Viertes Buch.
Ueber die Glückseligkeit

[24] 1. Werden wir ›wohl leben‹ und ›glücklich sein‹ für dasselbe erklären und auch den andern lebenden Wesen daran Antheil gewähren? Denn wenn es ihnen vergönnt ist ihrer Natur gemäss unbehindert zu leben, was hindert uns zu sagen, dass auch jene im Zustande des Wohllebens sich befinden? Denn mag einer das Wohlleben in das sinnliche Behagen setzen oder in die Vollendung einer eigenthümlichen Thätigkeit, in beiden Fällen wird es auch für die lebenden Wesen vorhanden sein. Denn das sinnliche Behagen wie das Ausüben einer naturgemässen Thätigkeit dürfte für sie doch möglich sein. So geniessen z.B. die musikalischen unter den Thieren vorzüglich dann ein sinnliches Behagen, wenn sie singen wie es ihnen von Natur verliehen, und in dieser Hinsicht führen sie ein für sie begehrenswerthes Leben. Jedoch auch wenn wir das Glücklichsein als ein Ziel setzen, welches das letzte des natürlichen Begehrens ist, so können wir selbst dann ihnen das Glücklichsein zuertheilen, wenn sie zu dem Letzten gekommen sind und nun die Natur in ihnen stille steht, nachdem sie ihr eigenes Leben ganz durchlaufen und von Anfang bis Ende erfüllt hat. Wenn aber jemand darüber unwillig ist, dass wir den Genuss der Glückseligkeit auch auf die andern lebenden Wesen übertragen – denn auf diese Weise müssten wir es auch den unansehnlichsten unter ihnen zugestehen, selbst den Pflanzen, die doch auch leben und ein bis zu einem Ziel sich entwickelndes Leben haben – sollte ein solcher nicht ungereimt erscheinen, wenn er den andern Geschöpfen das Wohlleben deshalb abspricht, weil sie ihm nicht viel werth zu sein scheinen? Den Pflanzen aber ist er nicht genöthigt einzuräumen was er den andern Geschöpfen allen einräumt, weil sie keine Empfindung besitzen. Doch könnte man es vielleicht auch den Pflanzen zuschreiben, wenn überhaupt das Leben; denn dies muss entweder Wohlleben sein oder das Gegentheil, wie denn auch bei den Pflanzen eine angenehme Empfindung stattfindet oder nicht, ein Fruchttragen oder nicht tragen. Wenn nun aber Lust das Ziel ist und hierin das Wohlleben besteht, so ist es ungereimt den andern Geschöpfen das Wohlleben abzusprechen; desgleichen wenn es Leidenschaftslosigkeit wäre,[24] oder wenn man sagen wollte, wohl leben heisse ›der Natur gemäss leben‹.

