Zweites Buch.
Ueber die Tugenden

[12] 1. Da das Böse hienieden ist und um diesen Ort wandelt mit Nothwendigkeit, die Seele aber das Böse fliehen will, so fliehe man von hier. Welches ist nun die Flucht? Gott ähnlich werden, sagt Plato. Dies geschieht, wenn wir gerecht und heilig mit Einsicht werden und überhaupt tugendhaft. Wenn wir nun durch Tugend ähnlich werden, werden wir es dem, der Tugend hat? Und ferner, welchem Gott? Etwa dem, der dies in höherem Grade zu haben scheint, und so denn der Weltseele und dem Lenker in ihr, ihm dem wunderbare Einsicht zukommt? Denn es ist ganz in der Ordnung, dass wir, die wir hier unten sind, diesem ähnlich werden. Indessen ist es erstlich zweifelhaft, ob auch diesem alle Tugenden zu Gebote[12] stehen, z.B. ob er besonnen oder tapfer sei, er dem weder etwas furchtbar ist (denn nichts ist ausserhalb) noch etwas Angenehmes sich naht, nach dem als einem Mangel Begierde entstehen könnte, um es zu haben oder zu erlangen. Strebt aber auch er nach dem Intelligiblen, wonach unsere Seelen streben, so ist klar, dass auch für uns von dorther die Ordnung und die Tugenden kommen. Also hat nun wohl jener diese? Doch will es nicht recht einleuchten, dass er die sogenannten bürgerlichen Tugenden habe: Einsicht auf dem Gebiete des Denkvermögens, Tapferkeit auf dem des Zornvermögens, Besonnenheit in einer gewissen Gleichmässigkeit und Uebereinstimmung des Begehrungs- und Denkvermögens, Gerechtigkeit als die eigenthümliche Thätigkeit eines jeden von diesen zusammen in Bezug auf herrschen und beherrscht werden. Werden wir nun etwa nicht in den bürgerlichen Tugenden ähnlich, sondern in jenen grössern, die denselben Namen tragen? Und wenn in andern, in den bürgerlichen ganz und gar nicht? Nein es ist ungereimt, dass man in diesen ganz und gar nicht ähnlich werde – wenigstens nennt der gewöhnliche Sprachgebrauch diese Leute selbst göttlich, und man muss sagen, dass sie gewissermassen ähnlich geworden – wohl aber in den grössern die eigentliche Verähnlichung geschehe. Allein in beiden Fällen ergiebt sich ja, dass man Tugenden habe, wenn auch nicht gerade solche. Wenn nun jemand einräumt, dass man ihm ähnlich werden könne, so hindert nichts, dass wir in einem andern Zustande, wenn wir uns in Bezug auf andere und nicht die bürgerlichen Tugenden verähnlicht haben, durch unsere eigenen Tugenden ähnlich werden dem der keine Tugend besitzt. Und wie? So: selbst nicht, wenn etwas durch Vorhandensein von Wärme erwärmt wird, braucht nothwendig das, woher die Wärme gekommen, erwärmt zu werden: ebensowenig, wenn etwas durch Vorhandensein von Feuer warm ist, das Feuer selbst durch Vorhandensein von Feuer. Indessen könnte jemand gegen ersteres einwenden, dass auch im Feuer Wärme sei, aber eine mit dessen Natur verwachsene, so dass, nach der Analogie zu schliessen, die Tugend für die Seele etwas Hinzugekommenes sei, für jenes dagegen, woher sie sie nachahmend erhält, etwas mit seiner Natur Verwachsenes; gegen den vom Feuer entlehnten Beweis aber, dass jener Tugend sei, während wir behaupten, dass er grösser sei als die Tugend. Allein wenn das, dessen die Seele theilhaftig wird, identisch wäre mit dem, von dem sie es erhält, müsste man sich so ausdrücken; nun aber ist jenes ein anderes und dieses ein anderes. Es ist ja auch das sinnlich[13] wahrnehmbare Haus nicht identisch mit dem in der Idee, und doch ist es ihm ähnlich; ja selbst der Ordnung und Regelmässigkeit wird das sinnlich wahrnehmbare Haus theilhaftig und dort im Begriffe ist nicht Ordnung noch Regelmässigkeit noch Ebenmass. Ebenso in unserm Falle: wenn wir der Regelmässigkeit, Ordnung und Uebereinstimmung dorther theilhaftig werden und diese Dinge der Tugend hier unten zugehören, während jene nicht der Uebereinstimmung noch Regelmässigkeit noch Ordnung bedürfen, so haben sie auch die Tugend nicht nöthig und wir sind nichtsdestoweniger dem Dortigen durch das Vorhandensein der Tugend ähnlich geworden. – Dies um darzuthun, dass nicht nothwendig auch dort Tugend zu sein brauche. Doch müssen wir der Darlegung auch noch Ueberredung verleihen und nicht bloss bei der zwingenden Kraft des Beweises stehen bleiben.

