Viertes Buch.
Ueber den Dämon,
der uns zu Theil geworden ist

[196] 1. Die andern Principien lassen ihre Daseinsformen hervortreten während sie selbst unbewegt bleiben, von der Seele aber sagten wir, dass sie unter eigener Bewegung das sensitive und vegetative Vermögen in seiner Daseinsform hervorbringe und sich bis zu den Pflanzen erstrecke. Auch in uns hat sie als solches ihr Dasein, doch herrscht sie nicht, da sie nur ein Theil ist. In den Pflanzen dagegen herrscht sie, gleichsam allein geblieben. Diese [vegetative] Seele nun erzeugt nichts weiter, denn nach ihr folgt kein Leben mehr, sondern das was erzeugt wird ist leblos. Wie also? Nun, wie alles was vor diesem erzeugt wurde ungestaltet erzeugt wurde, aber Gestalt gewann durch das sich Umwenden zu demjenigen, wodurch es erzeugt war, wie zu seiner Lebensquelle: so muss auch hier das Erzeugte nicht mehr Form der Seele (denn es lebt nicht mehr) sondern vollkommene Unbestimmtheit sein. Denn wenn auch in dem Frühem die Unbestimmtheit sich vorfindet, so doch nur in der Form. Denn es ist nicht durchaus unbestimmt, sondern nur im Gegensatz zu seiner Vollendung, das jetzt Vorliegende aber [die Materie] ist durchaus unbestimmt. Vollendet jedoch wird es ein Körper, der die seinem Vermögen entsprechende Gestalt empfängt als Aufnahmeort des erzeugenden und ernährenden Princips, und allein dies ist im Körper als im Aeussersten des Untern das Aeusserste des Obern.

2. Und von dieser Seele gilt hauptsächlich der Ausspruch: ›alles was Seele ist waltet über das Unbeseelte‹; von den Einzelseelen gilt er in verschiedener Weise. ›Sie durchwandert den ganzen Himmel bald in dieser bald in jener Form‹ d.h. entweder in der empfindenden oder denkenden oder in der bloss vegetativen Form. Denn der herrschende Theil derselben thut das ihm Zukömmliche, die andern Theile sind unthätig, denn sie sind ausserhalb. Im Menschen aber herrscht nicht das Schlechtere, sondern es ist zugleich mit vorbanden, freilich auch nicht stets das Bessere, sondern auch das Andere nimmt einen gewissen Raum ein. Deshalb [sind auch die Menschen nicht bloss denkende, sondern] auch empfindende Wesen. Sie haben ja auch Organe der Empfindung; auch erinnert vieles an ihnen an die Pflanzen, denn der Körper wächst und erzeugt. Alle Theile wirken also zusammen, nach dem[196] Bessern aber wird die ganze Form als Mensch bezeichnet. Wenn nun die Seele den Körper verlässt, so wird sie das was sie in überwiegendem Maasse war. Deshalb muss man zu dem Höheren seine Zuflucht nehmen, um nicht zur sensitiven Seele zu werden, indem man den Bildern der sinnlichen Wahrnehmung folgt, noch zur vegetativen, indem man dem Zeugungstriebe und der sinnlichen Begier nach Speise folgt, sondern hinan zum Intellectuellen, zum Geist, zu Gott. Diejenigen welche den Menschen bewahrt haben, werden wieder Menschen; die welche bloss in sinnlicher Empfindung gelebt haben, Thiere. War ihre sinnliche Empfindung mit Zorn gepaart, so werden sie wilde Thiere, und der hierbei stattfindende Unterschied bedingt den Unterschied dieser Thiere; war sie von Begierde begleitet, von sinnlicher Lust am Begehren, so werden sie die unmässigen und gefrässigen Thiere. Bildete aber nicht einmal die Empfindung im Verein mit diesen Trieben den Grund ihres Lebens, sondern gesellte sich Trägheit der Empfindung hinzu, so werden sie gar Pflanzen; denn dieser vegetative Theil war bei ihnen allein oder doch vorwiegend thätig, ihre Sorge war darauf gerichtet Bäume zu werden. Diejenigen welche die Musik liebten, im übrigen aber lauter waren, lässt Plato zu Singvögeln werden; die welche als Könige unvernünftig regierten, zu Adlern, wenn nicht anderweitige Schlechtigkeit ihnen anhaftet; die welche sich mit ihren Gedanken in die Lüfte versteigen und sich ohne vernünftige Einsicht stets zum Himmel erheben, zu hochfliegenden Vögeln. Wer die bürgerliche Tugend besitzt, wird Mensch; wer sie aber in ungenügendem Grade besitzt, wird ein geselliges Thier, eine Biene oder dergleichen.

