Achtes Buch.
Von der Natur
und dem Schauen und dem Einen oder
Vom Schauen

[257] 1. Wenn wir ohne uns vorläufig an eine ernsthafte Untersuchung zu wagen zuerst im Scherz sagten, alles strebe nach dem Schauen und blicke auf dieses Ziel, nicht bloss die vernünftigen, sondern auch die unvernünftigen Geschöpfe, sowohl die Natur in den Pflanzen als auch die diese erzeugende Erde; sodann, alles erlange dasselbe soweit es ihm möglich sei, und zwar gelange das eine so, das andere anders zum Schauen, manches in Wahrheit, manches vermöge einer Nachahmung und eines Bildes davon: würde wohl jemand das Paradoxe dieser Rede erträglich finden? Nun, da dieselbe bloss an uns gerichtet ist, so wird uns aus der scherzhaften Behandlung[257] unserer eigenen Angelegenheiten keinerlei Gefahr erwachsen. Also schauen auch wir wollt indem wir jetzt scherzen? Ja freilich, wir und alle die da scherzen thun dies und gerade hiernach strebend scherzen sie; und es lässt sich behaupten: wenn ein Rind oder ein Mann Scherz oder Ernst treibt, so treibt der eine den Ernst, das andere den Scherz um des Schauens willen, und jede Handlung richtet ihren Eifer auf das Schauen, die nothwendige indem sie das Schauen auch mehr nach aussen hin zieht, die sogenannte freiwillige indem sie dies zwar weniger thut, doch aber auch ihrerseits durch das Streben nach dem Schauen zu Stande kommt. Aber dies nachher. Jetzt wollen wir davon reden, welches Schauen der Erde selbst und den Bäumen und überhaupt den Pflanzen zukommt, und wie wir die Geschöpfe und Erzeugnisse der Erde auf die Thätigkeit des Schauens zurückführen, und wie die Natur, der man Vorstellungen und Begriffe abspricht, Schauen in sich selbst hat und was sie schafft eines Schauens wegen schafft, das sie nicht hat.

2. Dass hier nun weder Hände noch Füsse noch irgend ein angefügtes oder anerschaffenes Organ, wohl aber Materie nöthig ist, in der sie (die Natur) schaffen soll und die sie gestaltet, ist wohl jedem klar. Ebenso muss jede mechanische Ursache aus der schöpferischen Thätigkeit der Natur entfernt werden. Denn was für ein Stoss oder welche Hebelkraft bringt die bunte Mannigfaltigkeit von Färben und Gestalten hervor? Können ja auch die Wachsbildner, die man doch gemeinhin im Auge hat, wenn man der Natur eine derartige Thätigkeit zuschreibt, keine Farben hervorbringen, ohne dass sie Farben von aussen herzubringen zu ihren Werken. Allerdings aber, da man gewahrte, dass auch in jenen Künstlern etwas Bleibendes sein muss, nach welchem eben sie mittels der Hände ihre Werke verfertigen, musste man auch hinaufgehen bis zu einem Analogen in der Natur und bemerken, wie auch dort die Kraft, die nicht durch Hände hervorbringt, bleiben und zwar ganz bleiben muss. Denn sicherlich verlangt sie nicht das eine als bleibend, das andere als bewegt (denn die Materie ist das Bewegte, an ihr aber [der Natur] ist nichts Bewegtes), oder jenes wird nicht das zuerst Bewegende noch die Natur dieses sein.

Der Begriff freilich, möchte jemand sagen, ist unbewegt, sie selbst aber ist von dem Begriff verschieden und bewegt. Aber wenn sie die ganze Natur meinen, dann gehört auch der Begriff dazu; ist aber etwas von ihr unbewegt, so ist dies[258] wieder der Begriff. Nämlich Form muss sie sein, nicht aus Materie und Form; denn was soll ihr warme oder kalte Materie? Denn die Materie, welche zu Grunde liegt und bearbeitet wird, bringt diese Form entweder mit oder erhält eine Qualität, nachdem sie, an sich qualilätslos, der Einwirkung des Begriffs unterzogen worden. Denn nicht Feuer muss hinzukommen, damit die Materie Feuer werde, sondern Begriff. Dies ist auch ein nicht geringes Zeichen dafür, dass in den Thieren und Pflanzen die Begriffe das schöpferische Princip sind und die Natur ein Begriff ist, welcher einen andern Begriff schafft als Erzeugniss seiner selbst, indem er zwar dem Substrat etwas giebt, selbst aber bleibt. Der Begriff nun, der an der sichtbaren Gestalt erscheint, ist bereits der letzte, ist todt und kann keinen andern mehr erschaffen; der aber das Leben hat, ein Bruder des der die Gestalt hervorgebracht hat und selbst mit der nämlichen Kraft ausgerüstet, schafft in dem erzeugten Begriff.

