Fünfter Abschnitt.
Eitelkeit des Menschen. Wirkungen der Eigenliebe.
1.

[127] Wir begnügen uns nicht mit dem Leben, das wir in uns und in unserm eignen Sein haben; wir wollen in der Idee der andern leben, ein eingebildetes Leben und strengen uns darum an zu scheinen. Unaufhörlich mühen wir uns ab dieses imaginäre Sein zu verschönern und zu erhalten und vernachlässigen das wahre Sein. Besitzen wir Ruhe, Großmuth oder Treue, so beeifern wir uns es sehen zu lassen um diese Tugenden an jenes eingebildete Sein zu heften, wir würden sie lieber von uns los machen um sie dort an zu bringen und wir würden mit Freunden Memmen sein um[127] den Ruf der Tapferkeit zu erlangen. Das ist ein großes Zeichen von der Nichtigkeit unsers eignen Seins, daß wir mit dem einen ohne das andre nicht zufrieden sind und oft auf das eine verzichten um des andre nicht zufrieden sind und oft auf das eine verzichten um des andern willen. Denn wer nicht streben wollte um seine Ehre zu erhalten, der wäre ehrlos. Die Süßigkeit des Ruhms ist so groß: woran man ihn auch knüpfe, selbst an den Tod, man liebt ihn.


2.

Der Stolz hält all unserm Elend das Gegengewicht, denn entweder er verbirgt es oder wenn er es aufdeckt, so macht er sich eine Ehre daraus es zu erkennen. Er hält uns so natürlich im Besitz mitten in unserm Elend und in unsern Irrthümern, daß wir selbst das Leben mit Freuden verlieren, wenn nur davon spricht.


3.

Die Eitelkeit ist so fest gewurzelt im Herzen des Menschen, daß ein Packknecht, ein Küchenjunge, ein Lastträger sich rühmt und seine Bewundrer haben will, und die Philosophen selbst wollen dergleichen haben. Die, welche gegen den Ruhm schreiben, suchen den Ruhm gut geschrieben zu haben, und die, welche es lesen, suchen den Ruhm es gelesen zu haben, und ich, der ich dieses schreibe, habe vielleicht diese Begierde und vielleicht die, welche es lesen werden, haben sie auch.


4.

Trotz dem Anblick alles unsers Elends, das uns faßt und an der Kehle hält, haben wir doch einen Trieb, den wir nicht unterdrücken können, der uns erhebt.


5.

Wir sind so anmaßend, daß wir gekannt sein möchten von er ganzen Welt und selbst von den Menschen, die[128] kommen werden, wenn wir nicht mehr sind, und wir sind so eitel, daß die Achtung von fünf oder sechs Personen, die uns umgehen, uns erfreut und zufrieden macht.


6.

Die Neugierde ist nichts als Eitelkeit. Meistentheils will man nur wissen um davon zu sprechen. Man würde nichts eine Reise machen übers Meer um nie davon zu reden, einzig aus Vergnügen zu sehen, ohne Hoffnung sich je mit einem Menschen darüber zu unterhalten.


7.

Man frägt nichts darnach geachtet zu werden in den Städten, wo man bloß durchreist; aber wenn man dort auch nur kurze Bleiben soll, frägt man darnach. Wie viel Zeit gehört dazu? Eine Zeit verhältnißmäßig zu unser eiteln und geringer Dauer.


8.

Die Natur der Eigentliche und dieses menschlichen Ichs ist nichts zu lieben als sich und nichts zu beachten als sich. Aber was soll das Ich thun? Es kann nicht verhindern, daß der Gegenstand, den es liebt, voll von Mängeln und Elend ist, es will groß sein und sieht sich klein; es will glücklich sein und sieht sich elend, es will vollkommen sein und sieht sich voll Unvollkommenheiten, es will der Gegenstand der Liebe und Achtung der Menschen sein, und sieht, daß seine Mängel nichts verdienen als ihre Abneigung und Verachtung. Diese Verlegenheit, in welcher es sich befindet, erzeugt in ihm die ungerechteste und strafbarste Leidenschaft, die man sich denken kann. Es faßt einen tödtlichen Haß gegen diese Wahrheit, die es straft und seiner Mängel überführt. Es möchte sie vernichten und da es sie nicht an sich[129] zerstören kann, zerstört es sie, so viel es vermag, in seiner Erkenntniß und in der Erkenntniß der andern, d.h. es giebt sich alle Mühe seine Mängel sich und andern zu verdecken und kann nicht leiden, daß man sie ihm zeige noch sie sehe.

Es ist gewiß ein Uebel voll Mängel zu sein; aber es ist noch ein größeres Uebel davon voll zu sein und sie nicht erkennen zu wollen, weil dann ja noch eine freiwillige Täuschung hinzugefügt wird. Wir wollen nicht, daß die andern uns betrügen, wir finden es nicht recht, daß sie von uns mehr geachtet sein wollen als sie verdienen; es ist mithin auch nicht recht, daß wir sie betrügen und daß wir von ihnen mehr geachtet sein wollen als wir verdienen.

Also wenn sie uns allein solche Unvollkommenheiten und Laster, die wir wirklich haben, aufdecken, so ist klar, daß sie uns kein Unrecht thun, weil sie nicht daran Schuld sind, sondern daß sie uns etwas Gutes thun, weil sie uns helfen uns von einem Uebel befreien, nämlich von dem Nichterkennen jener Unvollkommenheiten. Wir dürften nicht böse sein, daß sie sie erkennen, da es recht ist, daß sie uns kennen so wie wir sind und uns verachtet, wenn wir verächtlich sind.

