Achtes Buch.
Ueber das Herabsteigen der Seele in den Körper

[122] 1. Oft wenn ich aus dem Schlummer des Leibes zu mir selbst erwache und aus der Aussenwelt heraustretend bei mir[122] selber Einkehr halte, schaue ich eine wundersame Schönheit: ich glaube dann am festesten an meine Zugehörigkeit zu einer bessern und höhern Welt, wirke kräftig in mir das herrlichste Leben und bin mit der Gottheit eins geworden, ich bin dadurch, dass ich in sie hineinversetzt worden, zu jener Lebensenergie gelangt und habe mich über alles andere Intelligible emporgeschwungen; steige ich dann nach diesem Verweilen in der Gottheit zur Verstandesthätigkeit aus der Vernunftanschauung herab, so frage ich mich, wie es zuging, dass ich jetzt herabsteige und dass überhaupt einmal meine Seele in den Körper eingetreten ist, obwohl sie doch das war als was sie sich trotz ihres Aufenthaltes im Körper, an und für sich betrachtet, offenbarte. – Wenn nämlich Heraklit, der uns zu dieser Untersuchung veranlasst, die Nothwendigkeit eines Wechsels der Gegensätze behauptet und von einem aufwärts und abwärts führenden Wege spricht, indem er sagt: »im Wechsel liegt eine Erholung« und »Ermüdung bringts, in derselben Anstrengung und derselben Botmässigkeit zu verharren«: so hat er ein Räthsel aufgegeben und sich nicht um einen für uns deutlichen begrifflichen Ausdruck bemüht, so dass man bei ihm ungefähr dieselbe Untersuchung anstellen muss, durch die er die Lösung fand. Und wenn Empedokles behauptet, es sei Gesetz für die sündigen Seelen hierher herabzusinken und er selbst sei abtrünnig von Gott geworden und hierher gekommen, um dem wüthenden Streite anheimzufallen: so hat er nur soviel enthüllt als bereits Pythagoras, meine ich, und seine Anhänger in ihren orakelhaften Ausdrücken über dies und vieles andere ausgesprochen hüben. Jener konnte auch wegen der poetischen Redeform nicht deutlich sein. So bleibt uns der göttliche Plato übrig, der viele herrliche Aussprache über die Seele im allgemeinen gethan wie, über ihr Herabsteigen vielfach in seinen Werken gesprochen, so dass wir Hoffnung haben, von ihn eine bestimmte Auskunft zu erhalten. Was sagt nun dieser Philosoph? Offenbar äussert er sich nicht überall in derselben Weise, so dass man leicht und bequem des Mannes Sinn durchschauen könnte, sondern überall zeigt er seine Geringschätzung der gesammten sinnlichen Welt und tadelt die Gemeinschaft der Seele mit dem Körper und behauptet, die Seele liege gefesselt und begraben in ihm und es liege eine grosse Wahrheit in dem Wort der Mysterien, nach welchem die Seele sich in der Gefangenschaft befindet; und die bei ihm erwähnte Höhle scheint mir ebenso wie die Grotte beim Empedokles dieses Weltall zu bedeuten, wenigstens nennt[123] er dort das Emporsteigen zum Intelligiblen eine Lösung von den Fesseln und ein Aufsteigen aus der Höhle für die Seele. Im Phädrus bezeichnet er den Verlust des Gefieders als die Ursache des Herabsteigens hierher; und darnach führen die Weltperioden eine emporgestiegene Seele wieder hierher zurück, während andere in Folge von Urtheilssprüchen, Entscheidungen durchs Loos, Geschicken und Nothwendigkeiten hierher herabsteigen müssen. Tadelt er also in allen diesen Stellen das Herabsteigen der Seele in den Körper, so äussert er sich im Timäus bei der Auseinandersetzung über dieses Allhier lobend über die Welt und nennt sie einen glückseligen Gott und sagt, die Seele sei ihr von dem Schöpfer, der gut war, verliehen worden in der Absicht, damit dies All vernunftbegabt sei; denn vernunftbegabt musste es sein, ohne Seele konnte dies aber nicht geschehen. Also die Seele des Alls wurde um dieses Zwecks willen von Gott in dasselbe gesandt und ebenso die jedes einzelnen von uns, damit es vollkommen sei; es musste nämlich alle die Arten lebender Wesen, die in der intelligiblen Welt bestanden, gerade so auch in der sinnlichen Welt geben.