3. Wie kann er nun schaffend und also schaffend etwa des Schauens theilhaftig werden? Nun, wenn er bleibend schafft und in sich selbst bleibend und Begriff ist, so möchte er wohl selbst Schauen sein. Denn die Handlung dürfte gemäss dem Begriffe vor sich gehen, verschieden offenbar vom Begriff; jedoch der Begriff, und gerade der, welcher mit der Handlung verbunden ist und sie leitet, dürfte nicht Handlung sein. Ist er also nicht Handlung, sondern Begriff, so ist er Schauen; und in der ganzen Sphäre der Begriffe ist der letzte aus dem Schauen und so als ein (an)geschauter selbst Schauen, der vor diesem liegende aber ist in seiner Gesammtheit ein doppelter: einerseits nicht wie Natur, sondern Seele, andererseits in der Natur und die Natur. Stammt denn nun auch dieser [letztere] aus dem Schauen? Allerdings aus dem Schauen, so jedoch, dass er sich selbst gewissermassen geschaut hat. Er ist nämlich das Product des Schauens und eines Schauenden. Wie hat aber sie selbst [die Natur] ein Schauen? Das begriffliche hat sie freilich nicht; ich nenne aber ›begriffliches Schauen‹ das Reflectiren über ihren eigenen Inhalt. Warum nicht, da sie doch Leben ist und Begriff und schöpferische Kraft? Doch wohl, weil das Reflectiren das Noch-nicht-haben ist. Wenn sie aber hat, so ist sie deshalb weil sie hat, auch schöpferisch thätig. Sie hat also was sie ist, und darin besteht für sie das Schaffen; sie ist aber Schauen und Anschauung, denn sie ist Begriff. Dadurch also, dass sie Schauen und Anschauung und Begriff ist, dadurch schafft sie auch insofern[259] sie dieses ist. Die schöpferische Thätigkeit demnach hat sich uns als ein Schauen erwiesen; sie ist nämlich das Resultat des Schauens, eines in sich verharrenden Schauens, das nichts anderes gethan, sondern dadurch dass es Schauen ist geschaffen hat.

4. Und wenn jemand sie [die Natur] fragte, weswegen sie schaffe, so könnte sie, Falls sie dem Fragenden Gehör geben und Rede stehen wollte, sagen: ›Du hättest nicht fragen sondern ebenfalls stillschweigend verstehen sollen, wie auch ich schweige und nicht gewohnt bin zu reden. Was denn verstellen? Dass das Gewordene ein Gegenstand meines in Schweigen versunkenen Schauens ist und dass mir, die ich aus einem sogearteten Schauen entstanden bin, eine schaulustige Natur zu Theil geworden und das schauende Vermögen in mir eine Anschauung schafft, wie die Geometer schauend ihre Figuren zeichnen; aber ich zeichne nicht sondern schaue, und so treten die Umrisse der Körper gleichsam von selber herausgleitend in's Dasein. Dabei ergeht es mir wie der Mutter und denen die mich erzeugten; denn auch jene sind aus dem Schauen, und ich bin aus ihnen entsprungen ohne dass sie etwas thaten, sondern dadurch dass sie höhere Begriffe sind und sich selbst schauen bin ich geboren.‹ Was will dies nun bedeuten? Dass die sogenannte Natur, welche Seele ist, nämlich ein Erzeugniss der früheren, kräftiger lebenden Seele, welche ruhend in sich selbst das Schauen hat ohne nach dem oberen oder niederen zu blicken, welche auf ihrem Standpunkt d.h. in ihrem eigenen Gleichgewicht und gleichsam Selbstbewusstsein verharrt, durch diese Einsicht und dieses Selbstbewusstsein die Dinge nach ihr schaute, soweit es ihr möglich, und nichts weiter suchte nach Vollendung einer glänzenden und reizvollen Anschauung. Und wenn jemand ihr ein Verstehen oder Bewusstsein beilegen will, so ist das kein solches Bewusstsein oder Verstehen wie wir es sonst den Dingen zusprechen, sondern verhält sich etwa wie das Bewusstsein des Schlafes zu dem des Wachenden. Denn sie ruht in dem Schauen ihrer eigenen Anschauung, die ihr daraus entstanden, dass sie in sich selbst und bei sich selbst bleibt und Anschauung ist, und zwar ein schweigendes wenngleich dunkleres Schauen. Denn ein anderes Schauen sieht deutlicher als sie, sie aber ist das Bild eines andern Schauens. Auf diese Weise ist denn auch das von ihr Erzeugte durchaus schwach, weil ein schwaches Schauen eine schwache Anschauung hervorbringt; bringen doch auch die Menschen, wenn sie zu schwach geworden zum[260] Schauen, den Schatten