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Fünftes Buch.
Ob die Glückseligkeit
in der Länge der Zeit bestehe oder
Ob die Glückseligkeit einen Zuwachs
durch die Zeit erhalte

[38] 1. Ob wohl das Glücklichsein einen Zuwachs durch die Zeit erhält, da es doch stets in Bezug auf die Gegenwart genommen wird? Denn die Erinnerung an ein gewesenes[38] Glück dürfte nichts ausmachen, und nicht im Reden sondern in einem gewissen Zustande liegt das Glück. Der Zustand liegt in der Gegenwart wie auch die Thätigkeit des Lebens.

2. Wenn man aber, weil wir stets nach dem Leben und nach der Thätigkeit streben, dies zu erreichen ein höheres Glück nennt, so wird erstens auf diese Weise auch das morgende Glück grösser sein und das folgende stets grösser als das frühere und das Glücklichsein wird nicht mehr an der Tugend gemessen werden. Dann werden auch die Götter jetzt mehr glücklich sein als früher und noch nicht vollkommen oder niemals vollkommen. Ferner hat auch das Streben, wenn das Verlangen gestillt ist, das Gegenwärtige erlangt und sucht auch immer das Gegenwärtige solange das Glücklichsein stattfindet zu haben. Das Streben nach Leben aber, welches das Sein sucht, muss doch wohl dem Gegenwärtigen angehören, wenn das Sein in der Gegenwart ruht. Wenn es aber die Zukunft und die Folgezeit will, so will es was es hat und was es ist, nicht was vergangen noch zukünftig ist, sondern dass es sei was es bereits ist, indem es nicht die stete Dauer sucht, sondern dass das bereits Gegenwärtige eben gegenwärtig sei.

3. Wie aber wenn jemand längere Zeit glücklich war und längere Zeit mit seinen Augen dasselbe sah? Hat er mit der Länge der Zeit auch das Genauere gesehen, so mag ihm die Zeit ein mehreres eingebracht haben; wenn er aber fortwährend in gleicher Weise sah, so hat derjenige, der bloss einmal sah, ebensoviel gesehen.

4. Aber der andere hat sich längere Zeit gefreut. Allein es dürfte wohl nicht richtig sein, dies mit zum Glücklichsein zu zählen. Meint indessen jemand mit ›Freude‹ die ungehinderte Thätigkeit, so meint er dasselbe was gesucht wird. Auch die längere Freude hat inzwischen immer nur die Gegenwart, ihre Vergangenheit ist eben dahin.

5. Wie aber wenn der eine von Anfang an glücklich war bis zu Ende, der andere die spätere Zeit, ein dritter, zuerst glücklich, einen Umschlag erfuhr: haben sie ein gleiches Glück? Hier werden doch wohl nicht lauter Glückliche mit einander verglichen, sondern Unglückliche, eben als sie unglücklich waren, mit Glücklichen. Wenn also jemand etwas voraushat, so hat er es in soweit als ein Glücklicher im Verhältniss zu Unglücklichen, der ja gerade durch das Vorhandene und Gegenwärtige vor ihnen im Vortheil ist.

6. Wie steht es nun mit dem Unglücklichen? Ist er[39] nicht unglücklicher durch die Länge der Zeit? Und giebt nicht auch alles andere Widerwärtige in längerer Zeit ein längeres Unglück, wie anhaltende Schmerzen, Trauer und alles andere von diesem Schlage? Und wenn dies so mit der Zeit das Uebel vermehrt, warum nicht auch das Gegentheil in gleicher Weise das Glück? Nun bei Schmerzen und Qualen könnte jemand sagen, dass die Zeit einen Zuwachs bringt, z.B. das Anhalten der Krankheit, denn es entsteht ein habitueller Zustand und mit der Zeit wird der Körper mehr heruntergebracht. Indessen falls dasselbe bleibt und der Schade nicht grösser wird, wird auch hier das Gegenwärtige immer das Schmerzliche sein, man müsste denn das Vergangene dazu zahlen, im Hinblick auf das Gewordene und Bleibende und in Erwägung, dass bei einem unglücklichen habituellen Zustand das Uebel auf eine längere Zeit hin ausgedehnt wird, wobei auch der krankhafte Zustand durch das Bleibende zunimmt. Durch einen qualitativen Zuwachs also, nicht durch einen quantitativen an Zeit entsteht vielleicht ein erhöhtes Unglücklichsein. Das quantitative Mehr ist aber nicht zugleich, auch darf man überhaupt von einem quantitativen Mehr nicht sprechen, indem man das noch nicht Seiende zu dem Seienden hinzuzählt. Das Glück aber hat seinem Wesen nach Ziel und Grenze und ist immer dasselbe. Wenn aber auch hier neben der längern Zeit ein Zuwachs stattfindet, so dass man im hohem Grade glücklich ist im Fortschreiten zu einer hohem Tugend, dann lobt man nicht ein vieljähriges Glück nach der Zahl gerechnet, sondern ein Glück, das dann ein höheres geworden ist, wenn es eine höheres ist.