2. Diejenigen indessen, die es den Pflanzen nicht zugestehen, weil sie keine Empfindung haben, können es am Ende auch nicht mehr allen Thieren zugestehen. Denn wenn sie unter ›Empfindung-haben‹ verstehen, dass die Affection ins Bewusstsein tritt, so muss die Affection selbst gut sein bevor sie ins Bewusstsein tritt, wie z.B. auch der naturgemässe Zustand vorhanden ist, selbst wenn er unbewusst bleibt und ebenso das dem betreffenden Wesen Eigenthümliche, auch wenn dieses nicht erkennt, dass es eigenthümlich ist; daher befindet sich, wenn dies oder jenes gut und vorhanden ist, dasjenige welches es hat bereits wohl. Wozu also braucht man noch die Empfindung hinzuzunehmen? Sie müssten denn nicht in die eintretende Affection oder den Zustand das Gute setzen, sondern in die Erkenntniss oder die Empfindung. Aber so werden sie ja die Empfindung selbst das Gute nennen und die Bethätigung des Empfindungs-Lebens, so dass es für die Wesen vorhanden ist, gleichviel was sie wahrnehmen. Bezeichnen sie aber das Gute als aus beiden bestehend, etwa als die Empfindung von dem und dem, wie nennen sie, da jedes von beiden indifferent ist, das aus beiden Bestehende gut? Wenn sie aber die Affection gut nennen und den besondern Zustand, in dem jemand das Gute als sein Besitzthum erkennt, glücklich leben, so muss man sie fragen, ob jemand in der Erkenntniss des vorhandenen Besitzes glücklich lebt, oder ob er erkennen muss, nicht bloss dass es angenehm sondern dass dies das Gute ist. Aber wenn er erkennt, dass dies das Gute ist, so ist dies bereits nicht mehr das Werk der Empfindung sondern einer anderen höheren Kraft als die Empfindung. Nicht also diejenigen, welche Lust empfinden, werden glücklich leben, sondern derjenige, der zu erkennen vermag, dass das Gute Lust ist. So wird denn die Ursache des glücklichen Lebens nicht die Lust sein sondern das Urtheilsvermögen, dass die Lust etwas Gutes sei. Und das Urtheilende ist etwas Höheres als das Gewahrwerden nach Affection: denn es ist Begriff oder Geist; die Lust aber ist Affection; nirgends aber steht das Begrifflose höher als der Begriff. Wie wird nun der Begriff sich selbst aufgebend etwas anderes in der entgegengesetzten Art Liegendes für besser ansehen als sich selbst? So scheinen denn diejenigen, welche den Pflanzen die Empfindung absprechen und der besondern Empfindung das ›glücklich‹ beilegen, garnicht zu wissen, dass sie[25] etwas Höheres in dem ›glücklich leben‹ suchen und in ein deutlicheres, bewusstes Leben das Bessere setzen. Und diejenigen, die es in ein vernünftiges Leben setzen, nicht in das Leben schlechthin, selbst nicht wenn es Empfindungs-Leben wäre, dürften vielleicht das Richtige sagen. Warum sie es aber so definiren und den vernunftbegabten Wesen allein das Glücklichsein beilegen, darnach ziemt es sie zu fragen: ›Nehmt ihr etwa das Vernünftige hinzu, weil die Vernunft gewandter ist und leicht die ersten natürlichen Bedürfnisse aufspüren und sich verschaffen kann, oder auch dann wenn es nicht im Stande wäre sie aufzuspüren und zu erlangen? Wenn deshalb weil sie mehr im Stande ist sie aufzufinden, dann wird auch den Wesen, die keine Vernunft haben, wenn sie ohne Vernunft von Natur die ersten natürlichen Bedürfnisse erreichen, das Glücklichsein zukommen und die Vernunft würde zur Dienerin werden und nicht um ihrer selbst willen zu erstreben sein, ebensowenig ihre Vollendung, die wir als Tugend bezeichnen. Sagt ihr aber, dass sie nicht der ersten natürlichen Bedürfnisse halber werthvoll, sondern um ihrer selbst willen erstrebenswerth sei, so müsst ihr sagen, welches sonst ihr Werk und welches ihre Natur ist und was sie vollendet macht.‹ Denn vollendet darf nicht die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr sie machen, sondern ihre Vollendung muss in etwas anderem bestehen, sie muss eine andere Natur haben, sie darf nicht zu jenen ersten natürlichen Bedürfnissen gehören noch zu den Quellen dieser Bedürfnisse und überhaupt nicht zu dieser Gattung, sondern sie muss etwas Besseres als dieses sein; oder sie werden, glaub' ich, nicht sagen können, wie ihr der hohe Werth zukomme. Doch man lasse sie, bis sie eine höhere Natur der Dinge, worauf sie sich für jetzt beschränken, gefunden haben, auf dem eingenommenen Standpunkt beharren, sie die nicht anzugeben wissen, was glücklich leben heisst und wie es denjenigen Wesen zukommt, die es erlangen können.

3. Wir aber wollen vom Anfang an sagen, was nach unserer Meinung das Glücklichsein ist. Da wir nun das ›Glücklichsein‹ in das ›Leben‹ setzten, so würden wir, wenn wir ›Leben‹ und ›Glück‹ gleichbedeutend nähmen, zugestehen, dass alle lebenden Wesen des Glücks fähig seien, dass aber in Wirklichkeit diejenigen glücklich lebten, denen jenes Ein und dasselbe zukäme, dessen alle lebenden Wesen von Natur fähig seien, und würden nicht dem Vernünftigen diese Möglichkeit beilegen, dem Unvernünftigen dagegen nicht; denn Leben würde das[26] Gemeinsame sein, was eben desselben zum Glücklichsein fähig wäre, wenn nämlich in einem gewissen Leben das Glücklichsein enthalten wäre. Daher haben, glaube ich, auch diejenigen, welche das Glücklichsein in ein vernünftiges Leben, nicht in das Leben schlechtweg setzen, nicht gewusst, dass sie das Glücklichsein auch nicht als Leben auffassen. Als Qualität nämlich mussten sie die vernünftige Kraft, durch welche die Glückseligkeit besteht, bezeichnen. Aber das Subject ist für sie ›vernünftiges Leben‹; denn in diesem Ganzen besteht die Glückseligkeit, folglich in einer andern Art von Leben. Dies verstehe ich nicht als etwa der Vernunft entgegengesetzt, sondern nach unserer Sprechweise als das Frühere, jenes aber als das Spätere. Da also der Ausdruck ›Leben‹ vielfach angewandt wird und es ja nach erster, zweiter u.s.w. Stufe verschieden ist und ›leben‹ bei gleichem Laut verschiedenes bedeutet (anderes bei der Pflanze, anderes beim Thier) und diese Bedeutungen sich durch Deutlichkeit und Undeutlichkeit unterscheiden, so ist dies in entsprechender Weise auch bei dem Ausdruck ›gut‹ der Fall. Und wenn das eine wie ein Bild des andern erscheint, so offenbar auch das ›gut‹ wie ein Bild des ›gut.‹ Wenn aber das Glücklichsein dem zukommt, dem das Leben in höherem Grade zukommt, das heisst dem es im Leben an nichts fehlt, so würde das Glücklichsein allein dem zukommen, der in hohem Grade lebt; denn diesem kommt das Beste zu, wenn anders im Seienden das Beste, das wirkliche und vollendete Leben ist; denn so wird das Gute weder etwas Zugeführtes sein noch wird etwas anderes, von anderswoher Kommendes dem Subject zum Gutsein behülflich sein. Denn was sollte wohl zum vollkommenen Leben noch hinzukommen, damit es das beste sei? Nennt jemand die Natur des Guten, so ist das zwar unsere Lehre, aber nicht die Ursache sondern das Immanente suchen wir. Dass aber das vollkommene Leben, das wahrhafte und wirkliche, in jener intelligiblen Natur liegt, sowie dass alles andere Leben unvollkommen, nur ein Schattenbild des Lebens ist, nicht vollendet, nicht rein, nicht mehr Leben als das Gegentheil, das ist oft gesagt. Auch jetzt soll in der Kürze gesagt werden, dass solange alles Lebendige aus einem Princip her rührt, das andere aber nicht in demselben Masse lebt, nothwendig das Princip das erste und vollkommenste Leben sein muss.