3. Wer ist nun der Dämon? Derselbe wie der hier bei uns [als eine Kraft unserer Seele]. Wer der Gott? Nun, der hier ist. Denn diese wirkende Kraft führt den einzelnen, da sie ja auch hier leitendes Princip ist. Ist sie nun der Dämon, dem der lebende Mensch anheim gegeben ist? Nein, sondern das Höhere. Denn dies steht oben an ohne thätig zu sein, thätig vielmehr ist das was nach ihm kommt. Zeigt sich nun das in uns Thätige darin dass wir sinnliche Menschen sind, so ist der Dämon das Geistige; leben wir aber nach dem Geistigen, so ist der Dämon das über diesem Stehende, welcher ohne selbst thätig zu sein dem thätigen Theil seinen Platz überlässt. Nun heisst es mit Recht, dass wir unsern Dämon wählen; denn entsprechend unserm Leben wählen wir die höhere, leitende Macht. Weshalb nun führt er [der Dämon][197] uns? Nun, wenn der Mensch sein Leben zurückgelegt hat, so kann er ihn nicht fuhren, aber vorher, während er lebte, kann er ihn führen; hat dagegen der Mensch aufgehört zu leben d.h. das seiner eigenthümlichen Thätigkeit entsprechende Leben abgelegt, so muss er einem andern die Thätigkeit überlassen. Dieser will nun fuhren und nachdem er die Oberhand genommen, lebt er selbst, indem er gleichfalls einen andern Dämon hat; lässt er sich aber durch die Stärke des schlechteren Charakters beschweren, so erhält jener [Dämon] seine Strafe. Dadurch gelangt auch der Schlechte zu einem schlechtern Leben, indem nämlich das in seinem Leben Wirksame ihn nach der Aehnlichkeit in ein Thierleben herabdrückt. Vermag er aber seinem obern Dämon zu folgen, so kommt er auch durch das ihm gemässe Leben nach oben, indem er den bessern Theil, zu dem er geführt wird, sich zum Vorstand wählt und danach wieder einen andern bis nach oben hin. Denn die Seele ist vieles, ja alles, das Obere wie das Untere bis hin zum Gesammtleben, und wir sind jeder einzelne eine intelligible Welt, durch die niedern Theile mit dieser Welt in Berührung, durch die obern mit der intelligiblen, und wir bleiben mit dem ganzen übrigen intelligiblen Theile oben, mit dem äussersten Ende desselben aber sind wir an das Untere gefesselt, indem wir gleichsam einen Abfluss von jenem an das Untere abgeben oder vielmehr eine Thätigkeit, ohne dass jener vermindert wird.

4. Ist dies nun immer im Körper? Nein. Denn wenn wir uns [dem Obern zu-] wenden, so wird auch dieses mit hingewendet. Und die Weltseele? Wird auch ihr Theil mit emporgehoben, wenn sie sich wendet? Nein, denn sie hat sich ihrem äussersten Theile garnicht zugewendet. Sie ist ja weder gekommen noch herabgekommen, sondern während sie unbeweglich bleibt, schliesst der Körper der Welt sich an sie an und lässt sich gleichsam von ihr bestrahlen, ohne dass er sie belästigt oder ihr Sorgen bereitet, da die Welt in sicherer Lage ruht. Wie aber? Hat denn die Welt garkeine Empfindung? ›Das Sehen hat sie nicht‹, sagt Plato, da sie auch keine Augen hat. Ebensowenig offenbar hat sie weder Ohren noch Nase noch Zunge. Wie aber? Hat sie gleich uns Mitempfindung an dem was in uns vorgeht? Nun, da alles in ihr in gleichmässiger Weise naturgemäss vor sich geht, so hat sie Ruhe, hat auch keine Lust. So ist denn auch das Vegetative in ihr zugegen als nicht zugegen, in gleicher Weise das Empfindungsvermögen. Doch über die Welt habe ich anderswo[198] gehandelt; für jetzt nur soviel davon als der Gegenstand der Frage sie berührte.

