Drittes Buch.
Ueber die Dialektik

[20] 1. Welche Kunst oder Methode oder Beschäftigung führt uns dorthin empor, wohin wir reisen müssen? Wohin wir gehen müssen, nämlich zum Guten und ersten Princip, das möge als ausgemacht und des weiteren erörtert gelten. Auch das, wodurch dies gezeigt wurde, war ja eine Hinaufführung. Wer aber muss derjenige sein, der hinaufgeführt werden soll? Doch wohl mit Plato derjenige, welcher alles oder das meiste geschaut hat, der bei dem erstmaligen Werden einging in den Erzeugungskeim des zukünftigen Philosophen oder Musikers oder Liebhabers. Wer also seiner Natur nach ein Philosoph und ein Musiker und ein Liebhaber ist, der soll emporgeführt werden. Welches ist nun die Art und Weise? Etwa ein und dieselbe für diese alle, oder für jeden einzelnen eine besondere? Es giebt nun einen zwiefachen Weg für alle, welche hinaufsteigen oder hinaufgestiegen sind; der erstere geht von dem Unteren aus, der zweite ist für diejenigen, welche wenn sie bereits im Intelligiblen angelangt sind und daselbst gleichsam festen Fuss gefasst haben, nun dorthin reisen müssen, bis sie zum äussersten Ende des Orts gelangen, welches eben das Ziel der Reise ausmacht, sobald einer auf der Höhe des Intelligiblen angekommen ist. Doch lassen wir diesen letztern Weg vorläufig auf sich beruhen und versuchen wir zuvor über die Hinaufführung zu sprechen. Zuerst müssen wir diese Männer sondern, indem wir bei dem Musiker anfangen und seine natürliche Beschaffenheit angeben. Man muss nun wohl annehmen, dass er leicht erregbar und von leidenschaftlicher Liebe zum Schönen ergriffen, aber nicht recht im Stande sei sich durch sich selbst zu bewegen, sondern bereit in Folge der ihn treffenden äussern Eindrücke; wie die Furchtsamen bei einem Geräusch, so sei auch dieser bereit bei den Tönen und dem ihnen innewohnenden Schönen, indem er stets das Unharmonische und Dissonirende im Gesänge flieht, dagegen das Rhythmische und Wohlgefällige aufsucht. Nach diesen sinnlich wahrnehmbaren Tönen also und Rhythmen und Figuren muss man ihn führen. Indem man die Materie von dem absondert, woran die Analogien und Begriffe haften, muss man ihn zu der an ihnen erscheinenden Schönheit führen und ihn lehren, dass der Gegenstand seiner leidenschaftlichen Liebe jenes war: die intelligible Harmonie und das in dieser erscheinende Schöne und überhaupt das Schöne, nicht bloss das Schöne[20] in einer bestimmten Gestaltung, und muss ihm die Lehren der Philosophie beibringen. Von diesen aus muss man ihn zum Glauben an das führen, was ihm unbekannt ist, trotzdem er es besitzt. Welches die betreffenden Lehren sind, davon später.

2. Der Liebende, in dessen Zustand auch der Musiker übergehen kann, um nach diesem Uebergange darin zu verharren oder daran vorbeizugehen, erinnert sich wohl bis zu einem gewissen Grade der Schönheit, aber getrennt von ihr kann er sie nicht erkennen, sondern getroffen von dem sichtbaren Schönen geräth er über dasselbe in Entzücken. Man muss ihn nun lehren, nicht an einem Gegenstand ausschliesslich in seinem Entzücken haften zu bleiben, sondern durch den Begriff an alle Gegenstände führen, indem man ihm in allen das Identische zeigt, und ihm sagen, dass es von den Gegenständen verschieden ist, dass es anderswoher kommt und an andern sich in höherem Maasse findet, indem man ihm z.B. schöne Lebensweisen und schöne Gesetze zeigt – denn bei dem Unkörperlichen gewöhnt man sich an das rein Liebenswürdige – ferner dass es in den Künsten, Wissenschaften und Tugenden sich findet. Dann muss man es zu einer Einheit zusammenfassen und lehren, auf welche Weise es mitgetheilt wird. Von den Tugenden aber muss man dann weiter aufsteigen zum Geist, zum Seienden, und von da den hohem Weg betreten.

3. Der Philosoph ist seiner Natur nach bereit und gleichsam beflügelt und bedarf nicht der Trennung wie jene anderen, da er zu dem Hohem emporstrebt; er ist höchstens um einen Führer in Verlegenheit. Man muss ihm also den Weg zeigen und ihn [aus der Ungewissheit] lösen, da er es ja seiner Natur nach selbst will und schon längst gelöst ist. So muss man ihm denn die Mathematik geben, damit er sich an das Denken und den Glauben an das Unkörperliche gewöhne – er wird sie auch, da er lernbegierig ist, leicht aufnehmen – und da er von Natur tugendhaft ist, so muss man ihn bis zur Vollendung der Tugenden führen und nach der Mathematik ihm die Lehren der Dialektik mittheilen, ihn überhaupt zum Dialektiker machen.