4. Wenn also der Mensch darnach angethan ist das vollkommene Leben zu haben, so ist auch der Mensch, der dieses[27] Leben hat, glückselig; wenn nicht, so müsste man den Göttern die Glückseligkeit beilegen, wenn sich bei ihnen allein ein derartiges Leben findet. Da wir nun aber behaupten, dass auch unter den Menschen diese Glückseligkeit sich findet, so ist zu untersuchen, wie dies geschieht. Ich sage so: dass der Mensch vollkommenes Leben hat, da er ja nicht bloss das Empfindungs-Leben sondern auch vernünftiges Denken und wahrhafte Intelligenz besitzt, ist auch anderweitig klar. Aber hat er etwa als ein anderer dies als ein anderes? Nun es giebt wohl überhaupt keinen Menschen, der dies nicht der Möglichkeit oder der Wirklichkeit nachhalle, den wir ja dann eben glückselig nennen. Aber werden wir sagen, dass diese vollendete Art des Lebens in ihm wie ein Theil von ihm sei? Doch wohl, dass die übrigen Menschen, die es der Möglichkeit nach haben, dies als einen Theil haben, derjenige aber vielmehr glückselig ist, der dies auch in Wirklichkeit ist und sich zu dem Sein desselben umgewandelt hat; dass ihn aber das andere vielmehr wie eine Hülle umgebe, was man auch wohl nicht als Theile von ihm bezeichnen darf, da es ihn ohne seinen Willen umgiebt; es würde zu ihm gehören, wenn es mit ihm nach seinem Willen verbunden wäre. Was ist nun diesem eigentlich das Gute? Doch wohl Er sich selbst durch das was er hat; das Jenseitige aber ist der Grund des in ihm vorhandenen und zwar ist es in anderer Weise gut, in anderer Weise in ihm vorhanden. Ein Beweis dafür, dass dem so ist, liegt in dem Umstand, dass der so beschaffene Mensch nichts anderes sucht. Denn was sollte er auch suchen? Von dem Schlechteren doch wohl nichts, mit dem Besten aber ist er vereint. Selbst genug ist sich also das Leben dessen, der so Leben hat. Und wenn er tugendhaft ist, so ist er sich selbst genug zur Glückseligkeit und zum Besitz des Guten; denn es giebt kein Gutes, das er nicht habe. Vielmehr was er sucht, sucht er als nothwendig und nicht für sich, sondern für etwas von dem Seinigen, nämlich für den mit ihm verbundenen Leib, und wenn auch für einen lebendigen Leib, doch für einen Leib, der sein eigenes Leben hat, nicht das des also beschaffenen Menschen. Und er weiss dies und giebt was er giebt, ohne von seinem Leben etwas wegzunehmen. Demnach wird er auch bei widrigen Geschicken in seiner Glückseligkeit nicht beeinträchtigt; denn auch so bleibt sein derartiges Leben; und wenn seine Hausgenossen und Freunde sterben, so weiss er, was der Tod ist; es Wissens auch die, welche ihn erleiden, falls sie tugendhaft sind. Aber[28] wenn auch Hausgenossen und Verwandte durch dieses Leid ihn betrüben, so betrüben sie doch nicht ihn, sondern den unvernünftigen Theil in ihm, dessen Trauer er nicht als die seinige aufnehmen wird.

5. Wie aber stehts mit Schmerzen und Krankheiten und was ihn sonst hindert thätig zu sein? Ja wenn er nicht einmal Bewusstsein von sich hat? Denn möglich wäre dies in Folge von Gift und gewissen Krankheiten. Wie könnte man bei allem diesen von glücklich leben und Glückseligkeit reden? Denn Armuth und Ruhmlosigkeit wollen wir bei Seite lassen. Gleichwohl möchte jemand mit Rücksicht darauf und namentlich auf die vielbesprochenen Unglücksfälle des Priamos uns entgegentreten. Denn wenn er dieses auch ertrage und mit Leichtigkeit ertrage, so sei es doch für ihn nicht ein Gewolltes, das glückselige Leben aber müsse ein Gewolltes sein; auch sei ja dies nicht der Tugendhafte, eine so beschaffene Seele, indem die Natur des Leibes mit zu seinem Wesen gezahlt werde. Leicht könnte sich jemand zu dieser Annahme bekennen, solange die Leiden des Leibes auch über ihn kommen und damit hinwiederum Neigungen und Abneigungen in ihm entstehen. Allerdings wenn die Lust mit zu einem glücklichen Leben gerechnet wird, wie soll dann der Tugendhafte, der Trauer empfindet in Unglück und Schmerzen, glückselig sein? Götter erfreuen sich wohl eines solchen glückseligen, selbstgenugsamen Zustandes, für Menschen aber, die einen Zusatz vom Schlechteren empfangen haben, muss man das Glück in ihrem gesammten Verhältnisse suchen, nicht in einem Theile; denn wenn es mit dem einen Theil schlecht steht, dürfte nothwendig auch der andere in seinem Bereich behindert werden, weil es auch mit dem andern in seinem Bereiche nicht gilt steht. Oder man muss den Leib und die leibliche Empfindung abreissen und so in dem Selbstgenugsamen das Glücklichsein suchen.