2. Indem wir also seine Meinung über unsere Seele kennen zu lernen suchten, sehen wir uns mit Nothwendigkeit zu einer Untersuchung über die Seele im allgemeinen geführt, wie sie ihrer Natur nach mit einem Körper in Verbindung tritt; ferner über die Natur der Welt, wie wir diese uns zu denken haben, in welcher eine Seele sei's freiwillig oder gezwungen oder sonstwie wohnt; endlich über den Schöpfer, ob er die Seele des Alls nach Gebühr und Recht oder an einen schlechteren Platz gestellt oder vielleicht in einen ähnlichen Zustand wie die unsrigen sind versetzt habe, die bei der ihnen obliegenden Regierung schlechter Körper tief in dieselben hineintauchen mussten, wenn sie wirklich die Herrschaft ausüben wollten, weil sich sonst einerseits jeder einzelne Theil zerstreuen und jedes Element den ihm naturgemässen Ort aufsuchen würde – in dem All befindet sich alles naturgemäss an seinem Orte – andererseits diese Körper einer vielfachen und lästigen Fürsorge bedürfen, da sie so vielen störenden Einflüssen von aussen her ausgesetzt und immer in Noth sind und jeglicher Art von Hülfe in ihrer vielfach schwierigen Lage bedürfen. Dagegen bedarf das All in seiner Vollkommenheit und unbedingten Selbstgenügsamkeit, für welches es nichts seiner Natur Zuwiderlaufendes giebt, gewissermassen nur eines kurzen Gebotes; demgemäss befindet sich seine Seele immer[124] so wie sie es ihrer Natur gemäss will, ohne den Begierden oder irgendeiner Affection unterworfen zu sein; es findet hier eben kein Abgang oder Zugang statt. Darum behauptet er auch von unserer Seele, sie gelange durch die Vereinigung mit jener vollkommenen auch ihrerseits zur Vollkommenheit, schwebe in erhabener Höhe und ordne regierend das Weltall, und wenn sie sich nicht absondere um in die Körper einzutreten und irgendeinem anzugehören, dann werde sie ihrerseits ebenso wie die Allseele das All mit Leichtigkeit regieren, da es ja nicht unter allen Umständen ein Uebel für die Seele sei, einem Körper dir Fähigkeit des Wohlseins und des Seins überhaupt zu verleihen, deshalb nämlich weil nicht jede Art von Fürsorge um das Schlechtere dem Fürsorgenden das Beharren in dem besten Zustande raubt. Es giebt nämlich eine zwiefache Sorge ums All, eine allgemeine, welche durch thatlosen Befehl in königlicher Obmacht ordnend und schmückend wirkt, und eine specielle, die bereits eine gewissermassen selbst Hand anlegende Thätigkeit ausübt und durch die Berührung mit dem Bewirkten das Bewirkende mit der Natur des Bewirkten erfüllt. Wenn es nun heisst, dass die göttliche Seele in der angegebenen Weise den ganzen Himmel immer regiere, indem sie mit ihrem edleren Theile über ihm erhaben bleibt und nur ihr unterstes Vermögen in sein Inneres hinabsenkt: so dürfte damit nicht mehr ein Vorwurf gegen Gott ausgesprochen sein des Inhalts, dass er die Allseele in ein schlechteres Wesen hineingesetzt habe, und thatsächlich ist dadurch die Seele nicht des in ihrer Natur liegenden Wesens beraubt, sie die aus ihrem ewigen Wesen diese Obliegenheit hat und stets haben wird, eine Obliegenheit, die ihr unmöglich gegen ihre Natur zukommen kann, weil sie ja ohne Aufhören und Anfang immerdar für sie besteht. Wenn er ferner den Seelen der Gestirne dasselbe Verhaften zu ihren Körpern zuschreibt wie dem All – denn er befasst ihre Körper mit in die Umschwünge der Allseele – so dürfte er damit auch die diesen zukommende Glückseligkeit gewahrt haben. Zwei Umstände sind es ja, derentwegen man an der Gemeinschaft der Seele mit dem Körper Anstoss nimmt, einmal, dass sie zu einem Hinderniss wird für die Erfassung der Begriffe, sodann, dass sie die Seele mit Lust und Begierden und Trauer erfüllt; und dennoch dürfte keins von beiden einer Seele zustossen, welche sich nicht in das Innere des Körpers getaucht hat, nicht irgendeinem zu eigen gehört, nicht in Abhängigkeit von jenem gerathen ist, sondern wo umgekehrt jener von ihr abhängt und noch dazu ein solcher[125] ist, dass er weder irgendeines bedarf noch in irgendeiner Beziehung Mangel leidet, so dass auch die Seele nicht mit Begierde oder Furcht erfüllt wird. Es giebt eben garkeine Gefahr, die sie für einen Körper solcher Art befürchten müsste, kein Geschäft für sie, das ihr Herabsinken bewirkte und sie von der erhabenen und seligen Anschauung herabführte; sondern sie weilt beständig in jenen Regionen, indem sie mit einem thatenlosen Vermögen dieses Weltall ordnet und schmückt.

