Erster Abschnitt.
Auffallende Widersprüche, die sich in der Natur des Menschen finden, in Betreff der Wahrheit, des Glücks und mehrer anderer Dinge.
1.

[226] Nichts ist auffallender in der Natur des Menschen als die Widersprüche, die man an ihr in Betreff aller Dinge entdeckt. Er ist gemacht die Wahrheit zu erkennen, er begehrt sie heiß, er sucht sie und doch, wenn er sie zu erfassen strebt, verblendet und verwirrt er sich dergestalt, daß er Anlaß giebt ihm ihren Besitz streitig zu machen. Daraus sind die beiden Parteien der Pyrrhonisten und der Dogmatisten entstanden, von denen jene dem Menschen alle Erkenntniß der Wahrheit hat rauben wollen und diese sie ihm zu sichern sucht; aber jede mit so wenig wahrscheinlichen Gründen, daß sie die Verwirrung und Verlegenheit des Menschen[226] noch vermehren, wenn er kein andres Licht hat als das, welches er in seiner Natur findet.

Die Hauptgründe der Pyrrhonisten sind folgende: außer dem Glauben und der Offenbarung haben wir keine Gewißheit von der Wahrheit der Principien als nur, daß wir sie von Natur in uns fühlen. Dieses natürliche Gefühl aber ist nicht ein überzeugender Beweis von ihrer Wahrheit, denn es giebt außer dem Glauben keine Gewißheit, ob der Mensch geschaffen ist von einem guten Gott oder von einem bösen Dämon, ob er von jeher gewesen ist oder durch Zufall entstanden, und so bleibt es zweifelhaft, ob uns in diesen Principien wahre oder falsche oder ungewisse gegeben sind, je nachdem unser Ursprung ist. Ferner hat niemand außer dem Glauben eine Sicherheit, ob er wacht oder schläft, indem man während des Schlafs nicht weniger fest glaubt zu wachen, als wenn man wirklich wacht. Man glaubt die Räume, die Gestalten, die Bewegungen zu sehn, man merkt, wie die Zeit verläuft, man mißt sie, kurz man handelt ganz wie wach. Also da die Hälfte des Lebens nach unserm eignen Zugeständniß im Schlaf vergeht, wo wir, obgleich es uns so scheint, doch keine Idee des Wahren haben, indem dann alle unsre Empfindungen Täuschungen sind, wer weiß, ob jener andre Theil des Lebens, wo wir zu wachen meinen, nicht ein vom ersten nur etwas verschiedener Schlaf ist, aus dem wir erwachen, wenn wir zu schlafen meinen, wie man oft träumt, daß man träume und so Traum auf Traum häuft?

Ich übergehe, was die Pyrrhonisten sagen gegen die Eindrücke der Gewohnheit, der Erziehung, der Sitten, der Länder und andre ähnliche Dinge, von welchen doch die meisten Menschen bestimmt werden, die nur auf diesen Grundlagen ihre Dogmen aufbauen.

Die einzige Festung der Dogmatisten ist die: wenn man[227] aufrichtig und offen redet, kann man nicht zweifeln an den natürlichen Principien. Wir erkennen, sagen sie, die Wahrheit nicht bloß durch Vernunft, sondern auch durch Gefühl und durch eine lebendige und klare Anschauung und gerade auf diese letzte Weise erkennen wir die ersten Principien. Umsonst versucht die Vernunft, die an ihnen keinen Theil hat, sie zu bekämpfen. Die Pyrrhonisten, welche nur dies beabsichtigen, geben sich vergebliche Mühe. Wir wissen, daß wir nicht träumen, wie unvermögend wir auch sind es mit der Vernunft zu beweisen. Dieses Unvermögen beweist nichts als die Schwäche unsrer Vernunft, aber nicht die Ungewißheit aller unsrer Erkenntnisse, wie jene behaupten, denn die Erkenntniß der ersten Principien wie z.B. daß es Raum, Zeit, Bewegung, Zahl, Materie giebt, ist ebenso gewiß wie jede von denen, die unsre Vernunftschlüsse uns geben. Und auf diese Erkenntnisse der Anschauung und des Gefühls muß die Vernunft sich stützen und alle ihre Aussage gründen. Ich fühle, daß es drei Ausdehnungen im Raum giebt und daß die Zahlen unendlich sind; und die Vernunft beweist hinterher, daß es nicht zwei Quadratzahlen giebt, von denen die eine das Doppelte der andern wäre. Die Principien fühlt man, die Lehrsätze schließt man, alles mit Gewißheit, obgleich auf verschiedenen Wegen. Und es ist ebenso lächerlich, wenn die Vernunft vom Gefühl und von der Anschauung Beweise dieser ersten Principien verlangt, um ihnen bei zu stimmen, als es lächerlich sein würde, wenn die Anschauung von der Vernunft verlangte ein Gefühl aller der Lehrsätze, die sie beweist. Dieses Unvermögen kann also nur dienen die Vernunft zu demüthigen, die über alles urtheilen möchte, nicht aber unsere Gewißheit zu bestreiten, als wäre nur die Vernunft fähig uns zu belehren. Wollte Gott wir hätten im Gegentheil ihrer nie von Nöthen und erkännten alle Dinge durch Instinct und Gefühl! Aber die Natur[228] hat uns dieses Gut versagt und uns nur sehr wenige Erkenntnisse dieser Art verliehn; alle andern können nur durch Vernunftschlüsse erlangt werden.

So ist denn offener Krieg unter den Menschen. Jeder muß Partei ergreifen und sich nothwendig entweder zum Dogmatismus oder zum Pyrrhonismus halten, denn wer neutral zu bleiben gedächte, würde eben recht ein Pyrrhonist sein. Diese Neutralität ist das Wesen des Pyrrhonismus, wer nicht gegen sie ist, ist eben recht für sie. Was wird denn der Mensch in dieser Lage thun? Wird er zweifeln an allem? Wird er zweifeln, ob er wacht, ob man ihn kneift, ob man ihn brennt? Wird er zweifeln, ob er zweifelt? Wird er zweifeln, ob er ist? Dahin bringt man es nicht und ich behaupte, daß es niemals einen wirklichen und vollkommenen Pyrrhonisten gegeben hat. Die Natur unterstützt die ohnmächtige Vernunft und verhindert sie bis zu dem Punkt auszuschweifen. Wird er im Gegentheil sagen, daß er gewiß die Wahrheit besitzt, er, der, wenn man ihm nur ein wenig drängt, keinen Besitztitel derselben nachweisen kann und gezwungen ist ab zu stehen?

Wer wird diese Verwirrung lösen? Die Natur widerlegt die Pyrrhonisten und die Vernunft widerlegt die Dogmatisten. Was wird denn aus dir, o Mensch, der du deine wahrhafte Stellung zu erkennen strebst durch deine natürliche Vernunft? Du kannst keine dieser Parteien fliehen, noch in einer verbleiben. Das ist der Mensch in Betreff der Wahrheit.

Laßt ihn uns jetzt betrachten in Betreff der Glückseligkeit, die er mit solchem Eifer sucht in allen seinen Handlungen. Denn alle Menschen verlangen glücklich zu sein; das ist ohne Ausnahme. Was für verschiedene Mittel sie anwenden, sie streben alle nach diesem Ziel. Was macht, daß der eine in den Krieg geht und der andre nicht, das ist eben[229] dieses gleiche Verlangen, welches in beiden ist, verbunden mit verschiedenen Ansichten. Der Willen thut nie den kleinsten Schritt als nur gegen dieses Ziel hin. Das ist der Beweggrund von allen Handlungen der Menschen, selbst derer, die sich tödten und hängen. Und dennoch seit einer so großen Reihe von Jahren ist nie einer, ohne den Glauben, zu diesem Punkt gelangt, zu dem alle unablässig streben. Alle klagen: Fürsten und Unterthanen, Vornehme und Geringe, Greise und Jünglinge, Starke und Schwache, Gelehrte und Unwissende, Gesunde und Kranke, in allen Ländern, allen Zeiten, allen Altern, und allen Verhältnissen.