6. Wenn nun unsere Darlegung die Glückseligkeit in das Freisein von Schmerz, Krankheit, Unglück und grossen Unfällen gesetzt hatte, so könnte im entgegengesetzten Falle niemand glücklich sein; wenn dieses aber vielmehr beruht auf dem Besitz des wahrhaft Guten, warum soll man dies bei Seite lassend und auf das Nebensächliche blickend der Ansicht sein, der Glückliche suche das andere, was nicht mit zur Glückseligkeit gezählt worden? Denn wäre es ein Zusammenhäufen von Gutem und Nothwendigem oder auch nicht Nothwendigem, was aber gleichfalls gut genannt würde, so müsste[29] man sich auch dieses zu verschaffen suchen; wenn aber das Ziel eines und nicht vieles sein muss – denn sonst wurde man ja nicht das Ziel sondern Ziele suchen – muss man allein das nehmen, was das Höchste und Werthvollste und was die Seele in ihr Innerstes aufzunehmen strebt. Jenes Suchen und Wünschen geht nicht dahin, hiervon frei zu sein; denn dies flieht das vernünftige Denken nicht in Folge seiner eigenen Natur, sondern weist es bloss zurück, wenn es vorhanden, oder sucht es sich umgekehrt auch zu verschaffen; sondern dieses Streben geht vielmehr auf ein Höheres: ist es in diesem, so ist es erfüllt und steht still, und dies ist das in Wahrheit wünschenswerthe Leben. Nach dem Vorhandensein des Nothwendigen aber findet wohl kein eigentliches Wollen statt d.h. Wollen in seinem strengen Sinne genommen und nicht nach einem missbräuchlichen Sprachgebrauch, da wir ja auch das Vorhandensein von derartigem nicht verschmähen. Vermeiden wir doch überhaupt das Schlechte, und doch ist ein solches Vermeiden kein Gegenstand unseres Wollens; vielmehr wird es das Verlangen sein, ein solches Vermeiden garnicht nöthig zu haben. Dies bezeugen auch die Dinge selbst, wenn sie vorhanden sind, z.B. Gesundheit und Schmerzlosigkeit. Denn was ist daran verlockend? Wenigstens wird die Gesundheit verachtet, wenn sie vorhanden ist, ebenso die Schmerzlosigkeit. Was aber, wenn es vorhanden, nichts Verlockendes hat und zur Glückseligkeit nichts hinzusetzt, wenn es aber fehlt wegen der Anwesenheit des schmerzlichen Gegentheils gesucht wird, das wird man vernünftigerweise etwas Nothwendiges, nicht etwas Gutes nennen. Auch darf man es gewiss nicht mit zum Ziele rechnen, sondern selbst wenn es fehlt und das Gegentheil vorhanden ist, muss man das Ziel unversehrt im Auge behalten.

