Sechster Abschnitt.
Unterwerfung und Gebrauch der Vernunft.
1.

[273] Der letzte Schritt der Vernunft ist, daß sie erkennet, es giebt unzählige Dinge, die sie übersteigen. Sie ist sehr schwach, wenn sie nicht bis so weit geht. Man muß verstehen zu zweifeln, wo es sein muß, zu behaupten, wo es sein muß und sich zu unterwerfen, wo es sein muß. Wer das nicht thut, kennt nicht die Kraft der Vernunft. Manche sündigen gegen diese drei Principien, entweder indem sie alles behaupten als beweisend, weil sie sich nicht auf Beweise verstehn, oder indem sie an allem zweifeln, weil sie nicht wissen, wo man sich unterwerfen muß, oder indem sie sich in allem unterwerfen, weil sie nicht wissen, wo man urtheilen soll.
[273]

2.

Unterwirft man alles der Vernunft, dann hat unsere Religion nichts Geheimnisvolles und nichts Uebernatürliches. Verletzt man die Grundsätze der Vernunft, dann wird unsre Religion abgeschmackt und lächerlich.

Die Vernunft, sagt der heilige Augustinus, würde sich nie unterwerfen, wenn sie nicht einsähe, daß es Fälle giebt, wo sie sich unterwerfen soll. Es ist also recht, daß sie sich unterwerfe, wo sie einsieht, daß sie sich unterwerfen soll und daß sie sich nicht unterwerfe, wo sie mit Grunde urtheilt, daß sie es nicht thun soll; aber man muß sich in Acht nehmen, daß man sich nicht täusche.


3.

Die Frömmigkeit ist verschieden von dem Aberglauben. Die Frömmigkeit bis zum Aberglauben treiben heißt sie zerstören. Die Ketzer rücken uns solche abergläubische Unterwerfung vor. Wir thun was sie uns vorrücken, wenn wie diese Unterwerfung fordern in den Dingen, die nicht Gegenstände der Unterwerfung sind.

Nichts ist mehr der Vernunft gemäß als die Verleugnung der Vernunft in Glaubenssachen und nichts so der Vernunft zuwider als die Verleugnung in Sachen, die nicht[274] Glaubenssachen sind. Das sind zwei gleich gefährliche Uebertreibungen, die Vernunft aus zu schließen und nichts zu zu lassen als die Vernunft.


4.

Der Glaube sagt wohl was die Sinne nicht sagen, aber nie das Gegentheil. Er ist darüber, nicht dagegen.


5.

Hätte ich ein Wunder gesehen, sagen manche Leute, so würde ich mich bekehren. Sie würden so nicht sprechen, wenn sie wüßten, was Verkehrung ist. Sie bilden sich ein: dazu gehöre nichts als an zu erkennen, daß ein Gott ist und die Anbetung bestehe darin, daß man ihm gewisse Reden halte in der Art ungefähr, wie die Heiden ihren Götzen dergleichen hielten. Die wahre Bekehrung besteht darin, daß man sich demüthige vor jenem höchsten Wesen, welches man so oft erzürnt hat und welches uns von Rechts wegen zu jeder Stunde verderben kann, sie besteht darin, daß man erkenne, wie man ohne Gott nichts kann und nichts von ihm verdient hat als seine Ungnade; sie besteht darin, daß man erkenne, wie ein unüberwindlicher Gegensatz ist zwischen Gott und uns und wie hier, ohne einen Mittler, keine Vereinigung statt finden kann.


6.

Verwundert euch nicht zu sehr, daß einfache Leute glauben ohne nach zu denken. Gott giebt es ihnen, seine Gerechtigkeit zu lieben und sich selbst zu hassen. Er neigt ihr Herz zu glauben. Man wird nie glauben mit einer heilsamen und wahrhaft gläubigen Zuversicht, wenn Gott nicht das Herz neigt und man wird glauben von dem Augenblick an, da er es neigt. Und das kannte David wohl, als er sprach: »Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen.« (Ps. 119. 36.)[275]

Diejenigen, welche glauben ohne die Beweise für die Religion geprüft zu haben, glauben, weil sie eine innere ganz heilige Neigung haben und das, was sie von unsrer Religion hören, derselben gemäß ist. Sie fühlen, daß ein Gott sie geschaffen hat. Sie wollen nichts lieber als ihn, sie wollen nichts hassen als sich selbst. Sie fühlen, daß sie dazu nicht die Kraft haben, daß sie unfähig sind zu Gott zu gehen und daß sie, wenn Gott nicht zu ihnen kommt, keine Gemeinschaft mit ihm haben können. Und sie hören in unserer Religion sagen, daß man nur Gott lieben und nur sich selbst hassen soll, aber daß, da alle verderbt und Gottes unfähig sind, Gott Mensch geworden ist um sich mit uns zu vereinigen. Mehr bedarf es nicht um Menschen zu überzeugen, die in ihrem Herzen jene Neigung haben und jene Erkenntniß ihrer Pflicht und ihrer Fähigkeit besitzen.


8.

Die, welche ohne die Kenntniß der Prophezeiungen und der Beweise Christen sind, verfehlen nicht davon eben so gut zu urtheilen, wie die, welche diese Kenntniß haben. Sie urtheilen darüber mit dem Herzen wie die andern darüber mit dem Verstande urtheilen. Gott selbst ist, der sie zu glauben geneigt macht, und so sind sie sehr kräftig überzeugt.

Ich gebe gerne zu, daß einer von diesen Christen, die ohne Beweise glauben, vielleicht nicht im Stande sein wird, einen Ungläubigen zu überführen, der darüber viel aus sich zu sagen weiß. Aber diejenigen, welche die Beweise der Religion kennen, werden ohne Schwierigkeit nachweisen, daß dieser Gläubige wahrhaft von Gott inspirirt ist, obschon er es selbst nicht nachweisen kann.[276]

Quelle:
Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Berlin 1840, S. 273-277.
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