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[1076] Es gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit. – »Die Sittlichkeit leugnen« – das kann einmal heißen: leugnen, daß die sittlichen Motive, welche die Menschen angeben, wirklich sie zu ihren Handlungen getrieben haben, – es ist also die Behauptung, daß die Sittlichkeit in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbstbetrügerei) der Menschen gehöre, und vielleicht gerade bei den durch Tugend Berühmtesten am meisten. Sodann kann es heißen: leugnen, daß die sittlichen Urteile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, daß sie Motive des Handelns wirklich sind, daß aber auf diese Weise Irrtümer, als Grund alles sittlichen Urteilens, die Menschen[1076] zu ihren moralischen Handlungen treiben. Dies ist mein Gesichtspunkt: doch möchte ich am wenigsten verkennen, daß in sehr vielen Fällen ein feines Mißtrauen nach Art des ersten Gesichtspunktes, also im Geiste des Larochefoucauld, auch im Rechte und jedenfalls vom höchsten allgemeinen Nutzen ist. – Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchimie leugne, das heißt ich leugne ihre Voraussetzungen: nicht aber, daß es Alchimisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. – Ich leugne auch die Unsittlichkeit: nicht, daß zahllose Menschen sich unsittlich fühlen, sondern daß es einen Grund in der Wahrheit gibt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber versteht – vorausgesetzt, daß ich kein Narr bin –, daß viele Handlungen, welche unsittlich heißen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, daß viele, die sittlich heißen, zu tun und zu fördern sind – aber ich meine: das eine wie das andere aus anderen Gründen als bisher. Wir haben umzulernen, – um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen.
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