7. Warum will nun der Glückliche, dass dieses vorhanden sei und weshalb stösst er das Gegentheil von sich? Wir werden etwa sagen, nicht weil es zum Glücklichsein, wohl aber weil es zum Sein einen Theil beiträgt; das Gegentheil aber weil es zum Nichtsein führt oder durch seine Gegenwart das Ziel verrückt, nicht als ob es das Ziel aufhöbe, sondern weil, wer das Beste hat, es allein haben will, nicht etwas anderes was durch seine Gegenwart jenes zwar nicht aufhebt, aber doch neben jenem sich behauptet. Keineswegs aber wird, wenn der Glückliche etwas nicht will, durch das Vorhandensein dieses schon etwas von der Glückseligkeit weggenommen; denn sonst würde jeden Tag etwas von der Glückseligkeit[30] sich ändern oder ausfallen, z.B. wenn er ein Kind verliert oder sonst etwas von seinen Besitzthümern. Und so giebt es Unzähliges, was nicht seiner Erwartung gemäss verläuft, ohne jedoch ihn von dem ihm gegenwärtigen Ziel zu verrücken. Aber das Grosse, sagt man, nicht das erste beste! Was aber wäre von den menschlichen Dingen so gross, dass es von dem nicht verachtet würde, der emporgestiegen ist zu dem, was höher ist als alles dieses, der an nichts hier unten mehr gebunden ist? Denn warum sollte er, der Glücksgüter, wie beschaffen sie auch immer sein mögen, für nichts Grosses hält, als Königreiche, Herrschaften über Städte und Völker, Colonisationen und Gründungen von Städten, selbst nicht wenn sie von ihm ausgehen: warum sollte er den Verlust von Herrschaften und die Zerstörung seiner Vaterstadt für etwas Grosses halten? Wenn er es gar für ein grosses Uebel oder überhaupt nur für ein Uebel hält, so würde er lächerlich sein mit seiner Lehre und nicht mehr tugendhaft, falls er Holz und Steine und, beim Zeus, den. Tod von vergänglichen Dingen für etwas Grosses hält, während ihm doch in Betreff des Todes die Lehre gegenwärtig sein müsste, dass er besser sei als das Leben im Leibe. Und wenn er selbst geopfert würde, wird er den Tod für ein Uebel erachten, weil er an Altären stirbt? Und wenn er nicht begraben wird, sein Leib verwest überall, mag er über die Erde oder unter die Erde gelegt sein. Wenn aber, weil er nicht mit grossem Aufwand sondern prunklos begraben wird, ohne ein hohes Denkmal zu erhalten: o über seinen kleinlichen Sinn! Aber wenn er als Gefangener weggeführt wird: nun, der Ausweg steht dir offen, wenn es dir nicht vergönnt ist glücklich zu sein. Wenn die Seinigen in Gefangenschaft gerathen, Schwiegertöchter und Töchter etwa fortgeschleppt werden – wie nun, werden wir sagen, wenn er stürbe, ohne etwas dergleichen gesehen zu haben? Würde er etwa bei seinem Hingange der Ansicht sein, dass dergleichen garnicht möglich sei? Dann würde er ein Thor sein. Wird er also nicht der Ansicht sein, dass die Seinigen solchem Unglück anheimfallen können? Würde er etwa wegen seiner Ansicht von dieser Möglichkeit nicht glücklich sein? Gewiss ist er auch bei einer solchen Ansicht glücklich, folglich auch, wenn es geschieht. Denn er wird in Erwägung ziehen, dass die Natur dieses Weltalls dergleichen mit sich bringe und dass man da nachgeben müsse. Vielen wird es ja sogar in der Gefangenschaft besser gehen. Und es steht bei ihnen, dem Druck zu entgehen.[31] Oder wenn sie bleiben, so bleiben sie entweder mit gutem Grund und es ist für sie nichts Schlimmes, oder wenn sie unvernünftigerweise bleiben wo sie nicht bleiben sollten, so sind sie selbst Schuld daran. Er wird aber doch nicht wegen des Unverstandes anderer, die seine Verwandten sind, in übler Lage sein und sich von Glück und Unglück anderer abhängig machen.

8. Seine Schmerzen anlangend so wird er sie, wenn sie heftig sind, tragen solange er sie tragen kann; überwältigen sie ihn, so werden sie ihn hinaustragen und er wird in seinem Schmerze nicht bejammernswerth sein, sondern sein Licht im Innern wird sein wie das Licht auf dem Leuchtthurm, wenn es auch aussen heftig wehet, in gewaltigem Tosen des Sturms und im Ungewitter. Aber wenn er das Bewusstsein verliert oder der Schmerz zu solcher Höhe sich ausdehnt, dass er ihn gleichwohl trotz seiner Höhe nicht tödtet? Wenn er sich ausdehnt, wird er überlegen was zu thun sei; denn hierbei ist ihm das freie Handeln nicht genommen. Man muss aber wissen, dass nicht alles, wie es den andern erscheint, ebenso dem Tugendhaften erscheinen wird, und dass nicht alles bis ins Innere dringt, so unter anderm auch nicht das Schmerzliche und Traurige, zumal wenn das Schmerzliche andere betrifft; denn das würde eine Schwäche unserer Seele sein. Dies bezeugt auch der Umstand, dass wir es für einen Vortheil halten, wenn es uns verborgen bleibt, dass wir es für einen Vortheil halten, wenn es nach unserem Tod geschieht, dass wir nicht sowohl darauf achten, dass jener als dass wir selbst nicht betrübt werden. Da haben wir denn schon eine Schwäche unserer Seele, die man beseitigen muss statt ihr nachzugeben und sich vor möglichem Unglück zu fürchten. Falls aber jemand sagt, es sei dies unsere Natur, über die Unglücksfälle der Unsrigen Schmerz zu empfinden, so möge er erkennen, dass nicht alle Naturen so sind und dass es die Aufgabe der Tugend ist, das Gemeinsame der Natur zum Bessern und Schönem zu führen der Menge zum Trotz; es ist aber schöner, demjenigen nicht nachzugeben, was für die gemeine Natur als furchtbar gilt. Denn nicht wie ein Idiot sondern wie ein grosser Athlet muss man da stehen und die Schläge des Schicksals abwehren, indem man erkennt, dass einer gewissen Natur das nicht zusagt, für die eigene Natur aber zu ertragen sei, nicht als etwas Furchtbares sondern für Kinder Schreckhaftes. Das also wollte er. Auch gegen das, was er nicht will, hat er, falls es eintritt,[32] Tugend, welche die Seele für Erregung und Affectionen schwer zugänglich macht.