Das sind die Gesinnungen, die in einem Herzen, das billig und gerecht wäre, entstehen müßten. Was sollen wir denn von unserm Herzen sagen, wenn wir darin eine ganz entgegen gesetzte Neigung finden? Denn ist es nicht wahr, daß wir die Wahrheit hassen und die, welche sie uns sagen, und daß wir es gern sehen, wenn sie sich zu unsern Gunsten täuschen, und daß wir von ihnen geachtet sein wollen anders als wir in der That sind?[130]

Hier ein Beweis davon, der mir Schauder macht. Die katholische Religion verpflichtet uns nicht ohne Unterschied aller Welt unsre Sünden zu entdecken, sie leidet es, daß wir vor allen andern Menschen verborgen bleiben, aber sie nimmt einen einzigen davon aus, vor dem sie befiehlt den Grund unsers Herzens zu enthüllen und uns sehn zu lassen, wie wir sind. Es giebt nur diesen einzigen Menschen in der Welt, den sie uns gebietet zu enttäuschen und sie verpflichtet ihn zu einem unverletzlichen Geheimniß, wodurch dieses Wissen in ihm ist, als wäre es nicht in ihm. Kann man sich was Liebreicheres und Milderes denen? Und doch ist die Verderbtheit des Menschen so groß, daß er noch Härte in diesem Gesetz findet und das ist einer der Hauptgründe, warum ein großer Theil von Europa sich gegen die Kirche empört hat.

Wie ist das Herz des Menschen ungerecht und unvernünftig, schlecht zu finden, daß man es verpflichtet gegen einen Menschen zu thun, was in gewisser Art recht wäre gegen alle Menschen zu thun! Denn ist es recht, daß wir sie täuschen?[131]

Es giebt verschiedne Grade dieser Abneigung gegen die Wahrheit, aber man kann sagen: sie ist in allen in gewissen Grade, weil sie unzertrennlich von der Eigenliebe ist. Daher kommt jene nichtswürdige Delicatesse, welche diejenigen, die in der Nothwendigkeit sind die Andern tadeln zu müssen, dazu verpflichtet so viel Wendungen und Milderungen zu wählen um sie nur ja zu verletzten. Sie müssen unsre Fehler verkleinern, müssen sich stellen als entschuldigen sie dieselben und müssen zwischenein Lobeserhebungen und Beweise von Zuneigung und Achtung darunter mischen. Bei alle dem hört diese Arznei doch nicht auf bitter zu sein für die Eigenliebe. Sie nimmt davon so wenig als möglich und immer mit Ekel und oft selbst mit einem geheimen Widerwillen gegen die, welche sie ihr darreichen.

So geschieht es, daß, wer irgend ein Interesse hat von uns geliebt zu werden, sich davor hütet uns einen Dienst zu thun, von dem er weiß, daß er uns unangenehm ist. Man behandelt uns, wie wir behandelt sein wollen: wir hassen die Wahrheit und man verbirgt sie uns, wir wollen geschmeichelt sein und man schmeichelt uns, wir mögen gern betrogen sein und man betrügt uns.[132]

Daher kommt es, daß jede Stufe des Glücks, die wir in der Welt höher steigen uns mehr von der Wahrheit entfernt, weil man die Menschen desto mehr zu verletzen scheut, je mehr ihre Zuneigung nützlich und ihre Abneigung gefährlich ist. Ein Fürst kann der Spott von ganz Europa sein und er allein weiß nichts davon. Ich wundre mich nicht darüber: die Wahrheit sagen ist dem nützlich, dem man sie sagt, aber denen nachtheilig, die sie sagen, weil sie sich gehässig machen. Nun lieben aber die, welche mit dem Fürsten leben, mehr ihren Vortheil als den des Fürsten, dem sie dienen und so sind weit entfernt ihm einen Vortheil zu verschaffen, indem sie sich selbst schaden.

Dies Unglück ist gewiß größer und gewöhnlicher in den höhern Verhältnissen, aber auch die geringern sind nicht davon ausgenommen, weil es immer einen Vortheil gewährt sich bei den Menschen zu machten.

So ist das menschliche Leben nichts als eine beständige Täuschung man thut nichts als sich gegenseitig betrügen und sich gegenseitig schmeicheln. Niemand spricht von uns in unsrer Gegenwart, wie er in unsrer Abwesenheit von uns spricht. Die Einigkeit, die unter den Menschen besteht, ist nur auf diesen gegenseitigen Betrug gegründet und wenige Freundschaften würden Bestand halten, wenn jeder wüßte, was sein Freund von ihm sagt, wenn er nicht da ist, obgleich er doch dann aufrichtig und ohne Leidenschaft von ihm spricht.

Der Mensch ist also nichts als Verstellung, Lüge und Heuchelei, so wohl in sich selbst als gegen die andern. Er will nicht, daß man ihm die Wahrheit sage, er vermeidet sie den andern zu sagen und alle diese Neigungen so weit entfernt von der Gerechtigkeit und von der Vernunft, haben eine natürliche Wurzel in seinem Herzen.[133]

Quelle:
Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Berlin 1840, S. 127-134.
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