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[1107] Inwiefern man sich vor dem Mitleiden zu hüten hat. – Das Mitleiden, sofern es wirklich Leiden schafft – und dies sei hier unser einziger Gesichtspunkt –, ist eine Schwäche wie jedes Sich-verlieren an einen schädigenden Affekt. Es vermehrt das Leiden in der Welt: mag mittelbar auch hie und da infolge des Mitleidens ein Leiden verringert oder gehoben werden, so darf man diese gelegentlichen und im ganzen unbedeutenden Folgen nicht benutzen, um sein Wesen zu rechtfertigen, welches, wie gesagt, schädigend ist. Gesetzt, es herrschte auch nur einen Tag: so ginge die Menschheit an ihm sofort zugrunde. An sich hat es so wenig einen guten Charakter wie irgendein Trieb: erst dort, wo es gefordert und gelobt wird – und dies geschieht dort, wo man das Schädigende an ihm nicht begreift, aber eine Quelle der Lust darin entdeckt –, hängt sich ihm das gute Gewissen an, erst dann gibt man sich ihm gern hin und scheut nicht seine Kundgebung. Unter anderen Verhältnissen, wo begriffen wird, daß es schädigend ist, gilt es als Schwäche: oder, wie bei den Griechen, als ein krankhafter, periodischer Affekt, dem man durch zeitweilige willkürliche Entladungen seine Gefährlichkeit nehmen könne. – Wer einmal, versuchsweise, den Anlässen zum Mitleiden im praktischen Leben eine Zeitlang absichtlich nachgeht und sich alles Elend, dessen er in seiner Umgebung habhaft werden kann, immer vor die Seele stellt, wird unvermeidlich krank und melancholisch. Wer aber gar als Arzt in irgendeinem Sinne der Menschheit dienen will, wird gegen jene Empfindung sehr vorsichtig werden müssen, – sie lähmt ihn in allen entscheidenden Augenblicken und unterbindet sein Wissen und seine hilfreiche feine Hand.
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Morgenröte
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