Zehnter Abschnitt.
Von Jesu Christo.
1.

[305] Der weite Abstand der Körper von den Geistern ist ein Vorbild des unendlich weitern Abstandes der Geister von der Liebe, denn sie ist übernatürlich.

Aller Schimmer der Größe hat keinen Glanz für die Menschen, welche sich mit den Nachforschungen des Geistes beschäftigen. Die Größe der Geistesmenschen ist unsichtbar den Reichen, den Königen, den Eroberern und allen jenen Großen nach den Fleisch. Die Größe der Weisheit, die von Gott kommt, ist unsichtbar den Fleischlichgesinnten und den Geistesmenschen. Dies sind drei ganz verschiedne Gebiete.

Die großen Geister haben ihr Reich, ihren Glanz, ihre Größe, ihre Siege und bedürfen auf keine Weise der fleischlichen Größe, die nichts gemein hat mit der, welche sie suchen. Sie werden gesehn mit dem Geiste, nicht mit dem Auge, aber das ist genug.

Die Heiligen haben ihr Reich, ihren Glanz, ihre Größe, ihre Siege und bedürfen eben so wenig der fleischlichen oder der geistigen Größe, die nicht aus ihrem Gebiete ist und welche der Größe, die sie begehren, weder etwas zusetzt noch nimmt. Sie werden gesehn von Gott und von den Engeln, und nicht von den Körpern oder von den wißbegierigen Geistern: Gott genügt ihnen.

Auch ohne allen Glanz der Geburt wäre Archimedes ein Gegenstand gleicher Verehrung. Er hat nicht Schlachten[305] geliefert; aber er hat der ganzen Welt bewundernswerthe Erfindungen hinterlassen. O wie groß und glänzend ist er in den Augen des Geistes! Jesus Christus, ohne Schätze und ohne irgend eine wissenschaftliche Production nach außen, steht da in seiner Heiligkeit. Er hat keine Erfindungen gemacht, er hat nicht geherscht, aber er ist demüthig, geduldig, heilig von Gott, furchtbar den bösen Geistern, ohne eine Sünde. O wie ist er in großem Glanz gekommen und in einer wunderbaren Herrlichkeit für die Augen des Herzens, für die Augen, welche die Weisheit sehn!

Es wäre unnöthig gewesen, wenn Archimedes in seinen Büchern über Mathematik den Fürsten gemacht hätte, obgleich er es war. Es wäre unnöthig gewesen, wenn unser Herr Jesus Christus als König gekommen wäre um in seinem Reich der Herrlichkeit zu glänzen. Aber wie herrlich kam er im Glanz nach seiner Art!

Es ist lächerlich, Anstoß zu nehmen an der Niedrigkeit Jesu Christi, als wenn diese Niedrigkeit aus demselben Gebiete wäre wie die Größe, die er zu offenbaren kam. Man betrachte diese Größe in seinem Leben, in seinem Leiden, in seiner Unscheinbarkeit, in seinem Tode, in der Wahl der Seinen, in ihrer Flucht, in seiner geheimnißvollen Auferstehung und in allem Uebrigen und man wird sie so groß finden, daß man keinen Grund haben wird sich an einer Niedrigkeit zu stoßen, die nicht da ist. Aber es giebt Menschen, die können nur die fleischliche Größe bewundern, als ob es keine geistige Größe gäbe und wider andere bewundern nur die geistige, als gäbe es nicht eine noch viel höhere in der Weisheit.

Alle Körper, das Firmament, die Sterne, die Erde und die Königreiche stehen niedriger als der geringste der Geister, denn er erkennt das alles und sich selbst; der Körper aber erkennt nichts. Und alle Körper und alle Geister zusammen[306] und alle ihre Erzeugnisse stehen niedriger als die geringste Regung der Liebe, denn sie gehört zu einem unendlich höhern Gebiet.

Alle Körper zusammen sind nicht des geringsten Gedankens fähig, das ist unmöglich und gehört in ein andres Gebiet. Alle Körper und Geister zusammen können nicht eine Regung wahrer Liebe hervorbringen, das ist unmöglich und gehört in ein andres ganz übernatürliches Gebiet.


2.

Jesus Christus lebte in einer solchen Dunkelheit (nähmlich was die Welt Dunkelheit nennt), daß die Geschichtschreiber, die nur wichtige Dinge aufzeichnen, ihn kaum bemerkt haben.


