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[1098] Der Traum und die Verantwortlichkeit. – In allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit welcher Mangel an folgerichtigem Mute! Nichts ist mehr euer Eigen als eure Träume! Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer – in diesen Komödien seid ihr alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch vor euch, und schon Ödipus, der weise Ödipus, wußte sich Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, daß wir nichts für das können, was wir träumen! Ich schließe daraus: daß die große Mehrzahl der Menschen sich abscheulicher Träume bewußt[1098] sein muß. Wäre es anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei für den Hochmut des Menschen ausgebeutet haben! – Muß ich hinzufügen, daß der weise Ödipus recht hatte, daß wir wirklich nicht für unsere Träume – aber ebensowenig für unser Wachen verantwortlich sind, und daß die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat? Ich sage dies vielleicht zu oft: aber wenigstens wird es dadurch noch nicht zum Irrtum.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1098-1099.
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Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
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