Siebenter Abschnitt.
Bild eines Menschen, der müde geworden ist Gott zu suchen durch die bloße Vernunft und der anfängt die Schrift zu lesen.
1.

[277] Sehe ich die Blindheit und das Elend des Menschen und jene erstaunlichen Widersprüche, die sich in seiner Natur zeigen, sehe ich das ganze All stumm und den Menschen ohne Licht, sich selbst überlassen und wie verirrt in diesen Winkel des Universums, ohne zu wissen, wer ihn dahin gesetzt hat, was er da zu thun gekommen ist, was er werden wird, wenn er stirbt, so gerathe ich in Schrecken wie ein Mensch, den man schlafend auf eine wüste und schreckliche Insel gebracht hätte und der nun aufwachte ohne zu wissen, wo er ist und ohne irgend ein Mittel zu haben um fort zu kommen. Und da bewundere ich es, wie man nicht in Verzweiflung geräth über einen so elenden Zustand. Ich sehe andre Leute neben mir von derselben Natur, ich frage sie; ob sie besser unterrichtet sind als ich und sie sagen mir nein. Ja und diese elenden Verirrten haben umhergeschaut und einige Gegenstände gesehen, die ihnen gefallen und da haben sie sich ihnen ergeben und sich an sie gehängt. Ich für mein Theil habe nicht vermocht mich dabei auf zu halten noch mich der Ruhe zu ergeben, in der Gesellschaft dieser Menschen, die mir gleich sind, erbärmlich wie ich, ohnmächtig wie ich. Ich sehe, daß sie mir nicht helfen, wenn ich sterbe; ich werde allein sterben, ich muß daher thun, als wäre ich allein. Wohlan, wenn ich allein wäre, so würde ich nicht Häuser bauen, würde mich nicht mit den unruhvollen Geschäften belästigen, würde die Achtung von niemand suchen, aber ich würde einzig streben die Wahrheit zu entdecken.[277]

Also indem ich erwäge, wie viel Anschein es hat, daß es etwas anderes giebt als was ich sehe, untersuche ich: ob der Gott, von dem alle Welt spricht, nicht einige Spuren gelassen hat. Ich sehe nach allen Seiten umher und er blicke überall nichts als Dunkelheit. Die Natur bietet mit nichts, was nicht Stoff zu Zweifel und Unruhe wäre. Wenn ich da nichts sähe, was eine Gottheit anzeigte, so würde ich mich entschließen nichts davon zu glauben. Sähe ich überall die Spuren eines Schöpfers, so würde ich mit Frieden ruhen im Glauben. Aber da ich zu viel sehe um zu leugnen und zu wenig um mich gewiß zu machen, so bin ich einem beklagenswerthen Zustande, in welchem ich hundert Mal gewünscht habe, daß die Natur, wenn ein Gott sie trägt, ihn ohne Zweideutigkeit zeige, daß sie, wenn die Zeichen, sie sie von ihm giebt, trüglich sind, dieselben lieber ganz unterdrücke, daß sie alles oder nichts sage, damit ich wisse, welches Theil ich ergreifen soll, statt daß ich in dem Zustande, in welchem ich bin, nicht weiß was ich bin, noch was ich thun soll und weder mein Verhältniß noch meine Pflicht kenne. Mein ganzes Herz strebt zu erkennen, wo das wahre Glück ist, um ihm nach zu gehen. Nichts würde mir zu theuer sein dafür.

Ich sehe eine Menge von Religionen in verschiednen Orten der Welt und in allen Zeiten; aber sie haben weder eine Sittenlehre, die mir gefallen könnte, noch Beweise, die im Stande wären mich selbst zu halten. Und so würde ich sie alle gleichmäßig zurückgewiesen haben, die Religion Muhameds, die von China, die der alten Römer, die der Aegypter, aus dem einzigen Grunde, weil die Vernunft sich nicht mehr zu einen als zu andern hinneigen kann, indem die eine nicht mehr Zeichen von Wahrheit als die andre, noch weniger etwas hat, das entscheidet.