3.

Welcher Mensch hatte je mehr Glanz als Jesus Christus? Das ganze Jüdische Volk sagt ihn voraus, ehe er kommt. Die Heiden beten ihn an, als er kommt. Beide, Heiden und Juden, betrachten ihn als ihren Mittelpunkt. Und doch welcher Mensch genoß je weniger von allen diesem Glanz? Von drei und dreißig Jahren lebte er dreißig ohne zum Vorschein zu kommen. In den drei übrigen gilt er für einen Betrüger, die Priester und die Ersten seines Volks verwerfen ihn, seine Freunde und Verwandten verachten ihn. Zuletzt stirbt er eines schmachvollen Todes, verrathen von dem einen der Seinigen, verleugnet von dem andern und verlassen von allen. Was hat er denn an diesem Glanz gehabt? Nie hat ein Mensch so viel Glanz gehabt, nie ein Mensch mehr Schmach. Alle der Glanz hat zu nichts gedient als für uns um ihn uns kenntlich zu machen; er hat nichts davon gehabt für sich.


4.

Jesus spricht von den größten Dingen so einfach, daß es scheint, als habe er nichts dabei gedacht und doch zugleich[307] so klar und genau, daß man wohl sieht, was er davon dachte. Diese Klarheit verbunden mit jener Einfachheit ist bewundernswürdig.

Wer lehrte die Evangelisten die Eigenschaften einer wahren Heldenseele, daß sie sie so vollkommen in Jesu abschilderten? Warum machen sie ihn schwach in seinem Todeskampf! Wissen sie nicht einen standhaften Tod zu malen? Gewiß ohne Zweifel, denn derselbe Lukas malt den Tod des heiligen Stephans standhafter als den Tod Jesu. Sie schildern ihn also der Furcht fähig, ehe die Nothwendigkeit zu sterben da war, und nachher ganz stark. Allein wenn sie ihn betrübt bis in den Tod schildern, so betrübt er sich selbst, aber wenn die Menschen ihn betrüben, ist er ganz stark.

Die Kirche hat sich genöthigt gesehn zu zeigen, daß Jesus Christus Mensch war gegen die, welche ihn leugneten, eben so wie zu zeigen, daß er Gott war und der Schein ist eben so groß gegen daß eine wie gegen das andre.

Jesus Christus ist ein Gott, dem man sich nähert ohne Stolz und vor dem man sich demüthiget ohne Verzweiflung.


5.

Die Bekehrung der Heiden war der Gnade des Messias vorbehalten. Die Juden haben dafür nichts gethan oder wenigstens ohne Erfolg; alles, was darüber Salomo und die Propheten sagen, ist vergeblich gewesen. Die Weisen, wie Plato und Sokrates, konnten sie nicht bewegen den wahren Gott allein an zu beten.

Das Evangelium spricht von der Jungfrauschaft der Jungfrau Maria nur bis zur Geburt Jesu, alles mit Bezug auf Jesum Christum.

Beide Testamente betrachten Jesum Christum, das alte[308] als seine Erwartung, das neue als sein Vorbild, beide als ihren Mittelpunkt.

Die Propheten haben vorausgesagt und sind nicht vorausgesagt. Die Heiligen darnach sind vorausgesagt, aber nicht voraussagend. Jesus Christus ist vorausgesagt und voraussagend.

Jesus Christus für alle, Moses für ein Volk.

Die Juden gesegnet in Abraham: »Ich will segnen, die dich segnen.« (1 Mose 12. 3.) Aber »alle Völker gesegnet in seinem Samen.« (1 Mose 18. 18.)

»Ein Licht zu erleuchten die Heiden.« (Luk. 2. 32.)

»So thut er keinen Heiden.« (Psalm 147. 20.), so sagte David, da er vom Gesetze sprach; aber wenn man von Jesu Christo redet, muß man sagen: so thut er allen Heiden.

Auch ist das Jesu Christo eigen für alle zu sein. Die Kirche selbst bringt das Opfer nur für die Gläubigen dar, Jesus Christus hat das Opfer am Kreuze für alle dargebracht.

Quelle:
Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Berlin 1840, S. 305-309.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedanken über die Religion
Universal-Bibliothek Nr. 1622: Gedanken: Über die Religion und einige andere Themen
Gedanken: Über die Religion und einige andere Themen. (Reihe Reclam)

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon