21

[831] Dies vorläufig im kurzen und groben über den Zusammenhang der Begriffe »Schuld«, »Pflicht« mit religiösen Voraussetzungen: ich habe[831] absichtlich die eigentliche Moralisierung dieser Begriffe (die Zurückschiebung derselben ins Gewissen, noch bestimmter, die Verwicklung des schlechten Gewissens mit dem Gottesbegriffe) bisher beiseite gelassen und am Schluß des vorigen Abschnittes sogar geredet, wie als ob es diese Moralisierung gar nicht gäbe, folglich, wie als ob es mit jenen Begriffen nunmehr notwendig zu Ende ginge, nachdem deren Voraussetzung gefallen ist, der Glaube an unsern »Gläubiger«, an Gott. Der Tatbestand weicht davon in einer furchtbaren Weise ab. Mit der Moralisierung der Begriffe Schuld und Pflicht, mit ihrer Zurückschiebung ins schlechte Gewissen ist ganz eigentlich der Versuch gegeben, die Richtung der eben beschriebenen Entwicklung umzukehren, mindestens ihre Bewegung stillzustellen: jetzt soll gerade die Aussicht auf eine endgültige Ablösung ein für allemal sich pessimistisch zuschließen, jetzt soll der Blick trostlos vor einer ehernen Unmöglichkeit abprallen, zurückprallen, jetzt sollen jene Begriffe »Schuld« und »Pflicht« sich rückwärts wen den – gegen wen denn? Man kann nicht zweifeln: zunächst gegen den »Schuldner«, in dem nunmehr das schlechte Gewissen sich dermaßen festsetzt, einfrißt, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Buße, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der »ewigen Strafe«) konzipiert ist –; endlich aber sogar gegen den »Gläubiger«, denke man dabei nun an die causa prima des Menschen, an den Anfang des menschlichen Geschlechts, an seinen Ahnherrn, der nunmehr mit einem Fluche behaftet wird (»Adam«, »Erbsünde«, »Unfreiheit des Willens«), oder an die Natur, aus deren Schoß der Mensch entsteht und in die nunmehr das böse Prinzip hineingelegt wird (»Verteufelung der Natur«), oder an das Dasein überhaupt, das als unwert an sich übrigbleibt (nihilistische Abkehr von ihm, Verlangen ins Nichts oder Verlangen in seinen »Gegensatz«, in ein Anders-sein, Buddhismus und Verwandtes) – bis wir mit einem Male vor dem paradoxen und entsetzlichen Auskunftsmittel stehn, an dem die gemarterte Menschheit eine zeitweilige Erleichterung gefunden hat, jenem Geniestreich des Christentums: Gott selbst sich für die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist –[832] der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus Liebe (sollte man's glauben? –), aus Liebe zu seinem Schuldner!...