9. Aber wenn er bewusstlos ist, getaucht in Krankheiten und Zauberkünste? Nun, wenn man ihn nur tugendhaft sein lässt in diesem Zustande, wo er gleichsam im Schlaf gebettet ist, was hindert ihn dann glücklich zu sein? Auch im Schlaf spricht man ihm ja die Glückseligkeit nicht ab und man bringt diese Zeit nicht in Anschlag um zu sagen, er sei nicht sein ganzes Leben lang glücklich; betrachten sie ihn nicht als einen Tugendhaften, dann sprechen sie eben nicht mehr von dem Tugendhaften. Wir aber haben es mit dem Tugendhaften zu thun und untersuchen, ob er glücklich ist solange er tugendhaft ist. Zugegeben indes, er sei tugendhaft, sagen sie; aber ohne Bewusstsein und eine der Tugend gemässe Thätigkeit: wie sollte er wohl glücklich sein? Nun, auch wenn er ohne Bewusstsein gesund ist, ist er nichtsdestoweniger gesund, und wenn ohne Bewusstsein schön, nichtsdestoweniger schön; wenn er nun ohne es zu wissen ein Weiser wäre, sollte er deshalb weniger weise sein? Es müsste denn jemand sagen, dass bei der Weisheit Empfindung und Bewusstsein vorhanden sein müssen, denn in der sich bethätigenden Weisheit sei ja gerade die Glückseligkeit enthalten. Wenn das Denken und die Weisheit etwas fremd Dazugekommenes wäre, so hätte dieser Einwand vielleicht seine Berechtigung. Wenn aber die Daseinsform [Hypostase] der Weisheit in einer Wesenheit oder vielmehr in der Wesenheit besteht, diese Wesenheit aber in dem Ruhenden, überhaupt dem Bewusstlosen nicht verloren gegangen und vielmehr die wirkliche Thätigkeit der Wesenheit in ihm vorhanden ist und zwar eine solche schlaflose Thätigkeit, so muss wohl alsdann auch der Tugendhafte als solcher sich bethätigen. Diese Thätigkeit bleibt aber nicht seinem ganzen Selbst sondern nur einem Theile von ihm verborgen; wie ja auch, wenn die vegetative Thätigkeit wirksam wird, die Wahrnehmung dieser Thätigkeit durch das Empfindungsvermögen nicht auf den übrigen Menschen übergeht. Und wenn jene vegetative Thätigkeit wir selbst wären, so würden wir die Wirkenden sein; nun aber sind wir das nicht, sondern die Thätigkeit des geistigen Theils, so dass, wenn jenes thätig, auch wir wohlthätig sind.

10. Vielleicht aber bleibt sie verborgen, weil sie nichts mit irgend einem sinnlich Wahrnehmbaren zu thun hat; denn durch die sinnliche Wahrnehmung muss sie wie durch ein[33] Medium darauf wirken und sich damit befassen. Aber der Geist selbst, weshalb soll er nicht thätig sein, desgleichen die ihn umgebende Seele, die über der Empfindung und überhaupt der Wahrnehmung steht? Denn das, was höher ist als die Wahrnehmung, muss Thätigkeit sein, wenn anders Denken und Sein dasselbe ist. Und die Wahrnehmung scheint stattzufinden und zu entstehen, wenn der Gedanke sich umbiegt und das, was nach dem Leben der Seele thätig ist, gleichsam zurückgeworfen ist, wie in einem Spiegel das auf der glatten und glänzenden Fläche ruhende Bild. Wie nun hierbei, wenn der Spiegel vorbanden war, das Bild entstand, wenn er aber nicht vorhanden war oder nicht diese Stellung hatte, doch die Thätigkeit vorhanden ist, der das Bild angehören muss: so werden auch in der Seele, wenn jenes Analogen in uns, in welchem die Bilder der Reflexion und des Geistes sich spiegeln, diese gesehen und gleichsam sinnlich erkannt, zugleich mit der hohem Erkenntniss, dass der Geist und die Seele thätig ist. Wenn aber dies wegen der gestörten Harmonie des Leibes zerbrochen ist, so denken Reflexion und Geist ohne Bild und dann findet das Denken ohne Phantasie statt: daher liesse es sich etwa auch so denken, dass das Denken mit Phantasie vor sich geht, ohne dass doch das Denken Phantasie ist. Man wird auch oft in wachem Zustande viele schöne Thätigkeiten, Betrachtungen und Handlungen finden können, wo wir uns weder des Anschauens noch des Handelns während derselben bewusst sind. So braucht der Lesende kein Bewusstsein davon zu haben, dass er liest, namentlich dann, wenn er angespannt liest; noch der Tapfere, dass er tapfer ist und der Tapferkeit entsprechend handelt soweit er handelt, und so unzähliges andere. So gewinnt es den Anschein, dass das Bewusstsein die Handlungen, von denen es ein Bewusstsein hat, schwächer und dunkler macht, dass diese vielmehr dann, wenn sie allein sind, reiner sind und mehr wirken, mehr leben, dass daher dann auch bei den in diesem Zustande befindlichen Tugendhaften das Leben in höherem Grade stattfindet, nicht in die Empfindung ausgegossen wird, sondern an einem und demselben Punkte sich in sich selbst sammelt.