3. Was aber die menschliche Seele betrifft, die wie es heisst in einem Körper Uebel und Mühseligkeiten aller Art erduldet, indem sie in Qualen, Begierden, Furcht und die andern Uebel geräth, für welche der Körper eine Fessel und ein Grab, die Welt eine Höhle und Grotte ist, so haben wir jetzt noch zu zeigen, dass diese Meinung mit der obigen darum nicht im Missklang steht, weil die Ursachen des herabsteigens nicht dieselben sind. Wie min also alle Vernunft sich an dem Orte des Intelligiblen in ihrer Gesammtheit und Ganzheit befindet, worunter wir eben die intelligible Welt verstehen, es andererseits aber auch die in dieser enthaltenen intellectuellen Vermögen und die vernünftigen Geister der Einzelwesen giebt – denn es giebt nicht allein eine Vernunft, sondern eine und viele – so müsste es auch viele Seelen und eine geben und zwar mussten aus der einen die verschiedenen abgeleitet sein, gleichwie aus einer Gattung viele Arten entspringen, die einen besser, die andern schlechter, die einen vernünftiger, die andern dies weniger der Wirklichkeit nach. Ist doch auch dort in der Vernunft einerseits die Vernunft zu unterscheiden, die dem Vermögen nach das Andere wie einen grossen Organismus umschliesst, andererseits die der Wirklichkeit nach seienden Einzelintelligenzen, welche das Andere der Möglichkeit nach einschloss. Wenn es z.B. eine beseelte, andere beseelte; Städte einschliessende Stadt gäbe, so wäre allerdings dir Natur der Gesammtstadt vollkommener und mächtiger, es hindert indessen nichts, dass auch die indem von derselben Natur waren. Oder nehmen wir als Beispiel die Art und Weise wie von dem Gesammtfeuer einerseits kleine, andererseits grosse Feuer ausgehen: das Gesammtwesen ist das des Gesammtfeuers oder vielmehr das, aus dem auch das des Gesammtfeuers hervorgeht. Die Thätigkeit der vernünftigen Seele besteht nun freilich im Denken, aber nicht ausschliesslich; worin unterschiede sie sich sonst auch von der Vernunft? Dadurch nämlich dass sie zu dem Intellectuell-sein noch ein anderes hinzugenommen hat, dem gemäss sie ihren eigenen Wesensbestand gewonnen hat,[126] ist sie nicht Vernunft geblieben und hat so auch ihrerseits ein eigenthümliches Geschäft, wofern überhaupt alles, was zu dem Bereiche des Seienden gehört, ein solches hat. Blickt sie auf das ihr Uebergeordnete, so denkt sie; blickt sie auf sich selbst, so erhält sie sich selbst; blickt sie auf das ihr Untergeordnete, so schmückt, ordnet und beherrscht sie dasselbe. Denn es war unmöglich, dass das All ruhig im Intelligiblen stehen blieb, so lange noch ein anderes in der Stufenreihe der Dinge entstehen konnte, das allerdings geringer aber doch mit Nothwendigkeit ist, wofern auch das ihm Voraufgehende ist.

