Achtes Buch.
Vom Sehen oder
Weshalb die Gegenstände in der Ferne
klein erscheinen

[127] 1. Nicht wahr, die fernen Gegenstände erscheinen kleiner und die weiten Abstände scheinen geringe Zwischenräume zu haben, in der Nähe aber erscheinen die Gegenstände so gross, wie sie sind, und mit dem Abstand, den sie haben? Die fernen Gegenstände erscheinen dem Sehenden kleiner, weil das Licht für das Gesicht und entsprechend der Pupille will zusammengefasst werden – und um wie viel die Materie des gesehenen Gegenstandes ferner ist, um soviel kommt die Form heran, losgelöst gleichsam von ihrer quantitativen und qualitativen Form, so dass ihr Begriff allein herankommt; oder auch, weil wir von der Grösse beim Durchgange [durch den Zwischenraum] und dem Herankommen an ihren einzelnen Theilen wahrnehmen, wie gross sie ist – sie muss also zugegen und nahe sein, um erkannt zu werden, wie gross sie ist; oder auch, weil die Grösse accidentiell gesehen wird, während man zuerst die Farbe erblickt. In der Nähe nun wird erkannt, in welchem Umfange ein Gegenstand gefärbt ist, in der Ferne aber, dass er gefärbt ist; die Theile aber zugleich quantitativ unterschieden lassen keine genaue Unterscheidung der Grösse zu, da auch die Farben selbst undeutlich herangekommen. Was Wunder also, wenn[127] auch die Grössen, wie desgleichen die Töne kleiner sind, je undeutlicher ihre Form herankommt? Denn auch dort sucht das Gehör die Form, die Grösse aber nimmt es accidentiell wahr. Aber was das Gehör anlangt, wenn die Grösse accidentiell wahrgenommen wird: wem erscheint denn ursprünglich die Grösse beim Ton, wie etwa dem Gefühlssinn ursprünglich die Grösse des gesehenen Gegenstandes erscheint? Das Gehör nimmt wohl die anscheinende Grösse nicht nach der Quantität wahr, sondern nach dem höheren und geringeren Grade, nicht accidentiell, etwa als Intensität, wie auch der Geschmackssinn die Stärke des Süssen nicht accidentiell wahrnimmt. Die eigentliche Grösse des Tones aber ist seine Ausdehnung, diese kann das Gehör accidentiell aus der Stärke bestimmen, doch nicht genau. Denn die Stärke ist jedesmal mit dem Ton identisch, die Ausdehnung aber wird bemessen nach dem ganzen Raum, den er erfüllt. Aber die Farben sind nicht klein, sondern undeutlich, die Grössen sind klein. Jedoch beide haben das Minder dessen, was sie sind, gemeinsam. Die mindere Farbe ist undeutlich, die mindere Grösse klein, und im Anschluss an die Farbe vermindert sich die Grösse in analoger Weise. Diese Affection wird deutlicher an bunten Gegenständen z.B. an vielen Wohnungen oder einer Menge Bäumen und dergl. mehr auf den Bergen, wovon ein jedes, wenn es gesehen wird, aus dem gesehenen Einzelnen das Ganze bemessen lässt. Wenn aber die Form im einzelnen nicht zu Gesichte kommt, so ist dem Auge das Einzelne vorenthalten, um durch Messen der vorliegenden Grösse zu erkennen, wie gross das Ganze ist. Denn auch das Nahe, wenn es bunt ist und die Richtung des Auges auf dasselbe mit einem Male stattfindet und nicht alle Formen gesehen werden, muss begreiflicherweise um soviel kleiner erscheinen als das Einzelne dem Anblick entzogen wird; wenn aber alles gesehen wird, so wird bei genauer Messung erkannt, wie gross es ist. Diejenigen Grössen aber, welche bei gleicher Gestalt gleichfarbig sind, täuschen gleichfalls, da das Auge die Grösse nicht genau nach den Theilen bemessen kann, weil es dabei abgleitet, da es nicht bei jedem einzelnen Theile vermöge seines Unterschiedes stehen bleiben kann. Nahe aber erscheint das Ferne, weil die Grösse der Zwischenräume verkürzt wird aus demselben Grunde. Eben deswegen bleibt auch das Nahe nicht verborgen in seiner Grösse. Da aber das Auge die Entfernung des Zwischenraums nicht wie sie der Form nach beschaffen ist durchwandert, so kann es auch nicht sagen, wie gross es der Grösse nach ist.[128]

2. Dass der aus der Verkleinerung des Gesichtswinkels entnommene Grund nicht stichhaltig ist, habe ich schon anderwärts gesagt, und auch jetzt muss ich darauf aufmerksam machen, dass wer da behauptet, der Gegenstand erscheine kleiner durch den kleineren Winkel, das übrige Auge etwas ausserhalb sehen lässt, entweder etwas anderes oder überhaupt etwas von ausserhalb, wie etwa die Luft. Wenn er aber nichts übrig lässt, weil z.B. der Berg gross ist, sondern wenn der gesehene Gegenstand entweder gleich ist und das Auge unmöglich noch etwas anderes sehen kann, da seine Ausdehnung mit dem Gegenstand sich deckt, oder auch nach beiden Seiten über den auf ihn gerichteten Blick des Auges hinausreicht: was will einer in diesem Falle sagen, wo der Gegenstand viel kleiner erscheint als er ist, aber vom ganzen Auge gesehen wird? Wahrhaftig, wenn jemand seinen Blick auf den Himmel richtet, so kann er das in unzweifelhafter Weise einsehen. Denn die ganze Hemisphäre kann keiner mit einem Blick sehen und das darauf gerichtete Auge kann sich in dem Maasse nicht erweitern. Indessen will das jemand, so sei es ihm zugestanden. Wenn nun das ganze Auge die ganze Hemisphäre umfasst, die Grösse aber am Himmel um viele Male grösser ist als sie erscheint, wie will man die Abnahme des Gesichtswinkels als Grund dafür aufstellen, dass sie um vieles kleiner erscheint als sie ist?

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 127-129.
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