2. Zuerst also sind die Tugenden vorzunehmen, in denen wir behaupten ähnlich zu werden, um als identisch zu befinden was bei uns Tugend ist als eine Nachahmung, dort hingegen gleichsam als Urbild nicht Tugend ist, nachdem wir nur noch bemerkt, dass das Aehnlichwerden ein zwiefaches ist. Das eine nämlich fordert in dem Aehnlichen ein und dasselbe, was gleicherweise nach einem und demselben ähnlich gemacht ist; wo aber das eine einem andern ähnlich geworden, das andere aber das erste ist, welches zu jenem in keinem Wechselverhältniss steht und ihm nicht ähnlich genannt wird, da muss man das Aehnlichwerden auf andere Weise nehmen, indem man nicht dieselbe Art verlangt sondern vielmehr eine andere, eben weil sie nach jener andern Weise ähnlich geworden sind. – Was ist nun eigentlich die Tugend, die ganze sowohl als jede einzelne? Deutlicher wird die Untersuchung werden, wenn wir von der einzelnen ausgehen. Denn so wird auch leicht klar werden, was das Gemeinsame ist, demgemäss sie alle Tugenden sind. Die bürgerlichen Tugenden nun, von denen wir oben irgendwo gesprochen, schmücken in der That und machen uns besser, indem sie die Begierden, überhaupt die Leidenschaften begrenzen und massigen und die falschen Meinungen beseitigen durch das schlechthin Bessere und das Begrenztsein und dadurch dass das Gemessene und Maassvolle sich ausserhalb des Maasslosen und Unbegrenzten befindet; und selbst begrenzt, wenigstens in soweit sie in der Materie für die Seele Maasse sind, sind sie ähnlich dem Maasse dort und haben eine Spur des Besten dort. Denn das ganz Maasslose ist, als Materie, ganz unähnlich;[14] in dem Maasse dagegen als es Form bekommt wird es jenem ähnlich, das formlos ist. In höherem Grade aber wird das Näherstehende derselben theilhaftig; die Seele aber steht ihm näher als der Körper und ist insofern verwandter, wird also ihrer mehr theilhaftig. Daher giebt sie zu Täuschungen Veranlassung, indem sie als Gott vorgestellt wird, als ob dieses All Eigenschaften Gottes wären. So also steht es mit der Verähnlichung dieser.