Eine so lange, so ununterbrochene und so gleich bleibende Erfahrung sollte uns wohl überzeugen wie unvermögend wir sind zum Glück zu gelangen durch unsere Anstrengungen. Aber das Beispiel belehrt uns nicht. Es ist nie so vollkommen gleich, daß nicht irgend ein feiner Unterschied dabei wäre und da eben erwarten wir, daß unsere Hoffnung in diesem Falle nicht wie in dem andern werde getäuscht werden. So, da die Gegenwart uns nie befriedigt, reizt uns die Hoffnung und führt uns von Unglück zu Unglück bis zum Tode, dem Gipfel alles Unglücks in Ewigkeit.

Das ist befremdend, daß es nichts in der Natur giebt, was nicht im Stande gewesen wäre die Stelle des Zwecks und Glücks für den Menschen ein zu nehmen, Gestirne, Elemente, Pflanzen, Thiere, Insekten, Krankheiten, Kriege, Laster, Verbrechen u.s.w. Nachdem der Mensch von seinem natürlichen Stande herabgefallen ist, giebt es nichts,[230] dem er nicht fähig wäre sich zu ergeben. Seitdem er das wahre Gut verloren hat, kann ihm gleichmäßig alles als solches erscheinen, selbst seine eigene Vernichtung, so sehr sie auch der Vernunft und der Natur zugleich entgegen ist.

Einige haben die Glückseligkeit gesucht im Ansehn, andere in den Seltenheiten und in den Wissenschaften, noch andere in den Wollüsten. Diese drei Begierden haben drei Parteien erzeugt und die, welche man Philosophen nennt, haben eigentlich nichts gethan, als daß sie einer von den dreien sich ergaben. Die, welche der Glückseligkeit am Nächsten gekommen sind, haben erwogen, daß das allgemeine Gut, welches alle Menschen begehren und an welchem alle Theil haben sollen, nothwendiger Weise nicht besteht in irgend einem von den besondern Dingen, die nur von einem Einzelnen besessen werden können und die, wenn sie getheilt werden, ihren Besitzer mehr betrüben durch die Entbehrung des Theils, den er nicht hat, als sie ihn befriedigen durch den Genuß des Theils, der ihm zugehört. Sie haben eingesehn, das wahre Gut muß so beschaffen sein, daß alle es zugleich besitzen können ungeschmälert und ohne Neid und daß niemand es wider seinen Willen verlieren kann. Sie haben es eingesehn, aber sie haben es nicht finden können und statt eines sichern und wirklichen Guts haben sie nur das ferne Bild einer phantastischen Tugend umfaßt.

Durch unsern Instinct fühlen wir, daß wir unser Glück in uns suchen müssen. Unsere Leidenschaften drängen uns nach außen, selbst wenn die Gegenstände sich nicht darböten sie auf zu regen. Die Gegenstände der Außenwelt versuchen uns von selbst und reizen uns, sogar wenn wir nicht an sie denken. So sagen die Philosophen umsonst: Kehre ein in dich selbst, da findest du dein Glück! Man glaubt ihnen nicht und die, welche ihnen glauben, sind die leersten und einfältigsten Köpfe. Denn was kann lächerlicher und[231] nichtiger sein als die Lehrsätze der Stoiker und was falscher als alle ihre Forderungen? Sie schließen so: man könne immer was man bisweilen kann und weil die Begierde des Ruhms die, welche sie beherscht, wohl treibt, etwas zu leisten, so werden das andere auch vermögen. Das sind fieberhafte Bewegungen, welche die Gesundheit nicht nachahmen kann.


2.

Der innere Krieg der Vernunft gegen die Leidenschaften hat gemacht, daß die, welche den Frieden haben wollten, sich in zwei Parteien getheilt haben. Die einen wollten den Leidenschaften entsagen und Götter werden, die andern wollten der Vernunft entsagen und Thiere werden. Aber sie haben es nicht gekonnt, weder die Einen noch die Andern; die Vernunft bleibt immer und klagt die Niedrigkeit und Ungerechtigkeit der Leidenschaften an und stört die Ruhe derer, die sich hingeben, und die Leidenschaften sind immer lebendig, in denen selbst, die ihnen entsagen wollen.


3.

Das ist es, was der Mensch vermag aus sich selbst und durch seine eignen Anstrengungen in Betreff der Wahrheit und des Glücks. Wir haben ein Unvermögen zu beweisen, unbesiegbar für allen Dogmatismus, wir haben eine Idee der Wahrheit, unbesiegbar für allen Pyrrhonismus. Wir verlangen nach der Wahrheit und finden in uns nichts als Ungewißheit. Wir suchen das Glück und finden nur Elend. Wir sind unfähig nicht zu begehren die Wahrheit und das Glück und wir sind unfähig sowohl der Gewißheit als des Glücks. Dies Verlangen ist uns gelassen eben so sehr um uns zu strafen als um uns fühlbar zu machen, von welcher Höhe wir herabgefallen sind.


4.

[232] Ist der Mensch nicht gemacht für Gott, warum ist er nicht glücklich als in Gott? Ist der Mensch gemacht für Gott, warum ist er so wider Gott?


5.

Der Mensch weiß nicht, auf welche Stufe er sich stellen soll. Offenbar ist er verirrt und fühlt in sich Ueberreste eines glücklichen Zustandes, von dem er herabgefallen ist und den er nicht wieder erlangen kann. Er sucht ihn überall mit Unruhe und ohne Erfolg, in undurchdringlicher Finsterniß.

Aus dieser Quelle entspringen die Kämpfe der Philosophen, von denen die einen es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Menschen zu erhöhen, indem sie seine Größe hervorheben, die andern ihn zu erniedrigen, indem sie sein Elend darstellen. Das Sonderbarste dabei ist, daß jede Partei sich die Gründe der andern bedient um ihre Meinung zu begründen. Denn das Elend des Menschen beweist sich aus seiner Größe und seine Größe beweist sich aus seinem Elend. Daher haben die einen um so besser das Elend dargethan, wenn sie zum Beweise dafür die Größe genommen und die andern haben die Größe um so stärker dargethan, wenn sie dieselbe aus dem Elend selbst gefolgert. Alles, was die einen haben sagen können um die Größe zu zeigen, hat nur den andern zum Beweise für das Elend gedient, weil man um so viel elender ist, von je größerer Höhe man gefallen und so umgekehrt. Sie haben sich einer über den andern erhoben in einem Kreise ohne Ende, denn das ist gewiß: je nachdem die Menschen mehr Einsicht haben, entdecken sie mehr und mehr im Menschen Elend und Größe. Mit einem Wort, der Mensch erkennt, daß er elend ist. Er ist also elend, weil er es erkennt; aber er ist sehr groß, weil er erkennt, daß er elend ist.[233]

Welche Chimäre ist denn der Mensch! Welche sonderbare Erscheinung, welches Chaos, welcher Gegenstand des Widerspruchs! Richter über alle Dinge, schwacher Wurm von Erde, im Besitz des Wahren, voll von Ungewißheit, Preis und Auswurf des Universums! Wenn er sich rühmt, erniedrige ich ihn, wenn er sich erniedrigt, rühme ich ihn und widerspreche ihm immer, bis er begreife, daß er ein unbegreifliches Monstrum ist.

Quelle:
Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Berlin 1840, S. 226-234.
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