5. Aber wenn die Seele dort ihren Dämon und ihr Leben wählt, wie sind wir dann noch freie Herren über irgend eine Handlung? Nun, der Ausdruck ›dortige Wahl‹ bezeichnet in allegorischer Weise den Wollen und den Zustand der Seele als einen allgemeinen und überall gültigen. Aber wenn der Wille der Seele ein freier ist und derjenige Theil in ihr der herrschende ist, der in Folge des voraufgegangenen Lebens in ihr die Oberhand hat, so hart der Körper auf für sie Schuld an irgendwelchem Hebel zu sein. Denn wenn der Charakter der Seele früher ist als ihr Körper, wenn sie den Charakter hat, den sie sich gewählt hat, wenn sie, wie Plato sagt, ›ihren Dämon nicht wechselt‹: so wird weder der tugendhafte noch der böse Mensch hier unten. Ist nun der Mensch etwa beides der Möglichkeit nach, während er es in Wirklichkeit wird? Wie dann, wenn der tugendhafte Charakter einen Körper erhält, der schlechte umgekehrt? Nun, es vermögen wohl die Charaktere beider Seelen auf ihren bezüglichen Körper mehr oder weniger einzuwirken, da ja auch die übrigen äussern Glücksumstände nicht im Staude sind den ganzen Willen aus seiner Richtung zu bringen. Und wenn nun erzählt wird, wie zuerst die Loose kommen, dann die Musterbilder der verschiedenen Lebensweisen, darauf die Glücksumstände und was auf ihnen beruht, und wie die Seelen aus dem Vorhandenen die Lebensweisen nach ihren Charakteren wählen, so giebt er damit den Seelen eine um so grössere Freiheit das Gegebene nach ihren Charakteren zurechtzulegen. Denn dass dieser Dämon nicht ganz ausserhalb ist, während er andererseits nicht ganz mit uns verbunden noch in uns thätig ist, dass er unser ist soweit man von der Seele spricht, nicht unser soweit wir Menschen sind mit der und der Bestimmtheit das unter ihm stehende Leben führend, das bezeugen die Worte im Timäus, die nur bei dieser Auffassung frei von Widerspruch sind, nicht aber wenn der Dämon anders aufgefasst wird. Die Worte [es erhält] ›den Vollender dessen was einer gewählt hat‹ stimmen auch damit. Denn indem er den Vorsitz führt, lässt er uns weder viel tiefer in das Schlechtere hinabsteigen (sondern es ist blos thätig was unter ihm steht) noch über sich selbst noch zu gleicher Höhe emporsteigen. Denn der Mensch kann nichts anderes werden als wie er ist.

