Spanne Sein so trübsinnig ernst nimmt, wußten jene auf ihrer Reise zur Unsterblichkeit es zu einem olympischen Lachen oder mindestens zu einem erhabenen Hohne zu bringen; oft stiegen sie mit Ironie in ihr Grab – denn was war an ihnen zu begraben?

Die verwegensten Ritter unter diesen Ruhmsüchtigen, die daran glauben, ihr Wappen an einem Sternbild hängend zu finden, muß man bei den Philosophen suchen. Ihr Wirken weist sie nicht auf ein »Publikum«, auf die Erregung der Massen und den zujauchzenden Beifall der Zeitgenossen hin; einsam die Straße zu ziehen, gehört zu ihrem Wesen. Ihre Begabung ist die seltenste und in einem gewissen Betracht unnatürlichste in der Natur, dazu selbst gegen die gleichartigen Begabungen ausschließend und feindselig. Die Mauer ihrer Selbstgenügsamkeit muß von Diamant sein, wenn sie nicht zerstört und zerbrochen werden soll, denn alles ist gegen sie in Bewegung,[268] Mensch und Natur. Ihre Reise zur Unsterblichkeit ist beschwerlicher und behinderter als jede andere, und doch kann niemand sicherer glauben als gerade der Philosoph, zu seinem Ziele zu kommen, weil er gar nicht weiß, wo er stehen soll, wenn nicht auf den weit ausgebreiteten Fittichen aller Zeiten; denn die Nichtachtung des Gegenwärtigen und Augenblicklichen liegt in der Art des philosophischen Betrachtens. Er hat die Wahrheit; mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es der Wahrheit entfliehen können.

Es ist wichtig, von solchen Menschen zu erfahren, daß sie einmal gelebt haben. Nie würde man sich als müßige Möglichkeit den Stolz des weisen Heraklit, der unser Beispiel sein mag, imaginieren können. An sich scheint ja jedes Streben nach Erkenntnis, seinem Wesen nach, unbefriedigt und unbefriedigend; deshalb wird niemand, wenn er nicht durch die Historie belehrt ist, an eine so königliche Selbstachtung, an eine so unbegrenzte Überzeugtheit, der einzige beglückte Freier der Wahrheit zu sein, glauben mögen. Solche Menschen leben in ihrem eignen Sonnensystem; darin muß man sie auch suchen. Auch ein Pythagoras, ein Empedokles behandelten sich selbst mit einer übermenschlichen Schätzung, ja mit fast religiöser Scheu; aber das Band des Mitleidens an die große Überzeugung von der Seelenwanderung und der Einheit alles Lebendigen geknüpft, führte sie wieder zu den anderen Menschen, zu deren Rettung, hin. Von dem Gefühl der Einsamkeit aber, das den Einsiedler des ephesischen Artemis Tempels durchdrang, kann man nur in der wildesten Gebirgsöde erstarrend etwas ahnen. Kein übermächtiges Gefühl mitleidiger Erregungen, kein Begehren, helfen und retten zu wollen, strömt von ihm aus: er ist wie ein Gestirn ohne Atmosphäre. Sein Auge, lodernd nach innen gerichtet, blickt erstorben und eisig, wie zum Scheine nur, nach außen. Rings um ihn unmittelbar an die Feste seines Stolzes schlagen die Wellen des Wahns und der Verkehrtheit, mit Ekel wendet er sich davon ab. Aber auch die Menschen mit fühlenden Brüsten weichen einer solchen tragischen Larve aus; in einem abgelegenen Heiligtum, unter Götterbildern, neben kalter großartiger Architektur mag so ein Wesen begreiflicher erscheinen. Unter Menschen war Heraklit als Mensch unglaublich; und wenn er wohl gesehen wurde, wie er auf das Spiel lärmender Kinder achtgab, so hat er dabei jedenfalls bedacht,[269] was nie ein Sterblicher bei solcher Gelegenheit bedacht hat – das Spiel des großen Weltenkindes Zeus und den ewigen Scherz einer Weltzertrümmerung und einer Weltentstehung. Er brauchte die Menschen nicht, auch nicht für seine Erkenntnis; an allem, was man etwa von ihnen erfragen konnte und was die anderen Weisen vor ihm zu erfragen bemüht waren, lag ihm nichts. »Mich selbst suchte und erforschte ich«, sagte er mit einem Worte, durch das man das Erforschen eines Orakels bezeichnete: als ob er der wahre Erfüller und Vollender jenes delphischen Satzes »erkenne dich selbst« sei, und niemand sonst.