11. Wenn aber einige einem solchen das Leben gänzlich absprechen sollten, so werden wir behaupten, dass er allerdings lebe, seine Glückseligkeit ihnen aber wie sein Leben verborgen sei. Wollen sie dies nicht glauben, so werden wir fordern, dass sie einstweilen einen Lebenden und Tugendhaften[34] annehmen und so forschen, ob er glücklich sei, nicht aber, dass sie sein Leben beschränken und forschen, ob er glücklich lebt, noch den Menschen aufheben und nach der Glückseligkeit des Menschen fragen, noch zugeben, dass der Tugendhafte nach innen gekehrt sei und ihn doch in den äusseren Handlungen suchen oder überhaupt das Object seines Wollens in Aeusseres setzen; denn so hätte die Glückseligkeit garkeine Existenz und keinen Halt, wenn man das Aeussere wünschenswerth und einen Gegenstand für das Wollen des Tugendhaften nennt. Freilich möchte er wohl, dass es allen Menschen gut gehe und niemandem etwas Uebles widerfahre, aber geschieht dies nicht, ist er gleichwohl glücklich. Sagt aber jemand, er thue etwas Vernunftwidriges, wenn er dies mochte – denn das Böse sei unumgänglich – so wird er offenbar uns zustimmen, die wir sein Wollen auf das Innere hinwenden.

12. Fordern sie aber Angenehmes für ein solches Leben, so werden sie für ihn nicht die Genüsse der Unmässigen oder die des Körpers begehren – denn diese können unmöglich vorhanden sein und würden das Glücklichsein aufheben – noch auch die übermässigen Freuden – denn weshalb? – sondern solche Genüsse, die durch die Anwesenheit des Guten zugleich mit vorhanden sind, die nicht der Bewegung und dem Werden unterliegen. Denn bereits ist das Gute bei dem Glücklichen und er bei sich selber und es bleibt das Angenehme und Heitere. Heiter aber ist der Tugendhafte immer, sein Zustand ist ruhig, zufrieden seine Stimmung, die keines der sogenannten Uebel in unruhige Bewegungen setzt, wenn er wirklich tugendhaft ist. Sucht indessen jemand eine andere Art von Freude im tugendhaften Leben, so sucht er nicht das tugendhafte Leben.

13. Auch werden die Thätigkeitsäusserungen nicht durch Glückszufälle behindert, wohl aber können sie je nach verschiedenen Umständen verschiedene sein, aber alle dennoch schön und um so schöner vielleicht je mehr sie durch Umstände bedingt und begünstigt sind. Die theoretischen Thätigkeiten im einzelnen aber sind vielleicht der Art, dass er sie nach vorangegangener Untersuchung und Betrachtung hervorbringen kann. Das grösste Wissen ist ihm stets zur Hand und unzertrennlich von ihm und um so mehr, wenn er sich im sogenannten Stier des Phalaris befindet. Denn in jenem Falle ist es das gerade im Schmerz Befindliche, welches sein[35] Urtheil über das Empfundene ausspricht, hier aber ist ein Unterschied zwischen dem, was die Schmerzen hat und jenem andern, was immer bei sich selber bleibt und solange es nothwendigerweise bei sich bleibt nie die Anschauung des ganzen Guten verliert.

14. Dass aber der Mensch nicht das aus beiden zugleich Bestehende ist, namentlich nicht der Tugendhafte, bezeugt auch die Trennung vom Leibe und die Verachtung der angeblichen Güter des Leibes. Es würde aber lächerlich sein zu glauben, dass soweit das lebende Wesen reicht die Glückseligkeit statthabe, da die Glückseligkeit ›wohl leben‹ bedeutet und in der Seele, die ihrerseits Thätigkeit ist, stattfindet und zwar nicht in der ganzen Seele, wenigstens nicht in der vegetativen , wobei sie ja mit dem Körper in Berührung treten würde – denn dies Glücklichsein war doch wahrlich nicht Grösse und Wohlbefinden des Körpers – auch nicht in den schönen Empfindungen der Sinne, denn die Anmassung derselben möchte am Ende den Menschen beschweren und zu sich heranziehen; vielmehr muss man eine Art Gegengewicht nach der andern Seite zum Besten hin herstellen und den Leib kleiner und schlechter machen, damit deutlich gezeigt werde, dass dieser Mensch ein anderer ist als der äussere. Der am Irdischen haftende Mensch mag schön, gross und reich sein, er mag alle Menschen beherrschen, da er ja zu dieser Erde gehört, und man darf ihn nicht darum beneiden, dass er sich durch dergleichen hat lauschen lassen. Beim Weisen findet das vielleicht von vornherein garnicht statt, und wenn es stattfindet wird er's aus eigenem Antriebe vermindern, wenn anders er für sich selbst sorgt. Er wird die überwiegenden Vorzüge des Leibes verringern und durch Sorglosigkeit verkümmern lassen, eine herrschende Stellung wird er aufgeben. Indem er die Gesundheit seines Leibes erhält, wird er nicht durchaus frei von Krankheiten sein wollen, auch nicht gänzlich frei von Schmerzen, ja wenn sie nicht eintreten, wird er in der Jugend sogar verlangen sie kennen zu lernen, im Alter dagegen wünschen, dass weder Schmerzen noch Freuden noch überhaupt etwas von irdischen Dingen ihn belästige, sei es etwas Angenehmes sei es das Gegentheil, um nicht auf den Körper Rücksicht nehmen zu müssen. Wird er von Schmerzen befallen, so wird er die ihm gegen dieselben verliehene Kraft entgegensetzen, ohne in der Freude und Gesundheit und Musse einen Zusatz oder im Gegentheil davon einen Verlust oder eine Verringerung zu verspüren.[36] Denn wenn der eine Gegensatz demselben nichts hinzusetzt, wie soll ihm der andere etwas nehmen?