6. Wer ist nun der Tugendhafte? Doch wohl derjenige, der mit dem bessern Theil der Seele thätig ist. Oder wäre er[199] etwa nicht tugendhaft, wenn der Dämon ihm mitwirkend zur Seite stünde? Denn der Geist ist in diesem thätig. Er ist also selbst ein Dämon oder einem Dämon gemäss, und Gott ist sein Dämon. Steigt er nun etwa auch über den Geist empor, wenn das über dem Geist Befindliche für ihn sein Dämon ist? Weshalb dann nicht von Anfang an? Nun, wegen der Unruhe in Folge des Geborenwerdens. Dennoch aber ist auch vor der Vernunft die Bewegung vorbanden, die von innen her nach dem ihrigen strebt. Handelt er nun durchweg tugendhaft? Nicht durchweg, da die Seele sich in einem solchen Zustand befindet, dass sie unter den und den Verhältnissen so und so beschaffen ein solches Leben und einen solchen Willen hat. Von diesem in Rede stehenden Dämon heisst es nun, dass er uns in den Hades führt aber nicht mehr derselbe bleibt, wenn wir nicht wieder dasselbe wählen. Wie aber vorher? Er führt uns zum Gericht und kehrt nach der Wiedergeburt in dieselbe Gestalt zurück, die er vor der Geburt hatte. Dann ist er wie von einem andern Anfang an die Zwischenzeit bis zur spätem Geburt bei der gestraften Seele zugegen. Denn diese führen dann kein Leben, sondern büssen ihre Strafe ab. Aber ferner, stehen die Seelen, welche in Thierleiber eingegangen sind, hinter den andern zurück? Auch sie haben einen Dämon, aber einen schlechten oder einfältigen. Und die oberen? Von den oberen befinden sich die einen im sinnlich Wahrnehmbaren, die andern ausserhalb desselben. Die im sinnlich Wahrnehmbaren befindlichen sind entweder in der Sonne oder in einem andern von den Planeten, die andern sind in der Fixternsphäre, je nachdem die einzelne Seele hier unten geistig thätig gewesen ist. Denn man muss wissen, dass in unserer Seele nicht bloss die intelligible Welt ist, sondern auch ein mit dem der Weltseele gleichartiger Zustand. Da nun auch jene auf die unbewegliche und die Planeten-Sphäre nach ihren verschiedenen Kräften vertheilt ist, so darf man annehmen, dass auch unsere Kräfte jenen Kräften gleichartig sind, dass von jeder eine Thätigkeit ausgeübt wird und dass die frei gewordenen Seelen dort zu einem Stern kommen, welcher mit dem Charakter und der Kraft, die in ihm thätig und lebendig war, übereinstimmt, und dass sie entweder diesen zum entsprechenden Gott oder doch Dämon haben werden, oder dasjenige was über dieser Kraft befindlich ist – doch das muss näher untersucht werden: dass diejenigen also, die aus der sinnlichen Welt herausgekommen sind, die dämonische Natur überschritten haben sowie das ganze Schicksal des[200] Geborenwerdens und überhaupt den Aufenthalt in dieser sichtbaren Welt, so lange sie daselbst weilt, indem auch der Theil ihrer Wesenheit, der ein Gefallen hat am Werden, mit emporgetragen ist, den man mit Recht als diejenige Wesenheit bezeichnen kann, welche an den Körpern theilbar sich mit vervielfältigt und mit zertheilt mit den Körpern. Sie zertheilt sich aber nicht nach der Grösse. Denn sie ist dasselbe in allem ganz und wiederum eins, und indem sie sich so zertheilt, werden aus einem Thiere immer viele erzeugt, wie auch aus den Pflanzen; denn an den Körpern ist auch sie theilbar. In einigen Fallen, wo sie an demselben Körper bleibt, theilt sie [das Leben] mit, ähnlich wie die Natur in den Pflanzen; in andern Fällen, wo sie weggeht, theilt sie es vor ihrem Weggange mit, wie wenn in den vernichteten Pflanzen oder in den todten Thieren durch die Verwesung aus einem Körper viele erzeugt werden. Endlich [ist anzunehmen], dass auch aus dem Weltall die entsprechende Kraft hier unverändert mit wirksam ist. Wenn die Seele wieder hierher kommt, so hat sie entweder denselben oder einen andern Dämon gemäss dem Leben, welches sie sich bereiten wird. Sie beschreitet also zuerst mit diesem Dämon dieses All wie einen Kahn, dann wird sie von der Natur der Spindel ergriffen, wie Plato sie nennt, und wie in einem Schiffe auf einen Schicksalsplatz gestellt. Indem nun der Umschwung wie ein Wind den auf dem Schiffe Sitzenden oder Fahrenden umherführt, entstehen vielerlei und mancherlei Schauspiele, Veränderungen und Zufalle, wie auch auf dem Schiffe selbst theils von dem Schwanken des Schiffs theils indem sich der Reisende selbst aus eigenem Antrieb bewegt, den er durch seinen Aufenthalt auf dem Schiffe neben seiner besondern Art und Weise bekommen kann. Denn unter denselben Verhältnissen ist Bewegung, Willen und Thätigkeit keineswegs für alle dieselbe. Verschiedenen also widerfährt verschiedenes entweder aus denselben oder aus verschiedenen Zufallen, oder auch dasselbe verschiedenen, selbst wenn die Zufalle verschieden sind. Denn darin besteht das Schicksal.

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 196-201.
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