7. Aber warum, wenn man nur das Gegenwärtige in Betracht ziehen und es nicht zu dem Vergangenen hinzuzählen darf, thun wir nicht bei der Zeit dasselbe, sondern zählen die vergangene zu der gegenwärtigen und nennen sie dann länger? Warum sollen wir nun nicht je nach der Grösse der Zeit auch von einer entsprechenden Grösse des Glücks reden? Wir könnten nach den Eintheilungen der Zeit auch das Glück eintheilen, während wir es andererseits nach dem Gegenwärtigen messen und es so zu einem untheilbaren machen. Nun ist es in der That nicht ungereimt, auch die nicht mehr seiende Zeit zu zählen, da wir ja auch das Gewesene, was aber nicht mehr ist, zählen können, wie z.B. die Todten; allein zu sagen, dass ein nicht mehr seiendes Glück vorhanden sei und gar in höherm Masse als das vorhandene, ist ungereimt. Denn die Glückseligkeit fordert das[40] Geschehene als ein gegenwärtiges, die längere Zeit aber neben der Gegenwart das Nichtmehrsein. Ueberhaupt will ja das Mehr von Zeit eine Zersplitterung eines Einen in der Gegenwart seienden. Deshalb wird sie auch mit Recht ein Bild der Ewigkeit genannt, da sie in ihrer eignen Zersplitterung das Bleibende jener vernichten will. Daher hat sie, wenn sie das Bleibende in der Ewigkeit wegnimmt und sich aneignet, es vernichtet, während es in gewisser Weise eine Zeit lang bei jener erhalten bleibt, aber zu Grunde geht, falls es ganz in ihr aufgegangen. Wenn nun die Glückseligkeit in einem guten Leben besteht, so muss man es offenbar in das Leben des Seienden setzen, denn dieses ist das beste. Es ist also nicht nach der Zeit, sondern nach der Ewigkeit zu messen; diese aber ist nie mehr noch weniger noch nach gewisser Länge zu bestimmen, sondern immer dasselbe, unbeschränkte, unzeitliche Sein. Man darf also nicht das Seiende mit dem Nichtseienden in Zusammenhang bringen, noch die Zeit mit der Ewigkeit, noch die zeitliche mit der ewigen Dauer, noch das Zusammenhängende auseinanderreissen, sondern man muss es in seiner Gesammtheit auffassen, wenn man es überhaupt auffassen will, indem man es nicht als das Ununterbrochene der Zeit, sondern als das Leben der Ewigkeit auffasst, das nicht aus vielen Zeiten besteht, sondern zugleich aus der ganzen Zeit zusammen.

8. Wenn aber jemand sagt, die Erinnerung an das Vergangene, welche in der Gegenwart bleibe, gebe dieses Mehr dem, der längere Zeit glücklich war, was für eine Erinnerung meint er da eigentlich? Doch wohl entweder die Erinnerung an die früher etwa vorhandene Einsicht, so dass er nun einen einsichtsvolleren meinte und nicht bei seiner Voraussetzung bliebe; oder die Erinnerung an die Genüsse, als ob der Glückliche vieler Freuden bedürfe und sich nicht an der vorhandenen genügen liesse. Und was hätte denn die Erinnerung an das Angenehme angenehmes? Wie etwa wenn jemand sich erinnerte, dass er sich gestern über ein Gericht gefreut habe: oder nach zehn Jahren, was noch lächerlicher wäre; ebenso hinsichtlich der Einsicht, dass er vor Jahr und Tag einsichtsvoll gewesen sei.

9. Wenn es aber die Erinnerung an das Schöne wäre, sollte sich da nicht etwas sagen lassen? Aber das kann doch nur bei einem Menschen statthaben, dem es in der Gegenwart am Schönen fehlt und der, weil er jetzt nichts hat, die Erinnerung an das Vergangene sucht.[41]

10. Aber die lange Zeit bringt viele schöne Handlungen hervor, deren der nur auf kurze Zeit Glückliche verlustig geht; wenn man überhaupt einen glücklich nennen darf, der es nicht durch vieles Schöne ist. Wer aber die Glückseligkeit aus vielen Zeiten und Thaten bestehen lässt, der lässt es aus dem nicht mehr Seienden, sondern Vergangenen und einem Gegenwärtigen bestehen. Darum haben wir die Glückseligkeit in die Gegenwart gesetzt und untersuchten dann, ob ein quantitatives Mehr auch ein qualitatives sei. Nun muss dies untersucht werden, ob die Glückseligkeit innerhalb eines längeren Zeitraums durch die grössere Anzahl von Handlungen vorzüglicher werde. Erstens nun kann man auch ohne Thaten glücklich sein und nicht weniger, sondern mehr als der sie verrichtet hat; zweitens verleihen die Thaten nicht aus sich selbst das Wohlergehen, sondern die Gesinnungen machen auch die Handlungen schön und der Verständige geniesst das Gute handelnd, nicht weil er handelt noch aus dem Erfolg, sondern aus dem was er hat. So kann die Rettung des Vaterlandes ja auch durch einen Schlechten geschehen und die Freude über die Rettung des Vaterlandes kann ihm zu Theil werden auch wenn ein anderer sie durchgesetzt hat. Nicht also dieses ist es, was die Freude der Glückseligkeit ausmacht, sondern der habituelle Zustand macht das Glück und was es durch dasselbe angenehmes giebt. In die Handlungen aber die Glückseligkeit setzen heisst sie in das setzen, was ausserhalb der Tugend und der Seele liegt; denn die Thätigkeit der Seele bestellt im Denken und so in sich selber thätig zu sein. Und das heisst glücklich sein.

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 38-42.
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