Was er aber aus diesem Orakel heraushörte, das gibt er für unsterbliche und ewig deutungswerte Weisheit, in dem Sinne, in dem die prophetischen Reden der Sybille unsterblich seien. Es ist genug für die fernste Menschheit: mag sie es nur wie Orakelsprüche sich deuten lassen, wie er, wie der delphische Gott selbst, »weder sagt, noch verbirgt«. Ob es gleich von ihm »ohne Lachen, ohne Putz und Salbenduft«, vielmehr wie mit »schäumendem Munde« verkündet wird, es muß zu den tausenden Jahren der Zukunft dringen. Denn die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit, obschon er ihrer nicht bedarf. Was geht ihn sein Ruhm an! »Der Ruhm bei immerfort fließenden Sterblichen!«, wie er höhnisch ausruft. Das ist etwas für Sänger und Dichter, auch für die, die vor ihm als »weise« Männer bekannt geworden sind – diese mögen den köstlichsten Bissen ihrer Eigenliebe hinunterschlucken, für ihn ist diese Speise zu gemein. Sein Ruhm geht die Menschen etwas an, nicht ihn; seine Eigenliebe ist die Liebe zur Wahrheit – und eben diese Wahrheit sagt ihm, daß ihn die Unsterblichkeit der Menschen brauche, nicht er die Unsterblichkeit des Menschen Heraklit.

Die Wahrheit! Schwärmerischer Wahn eines Gottes! Was geht die Menschen die Wahrheit an!

Und was war die Heraklitsche »Wahrheit«!

Und wo ist sie hin? Ein verflogener Traum, weggewischt aus den Mienen der Menschheit mit anderen Träumen! – Sie war die erste nicht! Vielleicht würde ein gefühlloser Dämon von alledem, was wir mit stolzer Metapher »Weltgeschichte« und »Wahrheit« und »Ruhm« nennen, nichts zu sagen wissen als diese Worte:[270]

»In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegoßnen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte, aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. Es war auch an der Zeit: denn ob sie schon viel erkannt zu haben sich brüsteten, waren sie doch zu letzt, zu großer Verdrossenheit, dahinter gekommen, daß sie alles falsch erkannt hatten. Sie starben und fluchten im Sterben der Wahrheit. Das war die Art dieser verzweifelten Tiere, die das Erkennen erfunden hatten.«

Dies würde das Los des Menschen sein, wenn er eben nur ein erkennendes Tier wäre; die Wahrheit würde ihn zur Verzweiflung und zur Vernichtung treiben, die Wahrheit, ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein. Dem Menschen geziemt aber allein der Glaube an die erreichbare Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion. Lebt er nicht eigentlich durch ein fortwährendes Getäuschtwerden? Verschweigt ihm die Natur nicht das allermeiste, ja gerade das Allernächste, z. B. seinen eignen Leib, von dem er nur ein gauklerisches »Bewußtsein« hat? In dieses Bewußtsein ist er eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg. O der verhängnisvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtheits-Zimmer hinaus- und hinabzusehen verlangt: vielleicht ahnt er dann, wie auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtswissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend.

»Laßt ihn hängen«, ruft die Kunst. »Weckt ihn auf«, ruft der Philosoph im Pathos der Wahrheit. Doch er selbst versinkt, während er den Schlafenden zu rütteln glaubt, in einen noch tieferen magischen Schlummer – vielleicht träumt er dann von den »Ideen« oder von der Unsterblichkeit. Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntnis, denn sie will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur – die Vernichtung. –[271]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 267-272.
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