des Schauens und des Begriffs, die Handlung, hervor. Denn da das Vermögen des Schauens wegen Geistesschwäche nicht hinreicht, so können sie den Gegenstand des Schauens nicht hinlänglich erfassen und werden deshalb nicht befriedigt; indem sie aber denselben zu erschauen trachten, wenden sie sich zur Handlung, damit sie hier sehen was sie mit dem Verstande [Geist] nicht sehen konnten. Wenn sie denn also thätig sind, dann wollen sie selbst es schauen und auch die andern es schauen und empfinden lassen, wenn nämlich ihr Vorsatz bestmöglich zur That geworden ist. Ueberall werden wir demnach dies ausfindig machen: die schaffende Thätigkeit wie das Handeln ist eine Schwäche oder begleitende Folge des Schauens; eine Schwäche, wenn jemand nach vollbrachter Handlung weiter nichts hat, eine begleitende Folge, wenn er vor diesem etwas besseres zu schauen hat als das Erzeugniss seines Thuns. Denn wer zieht es vor, wenn er das Wahre schauen kann, dem Schattenbild des Wahren nachzugeben? Das bezeugen auch die minder begabten Kinder, die unfähig zur Wissenschaft und Speculation sich den Künsten und technischen Fertigkeiten zuwenden.

5. Doch nachdem wir über die Natur gesprochen und auseinandergesetzt haben, in welcher Weise die erzeugende Kraft ein Schauen ist, wollen wir übergehen zu der Seele die vor ihr ist und erklären, wie das Schauen dieser und die Lernbegierde und der Forschungstrieb und der Geburtsschmerz in Folge der Erkenntniss und die eigene Fülle veranlasst hat, dass sie, selbst ganz Anschauung geworden, eine andere Anschauung hervorbrachte, wie z.B. die einzelne Kunst, wenn sie völlig geworden, eine andere gleichsam kleine Kunst hervorbringt in dem Schüler, der Bilder von allem in sich trägt, die im übrigen freilich nur wie dunkle und sich selbst zu helfen unvermögende Anschauungen sind. Der erste Theil derselben nun (der Seele), der oben ist und von oben her stets erfüllt und erleuchtet wird, bleibt dort, derjenige aber, der durch die erste Theilnahme an dem das theilgenommen einen Antheil gewinnt, geht fortwährend als Leben aus Leben hervor; denn die Lebensenergie erstreckt sich überall hin und es giebt keinen Ort wo sie fehlt. Hervorgehend jedoch lässt sie den früheren Theil ihrer selbst da wo sie ihn zurückgelassen verbleiben; denn wenn sie (wirklich) den früheren Theil verlassen hat, wird sie nicht mehr überall sein, sondern da wo sie aufhört allein. Nicht gleich indessen ist das Hervorgehende dem Gebliebenen. Wenn sie also überall hin sich[261] erstrecken muss und kein Ort unerfüllt bleibt von ihrer Wirksamkeit und immer das Frühere etwas anderes ist als das Spätere; wenn ferner die Wirksamkeit aus dem Schauen oder dem Handeln fliesst, das Handeln aber noch nicht da war, denn es kann unmöglich vor dem Schauen stattfinden: so muss das eine zwar schwächer sein als das andere, insgesammt aber Schauen, daher muss das was ein dem Schauen gemässes Handeln zu sein scheint, das schwächste Schauen sein; denn das Erzeugte muss [dem Erzeugenden] stets gleichartig sein, schwächer allerdings dadurch dass es beim Herabsteigen hinschwindet. Geräuschlos freilich geht alles zu, da kein sichtbares oder äusseres Schauen oder Handeln erforderlich ist: und auch die schauende Seele und das also Schauende, als das mehr nach aussen Gewandte und anders Geartete als das vor derselben [der Seele] Liegende, schafft das nach derselben Liegende, kurz das Schauen schafft das Schauen. Denn auch eine Grenze hat weder das Schauen noch die Anschauung. Deshalb ist sie auch überall. Denn wo sollte sie nicht sein? Ist sie doch in jeder Seele das nämliche, denn sie ist nicht umschrieben durch Grösse. Freilich ist es nicht gleicher Weise in allen Dingen, so auch nicht in jedem Theil der Seele auf ähnliche Weise. Deshalb giebt der Lenker den Rosen was er geschaut hat, und nachdem die es empfangen, stecken sie sich doch wohl offenbar nach dem was sie gesehen haben, denn sie haben nicht alles empfangen. Sollten sie aber sich streckend handeln, so handeln sie dessentwegen, nach dem sie sich strecken. Das war aber Schauen und Anschauung.