22

Man wird bereits erraten haben, was eigentlich mit dem allen und unter dem allen geschehen ist: jener Wille zur Selbstpeinigung, jene zurückgetretene Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten Tiermenschen, des zum Zweck der Zähmung in den »Staat« Eingesperrten, der das schlechte Gewissen erfunden hat, um sich wehzutun, nachdem der natürlichere Ausweg dieses Weh-tun-wollens verstopft war – dieser Mensch des schlechten Gewissens hat sich der religiösen Voraussetzung bemächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu ihrer schauerlichsten Härte und Schärfe zu treiben. Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug. Er ergreift in »Gott« die letzten Gegensätze, die er zu seinen eigentlichen und unablöslichen Tier-Instinkten zu finden vermag, er deutet diese Tier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft, Auflehnung, Aufruhr gegen den »Herrn«, den »Vater«, den Urahn und Anfang der Welt), er spannt sich in den Widerspruch »Gott« und »Teufel«, er wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit, Tatsächlichkeit seines Wesens sagt, aus sich heraus als ein Ja, als seiend, leibhaft, wirklich, als Gott, als Heiligkeit Gottes, als Richtertum Gottes, als Henkertum Gottes, als Jenseits, als Ewigkeit, als Marter ohne Ende, als Hölle, als Unausmeßbarkeit von Strafe und von Schuld. Dies ist eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlechterdings nicht seinesgleichen hat: der Wille des Menschen, sich schuldig und verwerflich zu finden bis zur Unsühnbarkeit, sein Wille, sich bestraft zu denken, ohne daß die Strafe je der Schuld äquivalent werden könne, sein Wille, den untersten Grund der Dinge mit dem Problem von Strafe und Schuld zu infizieren und giftig zu machen, um sich aus diesem Labyrinth von »fixen Ideen« ein für allemal den Ausweg abzuschneiden, sein Wille, ein Ideal aufzurichten – das des »heiligen Gottes« –, und angesichts desselben seiner absoluten Unwürdigkeit handgreiflich gewiß zu sein. O über diese wahnsinnige traurige Bestie Mensch! Welche Einfälle kommen ihr,[833] welche Widernatur, welche Paroxysmen des Unsinns, welche Bestialität der Idee bricht sofort heraus, wenn sie nur ein wenig verhindert wird, Bestie der Tat zu sein!... Dies alles ist interessant bis zum Übermaß, aber auch von einer schwarzen düsteren entnervenden Traurigkeit, daß man es sich gewaltsam verbieten muß, zu lange in diese Abgründe zu blicken. Hier ist Krankheit, es ist kein Zweifel, die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewütet hat – und wer es noch zu hören vermag (aber man hat heute nicht mehr die Ohren dafür! –), wie in dieser Nacht von Marter und Widersinn der Schrei Liebe, der Schrei des sehnsüchtigsten Entzückens, der Erlösung in der Liebe geklungen hat, der wendet sich ab, von einem unbesieglichen Grausen erfaßt... Im Menschen ist so viel Entsetzliches!.. Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus!...


23

Dies genüge ein für allemal über die Herkunft des »heiligen Gottes«. – Daß an sich die Konzeption von Göttern nicht notwendig zu dieser Verschlechterung der Phantasie führen muß, deren Vergegenwärtigung wir uns für einen Augenblick nicht erlassen durften, daß es vornehmere Arten gibt, sich der Erdichtung von Göttern zu bedienen, als zu dieser Selbstkreuzigung und Selbstschändung des Menschen, in der die letzten Jahrtausende Europas ihre Meisterschaft gehabt haben – das läßt sich zum Glück aus jedem Blick noch abnehmen, den man auf die griechischen Götter wirft, diese Wiederspiegelungen vornehmer und selbstherrlicher Menschen, in denen das Tier im Menschen sich vergöttlicht fühlte und nicht sich selbst zerriß, nicht gegen sich selber wütete! Diese Griechen haben sich die längste Zeit ihrer Götter bedient, gerade um sich das »schlechte Gewissen« vom Leibe zu halten, um ihrer Freiheit der Seele froh bleiben zu dürfen: also in einem umgekehrten Verstande, als das Christentum Gebrauch von seinem Gotte gemacht hat. Sie gingen darin sehr weit, diese prachtvollen und löwenmütigen Kindsköpfe; und keine geringere Autorität als die des homerischen Zeus selbst gibt es ihnen hier und da zu verstehn, daß sie es sich zu leicht machen. »Wunder!« sagt er einmal – es handelt sich um den Fall des Ägisthos, um einen sehr schlimmen Fall –
[834]

»Wunder, wie sehr doch klagen die Sterblichen wider die Götter!