Aber indem ich so diese unbeständige und wunderliche[278] Verschiedenheit von Sitten und Glauben in den verschiednen Zeiten betrachte, finde ich in einem kleinen Theil der Welt ein besonderes Volk, getrennt von allen andern Völkern der Erde, dessen Geschichte um mehre Jahrhunderte die ältesten, die wir haben, übertrifft. Ich finde nun dieses Volk groß und zahlreich, es betet einen einzigen Gott an und lebt nach einem Gesetz, welches sie von seiner Hand zu haben versichern. Sie behaupten, daß sie die Einzigen in der Welt sind, denen Gott seine Geheimnisse geoffenbart hat, daß alle Menschen verderbt sind und unter dem Zorn Gottes stehn, daß sie alle ihren Sinnen und ihrem eignen Geist überlassen sind, und daß davon die seltsamen Verirrungen und fortwährenden Veränderungen entstehen, die unter ihnen in Religion und Gewohnheit vorkommen, während sie selbst unwandelbar bei ihrem Gesetze bleiben, aber daß Gott nicht ewig die andern Völker in dieser Finsterniß lassen wird, daß kommen wird ein Erlöser für alle, daß sie in der Welt sind ihn an zu kündigen, daß sie besonders dazu da sind die Herolde dieser großen Begebenheit zu sein und alle Völker zu rufen, daß sie sich mit ihnen vereinigen in der Erwartung dieses Erlösers.[279]

Die Erscheinung dieses Volks setzt mich in Erstaunen und scheint mir einer außerordentlichen Aufmerksamkeit werth, wegen einer Menge von bewundernswürdigen und eigenthümlichen Dingen, die sich dabei zeigen.

Es ist ein Volk, ganz zusammengesetzt aus Brüdern und während alle andern Völker durch das Zusammenkommen einer Menge von Familien sich gebildet haben, ist dieses, obgleich so auffallend zahlreich, doch ganz von einem einzigen Manne hervorgegangen und so, ein Fleisch und Bein und Glieder untereinander, bilden sie eine große Macht aus einer einzigen Familie. Das ist ohne Gleichen.

Dies Volk ist das älteste, das die Menschen kennen. Dies muß ihm, wie mir scheint, eine besondere Verehrung zuziehn und hauptsächlich in der Untersuchung, die wir vorhaben, weil wir, wenn Gott sich von je her den Menschen mitgetheilt hat, gerade zu diesem Volk die Zuflucht nehmen müssen um die Ueberlieferung davon kennen zu lernen.

Dies Volk ist nicht bloß wegen seines Alterthums beachtenswerth, sondern es ist auch eigenthümlich in seiner Dauer, indem es immer fortbesteht von seinem Ursprung an bis jetzt. Während die Völker Griechenlands, Italiens, Lacadämons, Athens, Roms und die andern, die so lange Zeit nachher gekommen sind, schon lange aufgehört haben, bestehn diese immer und trotz der Unternehmungen so vieler mächtigen Könige, die hundert Mal versucht haben sie zu ertilgen, wie die Geschichtschreiber bezeugen und wie es sich nach der natürlichen Ordnung der Dinge leicht denken läßt; in einer so langen Reihe von Jahren haben sie sich immer erhalten und ihre Geschichte, von den ersten Zeiten bis zu den letzten sich ausdehnend, schließt in ihrer langen Dauer alle unsre Geschichten ein.

Das Gesetz, wonach dieses Volk regiert wird, ist zugleich das älteste Gesetz der Welt, das vollkommenste und das einzige[280] welche in einem Staat ohne Unterbrechung immer gegolten hat. Das ist was der Jude Philo in verschiedenen Stellen zeigt und was Josephus vortrefflich gegen Appio ausführt, wo er darauf aufmerksam macht, wie es so alt ist, daß selbst das Wort Gesetz von den ältesten Völkern erst mehr als tausend Jahre gekannt worden ist, so daß Homer, der von so vielen Völkern spricht, sich dessen nie bedient. Man kann sich leicht von der Vollkommenheit dieses Gesetzes überzeugen durch einfaches Lesen desselben, wobei man denn sieht, wie hier alle Fälle mit so viel Weisheit, Billigkeit und Einsicht behandelt sind, daß die ältesten Griechischen und Römischen Gesetzgeber, die von dem Jüdischen Gesetz einige Runde hatten, demselben ihre hauptsächlichsten Gesetze entlehnt haben. Das sieht man aus den Gesetzen, die sie die zwölf Tafeln nennen und aus den andern Beispielen, die Josephus giebt.