6. Das Handeln geschieht also um des Schauens und der Anschauung willen; darum ist auch für die Handelnden das Schauen das Ziel, und was sie gleichsam auf directem Wege nicht erlangen konnten, das suchen sie auf Umwegen zu erreichen. Wiederum, wenn sie erlangt haben was sie wünschen, so ist offenbar das was sie geschehen wissen wollten (nicht damit sie es nicht erkännten, sondern damit sie es erkännten und als gegenwärtig in der Seele sähen) das vorgesetzte Ziel des Schauens. Handeln sie ja doch auch des Guten wegen, und zwar nicht damit sie es ausserhalb ihrer selbst oder überhaupt nicht haben, sondern damit sie das Gute aus der Handlung haben. Wo aber ist dies? In der Seele. So ist also die Handlung wieder in Schauen umgeschlagen, denn was sie in der Seele, der Begriff ist, ergreift, was wäre es anders als ein schweigender Begriff? Und zwar um so mehr je mehr sie [die Seele] Begriff ist. Denn dann hat sie Ruhe und sucht[262] nichts mehr, da sie ja erfüllt ist, und das Schauen, das sich in einem solchen Vertrauen auf den Besitz befindet, ruht nach innen gewandt. Und je lebendiger die Ueberzeugung, um so ruhiger ist auch das Schauen, (auf welchem Wege es dem Einen näher führt) und das Erkennende vereinigt sich jemehr es erkennt (denn nunmehr muss Ernst gemacht werden) mit dem Erkannten. Denn wenn es zwei sind, so wird das eine dies, das andere jenes sein; es liegt dann gleichsam eins neben dem andern und dieses doppelte hat sich noch nicht mit einander vereinigt; das wäre gerade als wenn die in der Seele vorhandenen Begriffe nichts wirkten. Daher darf der Begriff nichts äusserliches sein, sondern muss suchen eins zu werden mit der Seele des Lernenden, bis er denselben sich assimilirt hat. Die Seele nun, wenn sie mit ihm [dem Begriff] sich vereinigt und in die gleiche Stimmung versetzt hat, dann bringt sie hervor und geht über in Action; denn was sie von Anfang an hatte, das lernt sie begreifen und durch das Heraustreten in die Action wird sie gleichsam eine andere als sie selbst und denkend blickt sie wie ein Fremdes auf ein Fremdes; und doch war auch sie Begriff und gewissermassen Geist, der aber ein anderes schaute. Denn sie ist nicht erfüllt, sondern hat Mangel im Verhältniss zu dem was vor ihr liegt; indessen schaut auch sie ruhig auf das was sie hervorbringt. Denn was sie nicht hervorgebracht hat, bringt sie nicht mehr hervor, was sie aber hervorbringt, bringt sie in Folge des Mangels hervor zur Betrachtung, indem sie begreifen lernt was sie hat. In dem Bereich der Handlung aber passt sie das was sie hat dem Aeussern an. Und dadurch dass sie in höherem Grade hat als die Natur ist sie ruhiger, und durch dieses Mehr auch beschaulicher; dadurch aber dass sie nicht vollkommen hat strebt sie in höherem Maasse nach dem Begreifen des Geschauten und nach dem Schauen, das man aus Betrachtung gewinnt. Und wenn sie ihren ursprünglichen Zustand verlässt und in andere Dinge eingeht, darauf wieder zurückkehrt, so schaut sie mit dem verlassenen Theil ihrer selbst; die in sich beharrende Seele aber thut dies weniger. Deshalb ist der vollkommene Weise bereits identisch mit dem Begriff und er bringt sein Wesen auch andern gegenüber zur Darstellung; sich selbst gegenüber aber ist er Schauen. Denn schon wendet sich dieser zu dem Einen und zu dem Ruhenden nicht bloss von den Aussendingen, sondern auch in Bezug auf sich selbst, kurz alles [an ihm] ist nach innen gekehrt.