4. Die Einzelseelen nun, denen einerseits ein intellectuelles Streben in der Hinwendung zu dem Princip ihres Ausgangs zukommt, die andererseits aber auch ein auf die diesseitige Welt sich erstreckendes Vermögen besitzen, ebenso wie ja das Licht nach oben hin an die Sonne gebunden ist und doch der unter ihm befindlichen Welt seine Dienstleistung nicht versagt – diese Einzelseelen nun müssen einerseits, solange sie vereint mit der Gesammtseele im Intelligiblen verharren, frei von jedem Leid sein und im Himmel vereint mit der Gesammtseele eine mit ihr gemeinsame Herrschaft ausüben, gleichwie die Könige in Gemeinschaft mit dem Allbeherrschenden herrschen, indem sie auch ihrerseits von dem königlichen Throne nicht herabsteigen; sie schalten dann ja eben gemeinsam in einem und demselben Gebiete. Indem die Seelen aber, ihre Daseinsweise verändernd, aus dem Ganzen heraus dazu übergehen als Theil und selbständig für sich zu existiren, und gleichsam des Seins in Gemeinschaft mit einem Andern müde sind, zieht sich eine jede auf ein ihr eigenthümliches Gebiet zurück. Wenn sie dies nun längere Zeit hindurch thut, wobei sie das Ganze flieht und durch die vollzogene Unterscheidung sich von ihr entfernt, und nicht mehr auf das Intelligible blickt, so wird sie zum Theil und dadurch vereinzelt und schwach und vielgeschäftig und blickt auf einen Theil, und nachdem sie sich durch Abtrennung von dem Ganzen irgendeinem Theile hingegeben und allem Uebrigen entflohen, wodurch sie sich jenem Einzelnen naht und zuwendet, das von der Gesammtheit der Dinge bedrängt und beeinflusst wird, hat sie sich von dem Ganzen abgewandt und ordnet das Einzelne in mühseliger Arbeit gewissermassen schon Hand anlegend in wohlthätiger Sorge für das Aeussere, ihm gegenwärtig und tief in sein Inneres eintauchend. Da widerfährt es ihr denn auch, dass sie, wie es heisst, die Schwingen verliert und in die Fesseln[127] des Körpers geräth, nachdem sie sich verirrt hat aus dem Stande der Unversehrtheit, in welchem sie während der Beherrschung des höheren Gebietes sich hielt und der ihr eigen war als der Gesammtseele. So ist sie denn gefangen, gefallen und in Banden, und da sie nur vermittelst der Wahrnehmung ihre Wirksamkeit äussert, weil sie an einer unmittelbaren Wirksamkeit durch die Vernunft verhindert wird, so heisst es, sie sei begraben und weile in einer Höhle. Wendet sie sich dagegen zum Denken, so heisst es, sie löse sich aus den Fesseln und steige empor, sobald sie in Folge der Wiedererinnerung einen Ausgangspunkt für das Schauen des Seienden gewonnen hat. Sie hat nämlich immer trotz alledem einen gewissen überragenden Theil. Die Seelen werden so gewissermassen Amphibien, indem sie mit Nothwendigkeit abwechselnd das Leben im Jenseits und das im Diesseits getheilt führen, und zwar in grösserer Ausdehnung das im Jenseits diejenigen, welche in grösserer Ausdehnung dem Intelligiblen beizuwohnen vermögen, dagegen das im Diesseits in grösserer Ausdehnung diejenigen, für welche in Folge ihrer Natur oder ihrer Geschicke das Gegentheil statthat. Hierauf spielt denn auch Plato leise an, wenn er da, wo er Unterschiede in ihnen in Folge der Mischung aus dem spätem Kriege und Theile annimmt, es auch für nothwendig erklärt, dass sie in das Werden eingehen, da einmal Theile solcher Art herausgekommen sind. Wenn er aber sagt, Gott habe sie ausgesäet, so ist das ebenso zu verstehen, wie wenn er Gott als sprechend und gewissermassen vor dem Volke redend einführt. Denn das, was in der Natur der Gesammtheit der Dinge enthalten ist, lässt schon die Darlegung dieses Inhalte selbst werden und entstehen, indem sie das, was immer so ist und wird, der Reihe nach ins Dasein führt.