3. Allein da er eine andere Verähnlichung andeutet, ein Werk jener höheren Tugend, so müssen wir von jener sprechen. Dabei wird es auch noch weit deutlicher werden, welches das Wesen der bürgerlichen Tugend und welche die dem Wesen nach höhere ist, und überhaupt dass es ausser der bürgerlichen noch eine andere giebt. Wenn also Plato sagt, dass das Gottähnlichwerden in einer Flucht von dem Irdischen bestehe und wenn er den Tugenden im Staate nicht ohne weiteres dieses Prädicat giebt, sondern hinzusetzt ›die bürgerlichen‹, wenn er anderswo alle ohne Ausnahme Reinigungen nennt, so ist klar, dass er zweierlei Tugenden annimmt und das Aehnlichwerden nicht in die bürgerliche setzt. Wie kommen wir nun dazu, diese ›Reinigungen‹ zu nennen, und wie werden wir gerade durch unser Gereinigtsein am meisten ähnlich? Nun, weil die Seele böse ist, wenn sie mit dem Körper vermengt und gleichen Affectionen unterworfen ist und überall seinem Wähnen sich anschliesst, so würde sie gut sein und Tugend haben, wenn sie weder seinen Irrwahn theilte sondern allein wirkte – das heisst denken und verständig sein, noch gleichen Affectionen unterworfen wäre – das heisst besonnen sein, noch sich vor der Trennung vom Körper fürchtete – das heisst tapfer sein, sondern Verstand und Vernunft in ihr herrschten und das andere nicht widerstrebte – das wäre Gerechtigkeit. Wenn also jemand einen solchen Zustand der Seele, in dem sie geistige Thätigkeit übt und solchergestalt frei ist von Affectionen, Aehnlichwerden mit Gott nennte, so dürfte er das Rechte treffen; denn rein ist auch das Göttliche und seine Wirksamkeit von der Art, dass das Nachahmende verständige Einsicht erhält. Wie nun? Ist nicht auch jenes so beschaffen? Es ist überhaupt garnicht beschaffen, sondern die Beschaffenheit gehört der Seele an. Auch denkt die Seele auf eine andere Weise; von den Wesen dort hingegen das eine auf eine verschiedene Weise, das andere überhaupt nicht. Ist nun wiederum das ›Denken‹ homonym? Keineswegs; sondern[15] das eine denkt auf ursprüngliche, das von ihm Abgeleitete auf andere Weise. Denn wie der ausgesprochene Begriff ein Nachbild des in der Seele befindlichen ist, so auch der in der Seele ein Nachbild des in einem andern befindlichen. Wie nun der im discursiven Denken herausgesetzte Begriff zu dem in der Seele sich verhält, so auch der in der Seele, als Dolmetscher jenes, zu dem höheren vor ihm. Die Tugend also ist Sache der Seele; dem Geist kommt sie nicht zu, auch nicht dem jenseits Liegenden.

4. Es fragt sich aber, ob die Reinigung identisch ist mit solcher Tugend, oder ob die Reinigung vorangeht, die Tugend dagegen nachfolgt; desgleichen ob die Tugend in dem Reinwerden oder in dem Reinsein besteht. Zum mindesten ist die in dem Gereinigtwerden weniger vollendet als die im Gereinigtsein, denn das Reinsein ist gleichsam schon das Ende. Allein das Reinsein ist eine Entfernung alles Fremdartigen, das Gute aber ist etwas anderes als dieses. Nun wird, wenn vor der Reinigung das Gute schon da war, die Reinigung genügen, aber das Zurückbleibende wird das Gute sein, nicht die Reinigung. Und was ist das Zurückbleibende? Das ist die Frage. Denn vielleicht war die zurückbleibende Natur garnicht einmal das Gute: sonst wäre sie nicht in das Böse gerathen. Sollen wir sie nun etwa gutartig nennen? Nicht hinreichend nämlich befähigt im wesentlich Guten zu verharren; denn von Natur eignet sie sich für beides. Das Gute an ihr also besteht in dem Zusammensein mit dem ihr Verwandten, das Böse hingegen im Zusammensein mit dem Gegentheil. Sie muss also durch eine Reinigung jenes Zusammensein bewerkstelligen; sie wird mit ihm Zusammensein, sobald sie sich hingewendet hat. Erfolgt nun etwa diese Hinwendung nach der Reinigung? Nein, nach der Reinigung ist diese erfolgt. Das also ist ihre Tugend? Vielmehr das, was ihr aus der Hinwendung entspringt. Was ist nun dieses? Anschauung und Abdruck des Gesehenen, in sie gelegt und wirkend, wie die Sehkraft am Gegenstande des Sehens. Also hatte sie diese Dinge nicht und erinnerte sich auch nicht? Allerdings hatte sie sie, aber als nicht wirksame sondern unbeleuchtet daliegende. Um aber erleuchtet zu werden und dann das in ihr Vorhandene zu erkennen, muss sie sich dem Erleuchtenden nähern. Nun halte sie nicht die Dinge selbst sondern Abdrücke. Sie muss also den Abdruck an die Originale, von denen ja auch die Abdrücke genommen sind, anzupassen suchen. Vielleicht heisst[16] es auch deshalb, dass sie sie habe, weil der Geist ihr nicht fremd ist und ganz besonders nicht fremd ist, wenn sie auf ihn blickt; wo nicht, ist er ihr trotz seiner Anwesenheit fremd. Sind uns ja doch selbst die Wissenschaften fremd, wenn wir überhaupt garnicht unsere Wirksamkeit durch sie bethätigen.