7. Dass also alles wahrhaft Seiende aus dem Schauen[263] und Schauen ist, sowie das aus jenem durch sein Schauen Gewordene Anschauung, theils für die sinnliche Wahrnehmung theils für die Erkenntniss oder Vorstellung; dass sodann die Handlungen die Erkenntniss zum Ziel haben, und das Streben nach Erkenntniss und die Zeugungen vom Schauen aus auf Form und Anschauung abzielen, überhaupt alles und jedes als Nachahmung der schaffenden Mächte Anschauungen schafft und Formen; dass ferner die werdenden Daseinsformen als Nachahmungen des Seienden die schöpferischen Kräfte zeigen, wie sie sich zum Ziel setzen nicht die schaffende noch die handelnde Thätigkeit, sondern das Resultat derselben zum Behufe des Schauens, und dass dieses auch die Gedanken sehen wollen und noch früher die sinnlichen Wahrnehmungen, deren Ziel die Erkenntniss ist; dass endlich noch vor diesem die Natur die Anschauung, welche in ihr sich findet, und den Begriff schafft in der Vollendung eines andern Begriffs: das leuchtete theils von selbst ein, theils hat es die bisherige Entwickelung nachgewiesen. Doch auch das ist klar, wie nothwendiger Weise, da das erste im Schauen besteht, auch das übrige alles hiernach streben muss, wenn anders als das Ziel für alles das Princip gelten darf. Sind ja auch wenn die Thiere zeugen die Begriffe in ihnen das Bewegende, es ist dies eine Thätigkeit des Schauens und gleichsam ein Wehe nach Erzeugung vieler Formen und vieler Anschauungen, nach Erfüllung des Alls mit Begriffen, nach einem wo möglich ewigen Schauen. Denn etwas ins Leben rufen heisst Formen schaffen d.h. alles mit dem Schauen erfüllen. Auch die Fehler im Bereich des Geschehens so gut wie des Handelns sind Abirrungen der Schauenden von dem Gegenstand des Schauens, und der schlechte Künstler gilt als ein Mann, der hässliche Formen hervorbringt. Desgleichen gehören die Liebenden unter die Zahl der Schauenden und nach der Idee Strebenden.

8. Hiermit also hat es diese Bewandtniss. Wenn aber die Theorie weiter hinaufsteigt von der Natur zur Seele und von dieser zum Geist, und das Schauen [in den einzelnen Momenten] immer inniger wird und eins mit dem Schauenden, und in der vollkommenen Seele die Erkenntniss als welche dem Geist zustrebt zusammenfällt mit dem Object: so ist offenbar in diesem beides eins, nicht durch eine [gesuchte] Vereinigung, sondern dem Wesen nach, durch die Identität von Denken und Sein. Denn beides ist nicht mehr verschieden, sonst müsste es wieder ein anderes geben was über diese Verschiedenheit hinaus liegt. Hier also muss beides in Wahrheit[264] eins sein; dies ist aber lebendiges Schauen, nicht eine Anschauung in einem andern [Gegenstand]; denn was in einem andern lebt, ist nicht das Lebendige selber. Soll nun eine Anschauung oder ein Gedanke leben, so darf es kein Leben sein wie das andere vegetative oder sensitive oder psychische. Gedanken freilich sind gewissermassen auch die andern [Arten des Lebens], aber das eine [Leben] ist ein vegetativer, das andere ein sensitiver, das dritte ein psychischer Gedanke. Wie denn Gedanken? Weil es Begriffe sind. Und jedes Leben ist in gewissem Sinne ein Gedanke, aber der eine dunkler als der andere, wie auch das Leben. Dieses helle und erste Leben aber und der erste Geist sind eins. Ein erster Gedanke also ist das erste Leben und das zweite Leben ein zweiter Gedanke und das letzte Leben ein letzter Gedanke. Jegliches Leben dieser Art also ist auch Gedanke. Nun können die Menschen vielleicht Unterschiede des Lebens bald angeben, aber Unterschiede des Gedankens geben sie nicht, sondern die einen nennen sie Gedanken, die andern überhaupt nicht, weil sie sich überbaupt nicht darum kümmern, was das Leben eigentlich ist. Indessen muss gerade darauf hingewiesen werden, dass auch hier wieder die Untersuchung alles Seiende als ein mitfolgendes Resultat des Schauens aufzeigt. Wenn demnach das wahrste Leben durch den Gedanken Leben ist, dieses aber dasselbe ist wie der wahrste Gedanke, so lebt der wahrste Gedanke, und das Schauen und die derartige Anschauung ist ein Lebendiges und Leben, und eins sind die zwei. Da nun dies beides eins ist, wie kann dieses Eine wieder