5. Es ist also kein Widerspruch, wenn man redet von einer Aussaat in das Gebiet des Werdens, von einem Herabsteigen zum Zweck der Vollendung des Alls, vom Gericht, von der Höhle, von der Nothwendigkeit und Freiheit, da ja die Nothwendigkeit hier die Freiheit einschliesst, und dabei doch zugiebt, dass der Aufenthalt im Körper ein Verweilen im Uebel sei. Ebensowenig sieht hiermit im Widerspruch die Ansicht des Empedokles von einer Flucht von Gott und Irrfahrt, von einer Schuld und Fehle, auf welche die Strafe steht; auch die Ansicht des Heraklit nicht von einer Rast und einem Verweilen in der Flucht, überhaupt widerspricht es sich nicht, dass das Freiwillige des Herabsteigens doch wieder ein Unfreiwilliges sei. Denn ein jedes, das zu einem Geringeren[128] herabsteigt, thut dies allerdings unfreiwillig; sofern es jedoch einer in seinem Wesen begründeten Bewegung folgt, heisst es von ihm, es habe an dem Besitz des Schlechteren eben die seinen Handlungen entsprechende Strafe. Wenn aber solches zu thun und zu leiden nach einem ewigen Naturgesetz nothwendig ist und wenn das zum Nutzen eines andern Leidtragende auf dieses in seiner Bewegung eben trifft, indem es von dem über ihm Stehenden herabsteigt, so kann man wohl behaupten, Gott habe es herabgesandt, ohne mit der Wahrheit oder mit sich selbst in Widerspruch zu gerathen. Denn auf den Ursprung aller Dinge wird ja selbst das letzte, mag es auch viele Zwischenglieder geben, zurückgeführt. – Es giebt nun eine doppelte Schuld, und zwar besteht die eine in dem Beweggründe zum Herabsteigen, die andere darin, dass die Seele hier Missethaten begeht. Die Sühnung der ersten besteht in eben dem Leiden, das ihr in Folge des Herabsteigens widerfährt, die der andern, wofern die Schuld weniger gross ist, darin dass sie in andere Körper eingeht und schneller wieder emportaucht nach gerechtem und billigem Urtheilsspruch – dass dies nach göttlicher Satzung geschieht, wird durch das Wort Urtheilsspruch angezeigt –; das Uebermaass der Bosheit hingegen wird billig auch durch eine schärfere Strafe geahndet unter dem Walten rächender Dämonen.

So also geräth die Seele, obwohl sie etwas göttliches ist und den höheren Regionen entstammt, in den Körper hinein und gelangt, da sie nur ein Untergott ist, ins Diesseits durch freiwillige Herabneigung sowie zum Zweck ihrer Machtentfaltung und der Ausschmückung des unter ihr stehenden Wesens. Entzieht sie sich nun wieder durch eine beschleunigte Flucht, so hat sie in keiner Beziehung Schaden genommen, im Gegentheil sie hat Kenntniss vom Uebel gewonnen und die Natur der Bosheit erkannt, dazu dir in ihr liegenden Kräfte offenbart und Wirksamkeiten und Thätigkeiten sehen lassen, die bei einem ruhigen Verbleiben im Unkörperlichen zwecklos wären, da sie in Ewigkeit nicht zur Wirksamkeit gelangen würden; so bliebe auch der Seele selbst was sie besitzt verborgen, da es nicht zur Erscheinung käme und nicht aus ihr herausträte – wenn nämlich überall erst die Verwirklichung das Vermögen zeigt, das sonst durchaus verborgen und im Dunkeln bliebe und nicht wäre, niemals wahrhaft wäre. Jetzt erkennt ja jeder durch die Mannigfaltigkeit der äussern Wirkungen mit Staunen, von welcher Beschaffenheit das innere Wesen gemäss der schönen Ergebnisse seiner Thätigkeit ist.[129]