5. Allein bis wieweit die Reinigung sich erstreckt, muss gesagt werden; denn so wird auch deutlich werden, welchem Gott wir ähnlich und identisch werden sollen. Das heisst aber besonders untersuchen, wie sie Zorn und Begierde und alles Uebrige, Trauer und das damit Verwandte reinigt, und wie weit die Trennung vom Körper möglich ist. Vielleicht indem sie vom Körper sich ab- und gleichsam räumlich in sich zurückzieht, jedenfalls sich von Affectionen frei hält und nur die nothwendigen Lustempfindungen sich gestaltet als Heilmittel und zur Erholung von Anstrengung, um nicht belästigt zu werden; indem sie die Schmerzen entfernt und, wenn das nicht möglich, geduldig erträgt und ihre Wirkung abschwächt dadurch dass sie nicht mitleidet; indem sie den Zorn aber soweit möglich gänzlich beseitigt, wo nicht, wenigstens nicht selbst mitzürnt, sondern die unwillkürliche Regung muss einem andern überlassen bleiben, und auch diese darf nur gering und schwach sein; indem sie ferner die Furcht durchaus entfernt (denn sie wird für nichts zu fürchten haben; die unwillkürliche Regung freilich auch hier) ausser etwa bei Verwarnungen. Was die Begierde angeht, so ist klar, dass sie auf nichts Schlechtes gerichtet sein wird; die nach Speise und Trank zur Erholung wird nicht sie haben; ebensowenig nach sinnlichem Liebesgenuss, und wenn ja, nur so weil, denk' ich, als es der natürliche Trieb erheischt, mit Ausschluss alles Unüberlegten; und wenn ja, dann höchstens bis zur Vorstellung, die ihrerseits auch nur eine flüchtige sein darf. Ueberhaupt aber wird sie selbst von alle dem rein sein und auch den vernunftlosen Theil wird sie seinerseits rein machen wollen, so dass er nicht einmal Eindrücke zu erleiden hat; wenn aber ja, wenigstens keine heftigen, sondern so, dass der Eindrücke auf ihn wenige seien und gleich durch die Nachbarschaft paralysirt werden; wie wenn jemand, einem Weisen benachbart, von der Nachbarschaft des Weisen Nutzen zieht, indem er ihm entweder ähnlich wird oder sich vor ihm scheut, so dass er nichts von dem zu thun wagt, was der Weise nicht will. Es wird also kein Streit entstellen, denn die blosse Anwesenheit der Vernunft reicht hin; vor ihr wird[17] der schlechtere Theil sich scheuen, so dass er gleichfalls unwillig wird, wenn er sich überhaupt einmal etwas gerührt hat, dass er nicht Ruhe gehalten in Gegenwart seines Herrn, und sich selbst seine Schwäche vorwirft.