vieles sein? Eben weil nicht ein [blosses] Eins schaut. Denn wenn auch das Eine anschaut, so thut es dies doch nicht als Eins; widrigenfalls entsteht nicht Geist. Vielmehr nachdem es angefangen als Eins, blieb es nicht wie es angefangen hatte, sondern wurde unvermerkt vieles, gleichsam beschwert, und entwickelte sich indem es alles haben wollte, wenn es auch besser für dasselbe war, dies nicht zu wollen; denn es wurde ein Anderes; ähnlich wie ein Kreis, der sich entfaltet, Figur wird und Fläche und Peripherie und Centrum und Linien mit einem oben und unten; das bessere ist das Woher, das schlechtere das Wohin. Denn das Woher war nicht so beschaffen wie das Woher und Wohin [Ausgang und Ende], noch auch das Woher und Wohin wie das Woher allein. Andererseits ist der Geist nicht eines Einzigen Geist sondern All-Geist, als All-Geist aber auch Geist von allem. Demgemäss muss, weil er All-Geist ist und Geist von allem, ein Theil von ihm ganz und alles sein;[265] widrigenfalls wird er einen Theil haben der nicht Geist ist und zusammengesetzt sein aus Nicht-Geistern, wird er ein zusammengetragener Haufe sein, der da erwartet Geist aus allem zu werden. Deshalb ist derselbe auch unendlich, und wenn etwas von ihm ausgeht, so wird weder das von ihm Ausgehende verringert, da auch dies das Ganze ist, noch jener von dem es ausgeht, da er keine Zusammensetzung war aus Theilen.

9. Dieser also ist so beschaffen; darum ist er nicht ursprünglich, sondern es muss noch etwas jenseits desselben geben, worauf auch die bisherige Untersuchung hinaus wollte, zunächst schon weil die Vielheit später ist das Eine; und dieser ist Zahl, das Princip der Zahl aber und einer solchen Zahl ist das wahrhaft Eine; ferner ist dieser Intelligenz und Intelligibles zugleich, folglich zwei zugleich. Wenn aber zwei, so muss man das vor der Zwei ergreifen. Was ist das? Intelligenz allein? Aber mit jedem Intellect ist das Intelligible verbunden; wenn nun das Intelligible nicht mit verbunden sein darf, so wird jenes auch nicht Intellect sein können. Wenn es also Intelligenz nicht ist sondern sich der Zweiheit entzieht, so muss das was früher ist als diese Zweiheit jenseit der Intelligenz liegen. Was hindert denn, dass dies das Intelligible sei? Nun dies, dass auch das Intelligible mit dem Intellect verbunden ist. Wenn es nun weder der Intellect noch das Intelligible sein dürfte, was möchte es dann sein? Dasjenige, werden wir sagen, woraus der Intellect und das mit ihm verbundene Intelligible entstanden ist. Was ist dies nun und in welcher Gestalt werden wir es uns vorstellen? Denn es wird ja wieder ein Denkendes oder Nichtdenkendes sein. Nun ist aber ein Denkendes der Intellect, das Nichtdenken hingegen wird nicht einmal seiner selbst inne werden; also was ist jenes erhabene Wesen? Denn selbst wenn wir sagten, es sei das Gute und sei das Einfachste, werden wir nichts klares und deutliches sagen, obwohl wir die Wahrheit sagen, solange wir nicht einen Stützpunkt für unser Denken haben. Und wiederum, da das Erkennen der andern Dinge nur durch die Intelligenz geschieht und wir nur durch die Intelligenz etwas Intelligentes erkennen können, welch ein Aufschwung des intuitiven Vermögens möchte hinreichen zum Erfassen dessen, was die Natur der Intelligenz überschritten hat? Darauf werden wir antworten: man muss es, so gut es geht, durch eine Analogie in uns bezeichnen. Denn es ist auch in uns etwas von ihm, oder vielmehr es giebt keinen Punkt wo es nicht ist für diejenigen, welchen vergönnt ist an ihm theilzuhaben.