Aber dieses Gesetz ist zugleich das strengste und schärfste von allen, indem es das Volk, um es in seiner Pflicht zu erhalten, zu tausend besondern und beschwerlichen Beobachtungen bei Lebensstrafe verpflichtet, so daß man sich wundern muß, daß es sich immer erhalten hat, so viele Jahrhunderte hindurch, unter einem aufrührischen unruhigen Volk dieses, während alle andern Staaten von Zeit zu Zeit ihre Gesetze verändert haben, obgleich sie viel leichter zu beobachten waren.


2.

Diese Volk ist ferner bewundernswerth wegen der Aufrichtigkeit. Sie bewahren mit Liebe und Treue das Buch, worin Moses erklärt, daß sie immer gegen Gott undankbar gewesen sind und daß er weiß, wie sie es noch mehr sein werden nach seinem Tode, aber daß er Himmel und Erde über sie zu Zeugen nimmt, wie er es ihnen genug gesagt,[281] daß endlich Gott im Zorn wider sie entbrennend, sie unter allen Völkern der Erde zerstreuen wird und daß, wie sie ihn erzürnt haben, indem sie Götter verehrten, die nicht ihre Götter waren, er sie erzürnen wird, indem er ein Volk beruft, das nicht sein Volk war. Und doch dieses Buch, das ihnen in so vieler Art die Ehre nimmt, behaupten sie mit ihrem Leben. Das ist eine Aufrichtigkeit, die kein Beispiel in der Welt noch ihre Wurzel in der Natur hat.

Uebrigens finde ich keinen Grund zu zweifeln an der Aechtheit des Buchs, welches alle die Sachen enthält. Denn es ist ein großer Unterschied zwischen einem Buch, das ein einzelner Mensch macht und unter das Volk wirft, und einem Buch, das selbst ein Volk macht. Man kann nicht zweifeln, daß das Buch nicht eben so alt sei als das Volk.

Es ist ein Buch, von Zeitgenossen verfaßt. Alle Geschichte, die nicht gleichzeitig ist, ist verdächtig wie die Bücher der Sybillen und des Trismegistus und so viele, die in der Welt Glauben gefunden haben und in der Folge der Zeit sich als falsch ausweisen. Dagegen mit dem gleichzeitigen Schriftsteller ist es ein andres.


3.

Was für ein Unterschied ist zwischen einem Buch und dem andern! Ich verwundre mich nicht, daß die Griechen die Ilias gemacht haben und die Aegypter und Chinesen ihre Geschichten. Man muß nur sehn, wie das entstanden ist.

Diese fabelnden Geschichtschreiber sind nicht Zeitgenossen der Dinge, die sie schreiben. Homer macht ein Gedicht, das er auch für ein Gedicht giebt; denn niemand zweifelt, daß Troja und Agamemnon eben so wenig gewesen sind als der goldne Apfel. Er wollte auch nicht eine Geschichte daraus machen, sondern nur eine Unterhaltung. Sein Buch ist das einzige, was zu seiner Zeit war, die Schönheit des Werks[282] macht die Sache fortdauern, alle Welt lernt es und spricht davon, man muß es wissen, jedermann weiß es auswendig. Vier hundert Jahre nachher sind die Augenzeugen der Begebenheit nicht mehr am Leben, niemand weiß mehr aus eignem Erlebniß, ob das eine Fabel ist oder eine Geschichte, man hat sie allein von seinen Vorfahren gelernt, es kann für wahr gelten.

Quelle:
Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Berlin 1840, S. 277-283.
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