4. Was ist nun die Dialektik, die man auch zu dem Früheren hinzufügen muss? Es ist das Vermögen und die Fertigkeit begrifflich über jedes Einzelne zu sprechen: was das Einzelne ist, worin es sich von anderen unterscheidet und welches das Gemeinsame ist. Dazu gehört auch, wo jedes Einzelne ist, ob es eine Wesenheit ist, wievielerlei Seiendes und umgekehrt[21] Nichtseiendes, von dem Seienden verschiedenes es giebt. Sie spricht auch vom Guten und Nichtguten und was zum Gegentheil gehört, ferner was das Ewige und Nichtewige ist, natürlich über alles nach wissenschaftlicher Erkenntniss, nicht nach blosser Meinung. Nachdem sie dem Umherschweifen im Sinnlichen Einhalt gethan, führt sie mitten in das Intelligible hinein und treibt hier ihr Geschäft, indem sie die Lüge beseitigt, die Seele in dem sogenannten Gefilde der Wahrheit weidet, indem sie sich der platonischen Eintheilung bedient zur Unterscheidung der Ideen, zur Bestimmung des an sich Seienden, der ersten Arten, und das von diesem Abgeleitete vernunftgemäss verbindet, bis sie den Kreis des Intelligiblen durchlaufen, und dann wieder auf analytischem Wege zum Ausgangspunkte zurückkommt. Dann verhält sie sich ruhig, wenigstens soweit es das dortige angeht ruhig, und ohne sich in ihrer Concentration weiter zu zerstreuen betrachtet sie die logische Lehre von den Prämissen und Schlüssen, indem sie dieselbe gleichsam wie die Fertigkeit des Schreibens einer andern Kunst überweist. Einiges davon freilich hält sie für nothwendig und für eine Vorstufe der Kunst, sie sichtet es aber wie auch alles andere, hält einiges davon für nützlich, anderes für überflüssig und der sich damit befassenden Methode zugehörig.

5. Aber woher schöpft diese Wissenschaft ihre Principien? Die Vernunft giebt klare und deutliche Principien, wenn eine Seele sie nur zu fassen vermöchte; dann setzt und fasst sie im weitem Verlaufe zusammen, bis sie zur vollendeten Vernunft gelangt ist. ›Denn diese ist‹, sagt er, ›das Reinste der Vernunft und des Denkens.‹ Sie muss nun als die werthvollste unserer Fähigkeiten auch hinsichtlich des Seienden das Werthvollste sein. Denken hinsichtlich des Seienden, Vernunft hinsichtlich des jenseits des Seins Liegenden. Was ist nun die Philosophie? Das Werthvollste. Ist Philosophie und Dialektik dasselbe? Nein, sie ist der eigentlich werthvolle Theil der Philosophie; denn man darf nicht glauben, dass sie nur ein Werkzeug der Philosophie sei; denn es sind nicht leere Theoreme und Regeln, sondern sie befasst sich mit den Dingen und hat gleichsam als Material das Seiende; methodisch freilich gelangt sie dahin, sie die mit den Theoremen zugleich auch die Dinge hat; die Lüge und den Trugschluss kennt sie zufällig, wenn ein anderer sie zur Anwendung bringt, indem sie die Lüge dem in ihr befindlichen Wesen als fremd ansieht und, falls jemand sie an sie heranbringt, erkennt, dass sie gegen den Kanon des Wahren verstösst. Die Prämisse ist kein[22] Gegenstand ihres Wissens – denn es sind Buchstaben – da sie aber das Wahre kennt, so weiss sie was man Prämisse nennt; und überhaupt kennt sie die Bewegungen der Seele, was diese behauptet [in den Prämissen] und was sie erweist [im Schlusssatz], und ob sie das erweist was sie behauptet oder ein anderes, und ob dies etwas anderes ist oder dasselbe als was ihr zugebracht wird, indem sie nach Art der sinnlichen Wahrnehmung herantritt; das genauere Reden aber überlässt sie einer andern Wissenschaft, die es liebt.

6. Sie ist also der eigentlich werthvolle Theil – denn die Philosophie hat auch noch andere Theile; denn auch über die Natur stellt sie Betrachtungen an, mit Hülfe der Dialektik, wie etwa die Arithmetik eine Hülfswissenschaft ist für die andern Künste; jedoch wird diese Hülfe vonseiten der Dialektik mehr aus der Nähe geholt. Desgleichen stellt sie von da aus auch Betrachtungen über die Sitten an, indem sie die Fähigkeiten hinzuthut und die Uebungen, aus denen die Fähigkeiten hervorgehen. Es haben aber die intellectuellen Fähigkeiten das von dorther Ueberkommene bereits als ihr Eigenthum; denn das meiste ist mit Materie verbunden; und die übrigen Tugenden haben die Ueberlegungen bei den einzelnen Affecten und Handlungen, die Einsicht aber ist eine Ueberlegung im grossen und mehr ein Allgemeines, ob sie sich gegenseitig entsprechen, ob man jetzt innehalten solle oder ein andermal, oder ob überhaupt etwas anderes besser sei; die Dialektik aber und die Weisheit führen dazu in allgemeiner und immaterieller Weise alles zum Bedarf der Einsicht herbei. Ist aber auch das Niedere möglich ohne Dialektik und Weisheit? Nur unvollkommen und mangelhaft. Kann man aber ohne dieses ein Weiser und Dialektiker sein? Schwerlich, sondern entweder geht es voraus oder es wird zugleich mit vermehrt. Und vielleicht hat jemand natürliche Tugenden, aus denen nach Hinzutritt der Weisheit vollkommene hervorgehen. Nach den natürlichen also kommt die Weisheit, dann vollendet sie die Sitten. Oder wenn die natürlichen vorhanden sind, vermehren und vollenden sich beide zugleich mit, oder voraufgehend vollendet die eine die andere. Denn überhaupt hat die natürliche Tugend ein unvollkommenes Auge und eine unvollkommene Sittlichkeit, und die Principien, von denen her wir sie haben, sind für beide das meiste.[23]

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 20-24.
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