[266] Denn wenn du an das überall Befindliche das was empfangen kann an irgend einem Punkte heranbringst, empfängst du von dort her. Z.B. wenn eine Stimme eine Einöde erfüllt, in welcher sich ausserdem Menschen befinden, wirst du an jedem Punkte wohin du dein Ohr wendest die Stimme ganz in dich aufnehmen und auch wieder nicht ganz. Was werden wir nun in uns aufnehmen, nachdem wir den Geist herzugebracht haben? Nun, der Geist muss gleichsam hinter sich zurückweichen und mit seinem Doppelantlitz sich gleichsam an die Dinge die hinter ihm sind hingeben und auch dort, wenn er jenes sehen will, nicht ganz Geist sein. Denn er ist selbst das erste Leben, die wirkende Kraft im Hindurchgehen durch das All; mit dem Hindurchgehen aber meine ich nicht, dass er hindurch geht sondern hindurchgegangen ist. Wenn er nun Leben ist und Hindurchgehen und alles genau und nicht nur so im allgemeinen hat (denn sonst würde er es unvollkommen und ungegliedert haben), so muss er nothwendig aus einem andern sein, was nicht mehr in der Entfaltung ist sondern Princip der Entfaltung und Princip des Lebens und Princip des Geistes wie des Alls. Denn nicht Princip ist das All, sondern aus dem Princip ist das All, es selbst aber ist nicht mehr das All noch etwas vom All, sondern damit es das All erzeuge und damit es nicht Vielheit sei, das Princip der Vielheit; denn das Erzeugende ist überall einfacher als das Erzeugte. Wenn nun dieses den Geist erzeugt hat, so muss es einfacher sein als der Geist. Wenn aber jemand meinte, es sei das Eine und das All, so wird jenes doch wohl ein jedes einzelne von allem sein oder das Ganze zusammen. Ist es nun alles zusammen als eine Vereinigung, so wird es später sein als das All; ist es aber früher als das All, so wird etwas anderes als das All, etwas anderes es selbst sein als das All; ist es aber zugleich es selbst und das All, so wird es nicht Princip sein. Es muss aber selbst Princip und vor dem All sein, damit nach ihm auch das All sei. Was aber das ›jedes einzelne von allem‹ betrifft, so wird es erstlich mit jedem beliebigen identisch, sodann alles zugleich sein und keinen Unterschied machen. Und so ist es nichts von dem All sondern vor dem All.

10. Aber als was? Als die Möglichkeit aller Dinge; wenn die nicht wäre, so wäre auch das All nicht, noch Geist das erste und allumfassende Leben. Was aber über das Leben hinaus liegt, ist Ursache des Lebens. Denn nicht die Wirklichkeit des Lebens d.h. das All ist das erste Leben, sondern dieses ist selbst wie aus einer Quelle hervorgeströmt. Denke[267] dir nämlich eine Quelle, die keinen Anfang weiter hat, sich selbst aber den Flüssen mittheilt ohne dass sie erschöpft wird durch die Flüsse, vielmehr ruhig in sich selbst beharrt; ihre Ausflüsse hingegen denke dir wie sie vor ihrer Trennung nach verschiedenen Richtungen noch zusammen sind, doch aber alle gleichsam schon wissen, wohin sie ihre Fluthen ergiessen werden; oder stelle es dir vor wie das Leben eines gewaltigen Baumes, welches das All durchströmt indem der Anfang bleibt und nicht im Ganzen zerstreut wird, gleichsam fest gegründet in der Wurzel. Dieses also giebt das gesammte reiche Leben dem Baume, bleibt aber selbst, da es nicht die Fülle ist sondern Princip der Fülle. Kein Wunder. Vielmehr wäre es ein Wunder, wie die Menge aus dem entstand was nicht Menge war, wenn nicht vor der Menge die Nicht-Menge war. Denn nicht zertheilt sich das Princip in das Ganze; denn hätte es sich zertheilt, so würde es auch das Ganze vernichtet haben, ja dieses würde nicht einmal geworden sein, wenn nicht das Princip in sich selbst als ein anderes bliebe. Deshalb findet auch überall eine Zurückführung auf das Eine statt. Und in jedem einzelnen ist ein Eins, auf das du es zurückführen kannst, so auch das All auf das Eine vor ihm, das noch nicht einfach Eins ist, bis man zu dem einfach Einen gekommen; dieses aber geht nicht mehr auf ein anderes zurück. Erfasst man aber das Eine der Pflanze d.i. das bleibende Princip und das Eine des Thiers und das Eine der Seele und das Eine des Alls, so erfasst man jedesmal das mächtigste und das (allein) werthvolle; und wenn man das Eine des wahrhaft Seienden, sein Princip und seine Quelle und seine Kraft erfasst, dann sollten wir ungläubig sein und ein Nichts zu haben wähnen? Allerdings ist es nichts von dem, dessen Princip es ist, so zwar, dass nichts von ihm ausgesagt werden kann, nicht Sein, nicht Wesenheit, nicht Leben: es ist über diesem allen. Fasst du es aber auf nachdem du das Sein weggenommen, so wirst du dein Wunder haben, und dich aufschwingend zu ihm und es erfassend in seinen Wirkungen ruhe aus und suche es mehr zu verstehen durch Intuition es begreifend, so jedoch dass du seine Grösse überschaust in dem was nach ihm und um seinetwillen ist.