Nur von uns sei Böses, vermeinen sie; aber sie selber

Schaffen durch Unverstand, auch gegen Geschick, sich das Elend.«


Doch hört und sieht man hier zugleich, auch dieser olympische Zuschauer und Richter ist ferne davon, ihnen deshalb gram zu sein und böse von ihnen zu denken: »was sie töricht sind!« so denkt er bei den Untaten der Sterblichen – und »Torheit«, »Unverstand«, ein wenig »Störung im Kopfe«, so viel haben auch die Griechen der stärksten, tapfersten Zeit selbst bei sich zugelassen als Grund von vielem Schlimmen und Verhängnisvollen – Torheit, nicht Sünde! versteht ihr das?... Selbst aber diese Störung im Kopfe war ein Problem – »ja, wie ist sie auch nur möglich? woher mag sie eigentlich gekommen sein, bei Köpfen, wie wir sie haben, wir Menschen der edlen Abkunft, des Glücks, der Wohlgeratenheit, der besten Gesellschaft, der Vornehmheit, der Tugend?« – so fragte sich jahrhundertelang der vornehme Grieche angesichts jedes ihm unverständlichen Greuels und Frevels, mit dem sich einer von seinesgleichen befleckt hatte. »Es muß ihn wohl ein Gott betört haben«, sagte er sich endlich, den Kopf schüttelnd... Dieser Ausweg ist typisch für Griechen... Dergestalt dienten damals die Götter dazu, den Menschen bis zu einem gewissen Grade auch im Schlimmen zu rechtfertigen, sie dienten als Ursachen des Bösen – damals nahmen sie nicht die Strafe auf sich, sondern, wie es vornehmer ist, die Schuld...


24

– Ich schließe mit drei Fragezeichen, man sieht es wohl. »Wird hier eigentlich ein Ideal aufgerichtet oder eins abgebrochen?« so fragt man mich vielleicht... Aber habt ihr euch selber je genug gefragt, wie teuer sich auf Erden die Aufrichtung jedes Ideals bezahlt gemacht hat? Wieviel Wirklichkeit immer dazu verleumdet und verkannt, wieviel Lüge geheiligt, wieviel Gewissen verstört, wieviel »Gott« jedesmal geopfert werden mußte? Damit ein Heiligtum aufgerichtet werden kann, muß ein Heiligtum zerbrochen werden: das ist das Gesetz – man zeige mir den Fall, wo es nicht erfüllt ist!... Wir modernen Menschen, wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbst-Tierquälerei von[835] Jahrtausenden: darin haben wir unsre längste Übung, unsre Künstlerschaft vielleicht, in jedem Fall unser Raffinement, unsre Geschmacks-Verwöhnung. Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit »bösem Blick« betrachtet, so daß sie sich in ihm schließlich mit dem »schlechten Gewissen« verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre an sich möglich – aber wer ist stark genug dazu? –, nämlich die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Tierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern. An wen sich heute mit solchen Hoffnungen und Ansprüchen wenden?... Gerade die guten Menschen hätte man damit gegen sich; dazu, wie billig, die bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwärmerischen, die müden... Was beleidigt tiefer, was trennt so gründlich ab, als etwas von der Strenge und Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst behandelt? Und wiederum – wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle Welt gegen uns, sobald wir es machen wie alle Welt und uns »gehen lassen« wie alle Welt!... Es bedürfte zu jenem Ziele einer andren Art Geister, als gerade in diesem Zeitalter wahrscheinlich sind: Geister, durch Kriege und Siege gekräftigt, denen die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfnis geworden ist; es bedürfte dazu der Gewöhnung an scharfe hohe Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne, es bedürfte dazu einer Art sublimer Bosheit selbst, eines letzten selbstgewissesten Mutwillens der Erkenntnis, welcher zur großen Gesundheit gehört, es bedürfte, kurz und schlimm genug, eben dieser großen Gesundheit! ... Ist diese gerade heute auch nur möglich?... Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke mißverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei – während sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder ans Licht kommt, die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das[836] bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muß einst kommen...


25

– Aber was rede ich da? Genug! Genug! An dieser Stelle geziemt mir nur eins, zu schweigen: ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem »Zukünftigeren«, einem Stärkeren, als ich bin – was allein Zarathustra freisteht, Zarathustra dem Gottlosen...[837]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 831-839.
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