6. Wenn also nicht allein Eins sein darf – sonst wäre ja alles gestaltlos in ihm verborgen geblieben und es bestände nichts von dem Seienden, wäre jenes unbeweglich in sich stehen geblieben; auch gäbe es nicht die Vielheit dieser seienden aus dem Einen erzeugten Existenzen, ohne dass die unter ihm stehenden Wesen, die den Rang von Seelen erhalten haben, von ihm ihren Ausgang genommen hätten: so durfte es auch in der nämlichen Weise nicht allein Seelen geben, ohne dass die durch sie verursachten Dinge zur Erscheinung gelangten, wofern es einmal in einer jeden Natur liegt, das unter ihr Stehende zu bewirken und sich wie aus einem Samenkorn aus einem untheilbaren Anfange zu entwickeln und zur sinnlichen Vollkommenheit zu gelangen, wobei freilich das höhere Princip immer ruhig in seinem eigenthümlichen Stande verharrt, während sich das unter ihm Stehende gewissermassen aus einem unendlichen [unaussprechlichen] Vermögen – soviel davon eben in jenem Princip vorhanden war – erzeugt, das man nicht so zu sagen neidisch hemmen und absperren darf, sondern welches beständig vordringen muss, bis alles zur äussersten Grenze innerhalb des Möglichen gelangt ist durch Verursachung eines unerschöpflichen, seine Kraft über alles ausbreitenden Vermögens, welches nichts seiner selbst untheilhaftig zu lassen im Stande ist. Gab es ja doch nichts, was irgend ein Ding gehindert hätte in soweit der guten Natur theilhaftig zu werden, als eben ein jedes an ihr Theil nehmen konnte. – Bestand nun die Natur der Materie von Ewigkeit her, so ging es nicht an, dass sie als existirend nicht dessen theilhaftig wurde, das allen Dingen das Gute spendet, soweit ein jegliches es aufzunehmen vermag; war dagegen ihre Entstehung eine nothwendige Consequenz aus den über und vor ihr liegenden Ursachen, so durfte sie auch so nicht für sich abgesondert bleiben, indem etwa das Princip, welches ihr auch das Sein selbst wie eine Gnadengabe verlieh, aus Unfähigkeit früher in sie einzutreten unbeweglich stellen blieb. Eine Offenbarung also des Herrlichsten in der intelligiblen Welt, seiner Macht sowohl als seiner Güte, ist das Schönste in dieser Welt, und es giebt so eine unvergängliche Verknüpfung zwischen allem, zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen: dem Intelligiblen, das an und für sich ist, und dem Sinnlichen, das vermöge seiner Theilnahme an diesem das unvergängliche Sein gewonnen hat, indem es die intelligible Natur nachahmt soweit es in seinem Vermögen liegt.

7. Da es nun eine doppelte Natur giebt, die intelligible[130] und die sinnliche, so ist es allerdings besser für die Seele im Intelligiblen zu weilen; es besteht jedoch für sie die Notwendigkeit auch an dem Sinnlichen Theil zu nehmen, da sie einmal eine solche Natur hat, und sie darf nicht unzufrieden sein, wenn sie nicht in jeder Beziehung das vollkommnere Wesen ist, sie die eine vermittelnde Stellung einnimmt, göttlicher Art freilich, aber doch an den letzten Platz des Intelligiblen gestellt, so dass sie der sinnlichen Natur benachbart diesem Gebiete etwas von ihrem eigenen Wesen mittheilt, dafür aber auch etwas von ihm empfängt, sofern sie nämlich nicht bei der Ordnung desselben ihre eigene Sicherheit wahrt, sondern einem stärkeren Triebe folgend nicht mehr in ihrer Ganzheit mit der Allseele vereinigt bleibt und in das Innere des beherrschten Gegenstandes eintaucht; dazu kommt im besondern, dass es ihr möglich ist wieder emporzutauchen, nachdem sie eine genaue Kenntniss von ihren Erfahrungen und Leiden im Diesseits gewonnen und dadurch gelernt hat, was es bedeutet im Jenseits zu weilen, und durch den Vergleich mit dem gleichsam Entgegengesetzten genauer das Bessere kennen gelernt hat. Denn zu einer deutlicheren Erkenntniss des Guten gereicht die Erfahrung des Uebels denjenigen Wesen, deren