11. Die Sache lässt sich auch so betrachten. Da nämlich der Geist ein Sehen ist und zwar ein sehendes Sehen, so wird er eine zur Wirklichkeit gelangte Möglichkeit sein. Folglich wird das eine an ihm Materie, das andere Form sein, wie ja auch das leibliche Sehen ein doppeltes hat; vor dem Sehen[268] war's sicherlich eins. Das Eine ist also zwei geworden und die Zwei eins. Für das leibliche Sehen nun kommt die Fülle von der sinnlichen Welt und gleichsam die Vollendung, für das Sehen des Geistes aber bringt das Gute die Erfüllung. Denn war er selbst das Gute, wozu brauchte er dann überhaupt zu sehen oder thätig zu sein? Denn das übrige hat im Umkreis des Guten und um des Guten willen seine Wirklichkeit, das Gute aber bedarf nichts; deshalb wird es nichts haben als sich selbst. Wenn du also das Wort ›gut‹ aussprichst, so denke nichts weiter hinzu; denn wenn du etwas hinzufügst, wirst du es in dem Grade als du irgend etwas hinzugefügt hast ärmer machen. Darum sage auch nicht einmal das Denken von ihm aus, damit du es nicht zu einem andern und so zu zweien machst, Geist und Gutes. Denn der Geist bedarf des Guten, das Gute aber nicht jenes; daher wird er auch nach Erlangung des Guten gutartig und vollendet sich durch das Gute, indem die Form von dem Guten kommt das ihn gutartig macht. In gleicher Weise aber wie man an ihm die Spur des Guten sieht, muss man sich sein wahrhaftes Urbild denken, indem man es sich nach der an dem Geist erscheinenden Spur vergegenwärtigt. Diese nun an ihm befindliche Spur desselben (des Guten) giebt sich dem darauf sehenden Geist zu eigen; so ist denn im Geiste das Streben und immerfort strebt und immer erlangt er, dort aber (im Guten) strebt er weder – denn wonach? – noch erlangt er, denn er strebte ja garnicht. Dennoch ist das Gute auch nicht Geist; denn in diesem ist ein Streben und ein Hinneigen zur Form desselben. Da also der Geist schön ist und das schönste von allem, der da wohnt in einem reinen Licht und reinen Strahlenglanze und die Natur des Seienden umfasst hat, von dem auch diese schöne Welt eine Abschaltung und ein Abbild ist, der da ferner wohnt in aller leuchtenden Herrlichkeit, weil nichts ungeistiges noch dunkles noch maassloses in ihm ist, kurz der ein seliges Leben lebt: so würde sicherlich Staunen den gefangen halten, der ihn erblickt und wie sich's gebührt sich in ihn versenkt und mit ihm sich vereint hätte. Wie aber der, welcher im Aufblick zum Himmel den Glanz der Sterne geschaut hat, den Schöpfer in's Herz lässt und sucht, so muss auch wer die intelligible Welt erschaut und betrachtet und bewundert hat, suchen nach dem Schöpfer jener und forschen, wer sie so zu Stand und Wesen gebracht, oder wo und wie der Vater eines solchen Kindes ist, der Vater des Geistes, eines schönen Sohnes und von ihm erzeugten[269] Sohnes. Durchaus jedoch ist jener weder der Geist noch der Sohn, sondern sowohl vor dem Geist als dem Sohne; denn nach ihm kommt Geist und Sohn, welche der Erfüllung und des Denkens bedürfen; freilich nahe ist es dem Mangellosen und des Denkens nicht Bedürfenden, und es hat wahrhafte Fülle und wahrhaftes Denken, weil es sie ursprünglich hat. Das darüber hinaus Liegende aber ist weder bedürftig noch hat es einen Besitz; sonst wäre es nicht das Gute.

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 257-270.
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