Siebentes Buch.
Ueber das erste Gut und die anderen Güter oder Ueber das erste Gut und die Glückseligkeit

[53] 1. Kann wohl jemand sagen, dass es für jegliches Wesen ein anderes Gutes gibt als die naturgemässe Thätigkeit des Lebens, und wenn ein Ding aus vielen bestehen sollte, dass[53] für dieses die Thätigkeit des Besseren in ihm als eine eigenthümliche, naturgemässe, in nichts nachlassende das Gute sei? Die naturgemässe Thätigkeit der Seele also ist für sie das Gute. Falls sie aber, selbst als beste, auch nach dem besten hin thätig ist, so dürfte dieses Gute nicht bloss in Bezug auf sie sondern auch schlechthin das Gute sein. Wenn nun etwas als das Beste von dem Seienden und über das Seiende hinaus nicht, nach einem andern hin thätig ist, wohl aber das andere nach ihm hin, so ist klar, dass dies doch wohl das Gute ist, durch welches es auch dem andern möglich wird an ihm Theil zu nehmen. Das andere aber kann auf zweifache Weise haben, was dergestalt das Gute ist, sowohl dadurch dass es sich ihm verähnlicht hat, als dadurch dass es nach ihm seine Thätigkeit richtet. Wenn nun Streben und Thätigkeit auf das beste Gute gerichtet ist, so darf das Gute nicht auf etwas Anderes blicken, nicht nach einem Anderen streben, sondern muss die ruhig verharrende Quelle und der naturgemässe Urgrund der Thätigkeiten sein, welcher auch das Andere gutartig macht, nicht durch Thätigkeit nach jenem hin – denn jenes ist nach ihm hin thätig – nicht durch Thätigkeit und nicht durch Denken das Gute sein, sondern durch sein Verharren in sich selbst das Gute sein. Denn weil es jenseits des Seins liegt, liegt es auch jenseits der Thätigkeit, und jenseits des Geistes und des Denkens. Denn seinerseits muss man das als das Gute setzen, wovon alles abhängt, was aber selbst von nichts abhängt; denn so ist es auch in Wahrheit das, wonach alles strebt. Es muss also selbst ruhig verharren und alles sich zu ihm hinwenden, wie der Kreis zum Mittelpunkt, von dem alle Radien ausgehen. Auch die Sonne dient als Beispiel, die gleichsam der Mittelpunkt ist für das Licht, das von ihr abhängt nach ihr hin gewendet; es ist wenigstens allenthalben mit ihr und nicht von ihr getrennt; auch wenn man es von ihr auf einer Seite trennen wollte, das Licht ist nach der Sonne zu.

2. Wie aber ist alles andere ihm zugekehrt? Nun, das Unbeseelte strebt zur Seele, die Seele zu ihm durch den Geist. Jedes Ding hat aber etwas von ihm dadurch, dass es irgendwie ein Einiges und ein Seiendes ist, und hat sonach auch an der Form Theil. Wie es nun daran Theil hat, so auch am Guten. An einem Bilde demnach; denn woran es Theil hat, sind Bilder des Seienden und des Einen, so auch die Form. Der Seele aber, der ersten nämlich, die nach dem Geiste kommt, eignet das Leben als ein der Wahrheit näher kommendes, und[54] durch den Geist ist diese gutartig; sie mag aber das Gute haben, wenn sie auf ihn blickt; und der Geist hat seine Stelle gleich nach dem Guten. Leben also ist das Gute für das, was Leben hat, und Geist für das, was am Geiste Antheil hat; wer demnach Leben mit Geist verbunden hat, stellt in doppelter Beziehung zu demselben.

3. Wenn aber das Leben ein Gut ist, so ist dies für alles Lebende vorhanden. Nicht doch; denn das Leben lahmt ja für den Schlechten, wie das Auge für einen der nicht klar sieht, denn es verrichtet nicht was seines Amtes ist. Wenn nun das Leben für uns insofern es gemischt ist ein böses Gutes ist, wie wäre da nicht der Tod ein Uebel? Allein für wen? denn das Böse muss doch irgend einem zustossen; was aber nicht mehr ein Seiendes ist, oder, wenn es ist, des Lebens beraubt, dann ist es auf die Weise nicht einmal ein Uebel für den Stein. Wenn aber Leben und Seele nach dem Tode ist, so muss es dann doch wohl ein Gut sein, um so mehr da die Seele nun ohne den Körper ihrer Eigenthümlichkeit obliegt. Wenn sie aber in die Weltseele aufgeht, was kann ihr dort für ein Uebel widerfahren? Ueberhaupt wie es für die Götter wohl Gutes giebt aber kein Uebel, so auch nicht für die Seele, die ihre Reinheit bewahrt; bewahrt sie aber dieselbe nicht, so ist nicht der Tod ein Uebel für sie, sondern das Leben. Und wenn es auch im Hades Strafen giebt, so ist wiederum für sie das Leben auch dort ein Uebel, weil es nicht blos Leben ist. Ist aber eine Vereinigung von Seele und Leib Leben, Tod dagegen ihre Trennung, so wird die Seele beides aufzunehmen im Stande sein. Aber wenn das Leben gut ist, wie wäre der Tod kein Uebel? Nun, für diejenigen, welchen das Leben ein Gut ist, ist es gut, nicht insoweit es eine Vereinigung ist, sondern weil es durch Tugend das Böse abwehrt; der Tod aber ist noch in höherem Grade ein Gut. In der That muss man sagen, das Leben im Leibe sei an sich ein Uebel, durch die Tugend aber gelange die Seele zum Guten, indem sie nicht nach dem Zusammengesetzten lebt, vielmehr sich gänzlich absondert.[55]

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 53-56.
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