Vermögen zu schwach ist als dass sie durch ein Wissen vor der Erfahrung erkennten. Wie aber das Herausgehen der Vernunft ein herabsteigen zu dem für sie äussersten Schlechteren ist – denn es liegt nicht in ihrem Wesen zu dem über ihr Stehenden emporzusteigen, sondern sie muss, indem sie Wirkungen aus sich heraustreten lässt und nicht ruhig in sich selbst verharren kann, nach einem nothwendigen Naturgesetz bis zur Seele gelangen (denn das ist für sie ein letztes Ziel) und dieser dann die folgende Reihe überlassen, während sie selbst wieder emporsteigt – ebenso verhält es sich auch mit der Wirksamkeit der Seele: auf das unter ihr Stehende bezieht sich ihre Thätigkeit im Diesseits, auf das über ihr Stellende die Anschauung des Seienden, wobei sich für die eine Art von Seelen eine solche Thätigkeit nur theilweis und in gewissen Zeiträumen einstellt und eine Hinwendung zum Besseren nur so vollzieht, dass sie sich dabei im Schlechteren befinden, während die Seele, welche wir als die des Alls bezeichnen, niemals in die schlechtere Werkthätigkeit eintritt, von keinem Uebel berührt wird, vermöge ihres Schauens das unter ihr stehende Gebiet überblickt und beständig mit dem über ihr stehenden verknüpft bleibt. Ihr ist eben beides möglich, aus dem Jenseits zu empfangen und dem Diesseits gleichzeitig zu[131] spenden, da sie sich ja als Seele nothwendig auch mit dieser Welt befassen musste.

8. Soll ich es schliesslich wagen, entgegen der Meinung der andern meine Ueberzeugung frei und bestimmter herauszusagen, so ist meines Erachtens selbst unsere Seele nicht in ihrer Ganzheit eingetaucht, sondern ein gewisser Theil derselben befindet sich stets im Intelligiblen; nur lässt uns der im Sinnlichen befindliche Theil, wenn er überwältigend wird oder vielmehr überwältigt und verwirrt wird, nicht zur Perception dessen gelangen was der obere Theil der Seele erschaut. Nur dann nämlich tritt der Denkinhalt wirklich in uns hinein, wenn er bis zur Perception herabgelangt. Denn nicht alles, was sich in irgendeinem Theil der Seele zuträgt, erkennen wir deshalb schon; wir erkennen es vielmehr erst, wenn es die ganze Seele durchdrungen hat. So wird z.B. die Begierde, solange sie in dem begehrenden Theil bleibt nicht von uns erkannt, sondern erst, dann wenn wir sie durch das Vermögen des innern Sinnes oder auch durch das Denkvermögen oder durch beide ergriffen haben. Es hat nämlich jede Seele ein niederes dem Körper zugewandtes und ein höheres der Vernunft zugewandtes Vermögen. Und die ganze, die Allseele schmückt mit ihrem dem Körper zugewandten Theile das All in müheloser Erhabenheit, nicht mit Ueberlegung und Berechnung wie wir, sondern vermöge der Vernunft gleich dem künstlerischen Schaffen, wobei nur der niedere Theil das All ordnet und schmückt. Dagegen haben die im Theil existirenden, die Theilseelen allerdings auch ihrerseits das überragende Vermögen, erfassen jedoch in mühevoller Thätigkeit dabei vermöge der Wahrnehmung und Perception viele ihrer Natur widrige, verletzende, verwirrende Eindrücke, da ja das ihrer Obhut Befohlene ein Theil und als solcher mangelhaft ist, von vielen fremden Dingen rings umgehen wird und vielerlei Bedürfnisse und Begierden hat; dazu ist er auch der Lust und den Täuschungen der Lust unterworfen. Das andere Vermögen dagegen bleibt auch den vergänglichen Lüsten gegenüber unempfindlich und führt ein wandellos gleichmässiges Leben.[132]

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 2, Berlin 1880, S. 122-133.
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