6. Nun ist zwar nichts der Art Sünde, sondern ein wirklicher Erfolg, eine Erhebung für den Menschen; aber das Streben geht nicht dahin ohne Sünde zu sein, sondern Gott zu sein. Geschieht nun etwas dergleichen ohne Vorsatz, so würde ein solcher Gott und Dämon, ein Doppelwesen, sein, oder vielmehr er hätte bei sich noch einen andern, der eine andere Tugend hätte; geschieht nichts unüberlegt, nur Gott, und zwar ein Gott aus dem Gefolge des ersten. Denn er selbst ist derselbe als welcher er von dort kam und sein eigentliches Wesen, falls er so wird wie er kam, ist dort. Dem Geiste aber gesellte er sich bei seiner Herkunft und diesen wird er sich zu verähnlichen suchen soweit er es vermag, so dass er womöglich völlig frei von Eindrücken werde oder wenigstens nichts von dem thue, was dem Herrn und Gebieter missliebig ist. Was ist nun jede einzelne Tugend für einen solchen? Weisheit und Einsicht im Schauen dessen was der Geist hat, der Geist aber hats durch unmittelbare Berührung, jede von beiden ist aber zwiefach, die eine im Geist, die andere in der Seele. Und dort ist sie nicht Tugend, in der Seele dagegen Tugend. Was denn also dort? Wirklichkeit seiner selbst und sein eigenstes Wesen; hier aber ist das, was in einen andern von dorther kommt, Tugend. Auch die Gerechtigkeit an sich und jede einzelne ist ja nicht Tugend, sondern gleichsam ein Vorbild; das dagegen, was von ihr kommt und in der Seele wohnt, ist Tugend. Denn die Tugend ist von etwas abhängig; jedes Ding aber an und für sich ist nur von sich, durchaus von keinem andern abhängig. Die Gerechtigkeit aber, wenn sie wirklich die Erfüllung der eigenen Obliegenheiten ist, findet sie sich da nicht stets bei einer Vielheit von Theilen? Die eine allerdings bei einer Vielheit, wenn der Theile viele sind, die andere ist schlechterdings Erfüllung eigener Obliegenheiten, selbst wenn sie die eines Einzigen ist. Wenigstens ist die wahre Gerechtigkeit an sich nur die eines Einzigen gegen sich selbst, in welchem nicht das eine so, das andere so ist. Folglich besteht auch für die Seele die höhere Gerechtigkeit in der auf den Geist gerichteten Wirksamkeit, das Besonnensein in der Richtung nach innen zum Geist, die Tapferkeit in der Affectionslosigkeit gemäss der Verähnlichung mit dem worauf es[18] schaut, das affectionslos ist seiner Natur nach; sie aber ist es aus der Tugend, um nicht mit dem schlechteren Hausgenossen zugleich afficirt zu werden.

7. Es folgen sich also auch diese Tugenden in der Seele in derselben Reihenfolge, wie dort das vor und über der Tugend Liegende, nämlich die Tugenden im Geiste als Vorbilder. Denn das Denken ist ja dort Wissenschaft und Weisheit, das Zusichgekehrtsein die Besonnenheit, die eigenthümliche Thätigkeit die Erfüllung der eigenen Obliegenheiten, das der Tapferkeit Analoge die Identität und das rein bei sich selbst Bleiben. In der Seele also ist das Blicken auf den Geist Weisheit und Einsicht, ihre Tugenden; denn nicht sie selbst ist dies, wie dort. Auch das andere folgt ebenso auf einander; und auch durch Reinigung, wenn anders alle Reinigungen sind in Hinsicht auf das Gereinigtsein, müssen alle sein, oder es wird garkeine vollkommen sein. Und wer die grösseren hat, der hat auch nothwendigerweise die geringeren der Möglichkeit nach, wer aber die geringeren, nicht nothwendig jene. Das Leben nun des Tugendhaften ist vornehmlich dies; ob er aber auch die niederen oder nur die höheren in Wirklichkeit oder auf andere Weise hat, ist bei jeder einzelnen zu untersuchen. Z.B. bei der Einsicht. Wird er nämlich andere Principien in Anwendung bringen, wie bleibt sie dann noch jene, zumal wenn sie nicht in Wirksamkeit gesetzt wird? wenn die eine von Natur diesen bestimmten Inhalt erhalten, die andere diesen? wenn jene Besonnenheit mässigt, diese gänzlich vertilgt? Ebenso geht es aber bei den andern, wenn die verständige Einsicht überhaupt einmal in Bewegung gesetzt ist. Doch kennen wenigstens wird er sie und wissen, wieviel er von ihnen zu entnehmen hat; vielleicht wird er auch einmal unter Umständen nach ihnen wirksam sein. Sobald er aber zu höheren Principien und andern Massstäben gelangt ist, wird er nach jenen handeln; er wird z.B. die Besonnenheit nicht in jenes Maass setzen, sondern sich überhaupt soviel als möglich absondern und überhaupt nicht das Leben des guten Menschen leben, welches die bürgerliche Tugend erheischt, sondern dieses verlassen und ein anderes wählen, das der Götter; denn diesen, nicht guten Menschen sollen wir ähnlich werden. Die Verähnlichung mit diesen ist von der Art, wie eine Copie einer Copie ähnlich gemacht ist, beide nach demselben Original; erstere dagegen einem andern, dem Original und Musterbilde.[19]

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 12-20.
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