15. Gesetzt aber, wir hätten zwei Weise, den einen im Besitz alles Naturgemässen, den andern ganz im Gegentheil, werden wir behaupten, dass ihnen in gleicher Weise die Glückseligkeit zukomme? Wir werden es behaupten, wenn sie in gleichem Masse Weise sind. Wenn aber der eine von schöner Gestalt wäre und alles andere besässe, was in keiner Beziehung zur Weisheit steht, überhaupt nicht zur Tugend, zum Schauen des Besten und zum Sein des Besten, was wäre es? Er selbst, der Besitzer, wird sich dessen nicht rühmen, als ob er glücklicher wäre als der, welcher es nicht hat; nicht einmal für das Ziel eines Flötenspielers würden diese Vorzüge von Werth sein. Aber wir betrachten den Glücklichen nach dem Massstab unserer Schwäche, indem wir für schlimm und furchtbar halten, was der Glückliche doch wohl nicht dafür hält; oder er wäre noch nicht weder weise noch glücklich, wenn er nicht alle Phantasieen über diese Dinge ablegte und gleichsam ein ganz anderer geworden nicht sich selbst glaubte, dass ihm nie etwas Uebles begegnen wird; denn so wird er auch furchtlos sein in jeder Beziehung, oder wenn er um einiges noch besorgt ist, so wird er kein vollkommener Mann sein zur Tugend, sondern nur so ein halber. Denn auch die unwillkürliche und die vor der Prüfung eintretende Furcht, die vielleicht während der Beschäftigung mit andern Dingen an ihn herantritt, wird der Weise an sie herantretend abstossen und das in ihm gleichsam vor Trauer erregte Kind wird er durch Drohung oder vernünftiges Zureden beschwichtigen, durch eine leidenschaftslose Drohung nämlich, wie wenn etwa ein Kind bloss bei einem strengen Blick erschrickt. Bei alledem ist ein solcher nicht ohne Freunde und schroff in seinem Wesen; so ist er nur gegen sich und in dem, was ihn angeht. Indem er nun all das Seinige auch den Freunden mittheilt, wird er bei seinem verständigen Sinn zugleich ein rechter Freund sein.

16. Wenn aber jemand den Tugendhaften nicht zu dieser geistigen Höhe emporhebt, sondern zu den Glücksfällen herabzieht und von diesen etwas für ihn fürchtet, so wird er weder den Tugendhaften festhalten wie wir ihn verlangen, sondern indem er uns einen ordentlichen aus Gutem und Bösem gemischten Menschen giebt, wird er ihm auch ein aus etwas Gutem und Bösem gemischtes Leben geben. Wenn es nun auch einen solchen geben mag, so verdient er doch nicht[37] glücklich genannt zu werden, da er das Grosse weder in der Würde der Weisheit noch in der Reinheit des Guten hat. Es ist eben nicht möglich, dass in einem gemischten Zustand das glückliche Leben bestehe. Mit Recht verlangt denn auch Plato, dass wer weise und glücklich werden wolle, von dort oben her das Gute nehme, nach jenem blicke, jenem ähnlich werde, jenem gemäss lebe. Dies also muss er allein haben zur Erreichung seines Ziels, das andere aber wird er ansehen wie etwa eine von ihm beliebte Ortsveränderung, nicht als ob er aus den Ortsverhältnissen einen Zuwachs zum Glück erhielte, sondern um auch eine andere Umgebung zu versuchen. Dabei giebt er diesem seinen Genossen [dem Leibe], was zu seinem Gebrauche dient und in seiner Macht sieht; da er selbst aber ein anderer ist, hindert ihn nichts auch diesen zu entlassen, und er wird ihn entlassen, sobald ein der Natur angemessener Zeitpunkt eintritt, da es ja ganz in seinem Belieben stellt hierüber einen Entschluss zu fassen. Daher werden einige seiner Verrichtungen in Beziehung zu seiner Glückseligkeit stehen, andere aber nicht um des Zieles willen geschehen und überhaupt nicht um seinetwillen, sondern um des mit ihm verbundenen Theiles willen, für den er sorgen und den er solange als möglich ertragen wird, wie ein Musiker die Lyra, solange sie zu gebrauchen möglich ist. Kann er sie nicht mehr gebrauchen, so wird eine andere eintauschen oder den Gebrauch der Lyra aufgeben und sich der Thätigkeit auf der Lyra enthalten, da er eine andere Beschäftigung hat; und falls sie in seiner Nähe liegt, wird er über sie hinwegsehen, indem er ohne Instrument singt. Und doch war ihm anfänglich das Instrument nicht umsonst gegeben, denn er hat sich desselben schon oftmals bedient.

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 24-38.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon