Neuntes Buch.
Ueber die Frage ob alle Seelen eine sind

[133] 1. Ist etwa in demselben Sinne, in welchem wir die Seele jedes einzelnen eine nennen, weil sie überall im Körper ganz gegenwärtig und auf diese Weise in Wahrheit nur eine ist, indem sie nicht etwa einen Theil hier, einen andern an einem andern Orte des Körpers hat, und weil sich ja in den wahrnehmenden Wesen die wahrnehmende Seele ebenso verhält und auch in den Pflanzen die ganze überall in jedem Theile wohnt – ist etwa in demselben Sinne auch meine und deine Seele nur eine und alle zusammen eine? Ist ferner hinsichtlich des Alls die eine Seele in allen Wesen nicht etwa quantitativ getheilt, sondern überall mit sich identisch? Denn warum wäre die Seele in mir eine, die im All nicht eine? Denn auch dort kann weder von einer materiellen Masse noch von einem Körper die Rede sein. Geht nun aus der Seele des Alls meine sowohl wie deine hervor, und ist jene nur eine, so müssen auch diese eine sein. Geht aber auch die des Alls und die meinige aus einer Seele hervor, so sind hinwiederum alle eine. Was für eine ist nun diese eine? – Zuvor jedoch müssen wir darüber sprechen, ob die Behauptung stichhaltig ist, dass alle Seelen ebenso wie die jedes einzelnen eine sind; denn seltsam wäre es doch, wenn meine und die jedes beliebigen andern eine wären. Dann musste ja, wenn ich empfinde, auch ein anderer empfinden, wenn ich gut bin, auch jener gut sein, wenn ich begehre, begehren, und wir müssten überhaupt mit einander und mit dem All in einer solchen Homopathie stehen, dass jeden Zustand, den ich empfinde, auch das All empfände. Wie könnte ferner bei der Annahme von der einen Seele die eine vernünftig die andere unvernünftig, die in den Thieren eine andere und die in den Pflanzen eine andere sein? Und doch wieder, weisen wir jene Annahme zurück, so wird das All nicht eins sein und es wird sich kein einheitliches Princip der Seelen finden lassen.

2. Zunächst nun sind, wenn meine Seele und die eines andern eine sind, keineswegs schon die beiden Individuen identisch. Denn ein Identisches in zwei verschiedenen Wesen wird nicht in jedem von beiden dieselben Affectionen haben, wie z.B. der Mensch [an sich] in mir, wenn ich mich bewege,[133] und in dir, wenn du dich nicht bewegst, in mir bewegt, in dir unbewegt sein wird; und dabei ist es doch nicht absurd oder paradox zu sagen, dass das in mir und in dir Gegenwärtige identisch sei. Ebenso ist es garnicht nothwendig, dass wenn ich empfinde, ein anderer genau dieselbe Affection erfahre; empfindet ja doch auch an einem und demselben Körper die Affection der einen Hand nicht etwa die andere Hand, sondern die im ganzen Körper gegenwärtige Seele. Wenn in der That auch du meine Empfindung percipiren müsstest, so würde es nur einen aus der Verknüpfung beider entstandenen Körper geben; denn in dieser Verknüpfung hätte jede der beiden Seelen dieselbe Empfindung. Indessen ist zu beachten, dass auch dem Ganzen vieles selbst von dem, was sich in einem und demselben Körper zutragt, entgeht und zwar um so mehr, je grösser der Umfang des Körpers ist, wie man das von den grossen Thierungeheuern sagt, bei welchen von einem den Theil treffenden Eindrucke dem Ganzen wegen der Geringfügigkeit der Erregung keinerlei Empfindung zugeht. Es ist also nicht nothwendig, dass die deutlich ausgeprägte Empfindung dem Ganzen und Gesammten zukomme, wenn irgend ein Theil afficirt wird. Dass es freilich hiervon mit beeinflusst wird, ist nur natürlich und nicht zu verkennen; dass aber eine deutlich ausgeprägte Empfindung entstehe, ist durchaus nicht nothwendig. Dass ferner die Seele in mir tugendhaft ist, in einem andern boshaft, ist weiter nicht wunderbar, wofern es auch nicht unmöglich ist, dass ebendasselbe in dem einen bewegt wird, in dem andern feststeht. Wir behaupten ihre Einheit ja auch garnicht in der Weise, dass sie eine Vielheit unbedingt von sich ausschliesst – denn dies ist der höher stehen den Natur zuzuerkennen – sondern wir behaupten, sie sei eine und viele und habe Theil an der Natur, die im Bereiche des Körperlichen theilbar wird und andererseits auch wieder untheilbar ist, also dass sie hinwiederum eine ist. Wie die in mir an einem Theile stattfindende Affection nicht nothwendig das Ganze zu ergreifen braucht, wohl aber die an dem beherrschenden Princip stattfindende dem Theil etwas mittheilt: so treten die von dem Ganzen auf das Einzelne übergehenden Eindrücke deutlicher zu Tage, da die Theile in mannigfacher Homopathie zu dem Ganzen stehen, während es nicht klar wird, ob die von uns ausgehenden auf das Ganze einen bestimmenden Einfluss ausüben.

3. Ferner aber lehrt uns die vernünftige Betrachtung der Dinge, dass wir durch den Gegensatz erregt mit einander in[134] Sympathie treten, also durch das blosse Sehen in schmerzliche Mitleidenschaft gezogen werden und zerfliessen und zur Liebe hingerissen werden der Natur gemäss. Wenn sodann auch Zauberlieder und überhaupt magische Künste uns zusammenführen und aus der Ferne zur Sympathie hinziehen, so geschieht das doch unter allen Umständen durch eine Seele. Auch ein leise gesprochenes Wort afficirt die fernen Gegenstände und macht sich in einer wer weiss wie weiten Distanz vernehmbar; daraus kann man die Einheit aller Dinge abnehmen, weil eben die Seele eine ist. Wie giebt es nun, wenn die Seele eine ist, theils vernünftig theils unvernünftig, auch eine vegetative? Nun so: der untheilbare Theil derselben nimmt die Stelle der Vernunft ein und spaltet sich nicht in den Körpern; der gespaltene im Bereiche der Körper, welcher zwar einer ist und derselbe, sich aber in den Körpern spaltet, indem er überall die Empfindung hervorbringt, ist als eine andere Kraft derselben zu betrachten, ebenso das bildende und die Körper schaffende Vermögen als eine andere Kraft. Nicht jedoch ist sie, weil mehrere Kräfte vorhanden, nicht eine. Denn auch im Samenkorn sind mehrere Kräfte vorhanden und ein Einheitliches, und aus diesem Einen heraus sind die vielen Dinge eins. Warum sind nun nicht überall alle? Es ist nämlich auch in der überall befindlichen einen Seele nicht die gleiche Empfindung in allen Theilen und die Vernunft nicht durchweg in dem Ganzen und die, vegetative Kraft ist auch in den Theilen, denen keine Empfindung innewohnt; und gleichwohl läuft alles zu einer Einheit wieder zusammen, sobald der Körper entfernt ist. Wenn er aber [der Körper] die ernährende Kraft aus dem Ganzen hat, so gehört sie auch jener an [der Seele]. Warum geht nun nicht auch von unserer Seele die ernährende Kraft aus? Weil das Ernährte ein Theil des Ganzen ist, welcher auch, in passiver Weise afficirt, eine sinnliche Wahrnehmung hat; die unterscheidende und urtheilende Empfindung [sinnliche Wahrnehmung] hingegen wohnt einem jeden mit Vernunft verbunden bei, und sie brauchte durchaus nicht zu bilden, was von dem Ganzen seine Bildung und Ausgestaltung empfängt. Indessen würde sie dieselbe auch bewirkt haben, wenn diese nicht in diesem Ganzen sein müsste.

4. Dies also ist gesagt, damit man sich nicht wundere über die Zurückführung auf eine Einheit. Aber freilich sucht die Wissenschaft, wie die Seelen eine sind. So sind also alle wohl eine als von einer herrührend? Und wenn als von einer herrührend: wird diese dabei getheilt oder bleibt sie[135] zwar ganz, schafft aber doch nichts desto weniger viele von sich selbst her? Sagen wirs also indem wir Gott als Beistand herbeirufen, dass zuvor eine dasein muss, wenn anders viele sein sollen, und dass aus dieser die vielen stammen. Falls sie nun im Körper wäre, so müssten mit der Zertheilung dieses viele entstehen, die eine durchaus Wesenheit, die andere eine werdende, und bestände sie aus gleichartigen Theilen, so müssten alle gleichartig werden, indem sie ein und dieselbe Art an sich hätten im ganzen, durch die räumlich ausgedehnten Massen aber verschieden wären; und wenn sie entsprechend den materiellen Substraten ihr Wesen als Seelen hätten, so müssten sie untereinander verschieden sein, wenn aber entsprechend der Art [Form], dann müssen die Seelen eine sein der Art nach. Das heisst aber: es liegt eine und dieselbe Seele in vielen Körpern zu Grunde und vor dieser einen in vielen giebt es wieder eine nicht in vielen, von welcher die eine in den vielen herstammt, gleichsam ein vielerwärtshin getragenes Bild der einen in Einem, wie z.B. viele Wachstafeln von einem Finger denselben Eindruck aufgeprägt erhalten können. Auf jene Weise nun würde sie sich auflösen in viele Zeichen [Erscheinungformen], auf die zweite Weise wurde die Seele allerdings etwas Unkörperliches. Und wäre sie eine Affection, dann hätte es nichts Wunderbares, dass eine aus einem Einheitlichen entstandene Qualität in vielen Dingen sei; desgleichen nicht, wenn die Seele ein aus beiden Gemischtes ist. Nun aber betrachten wir sie als etwas Unkörperliches und als eine Substanz.

5. Wie ist nun eine Substanz in vielen? Entweder nämlich ist die eine in allen ganz, oder von der ganzen und einen gehen die vielen aus, indem jene bleibt. Jene also ist eine, die vielen sind auf diese wie auf die eine bezogen, welche sich selbst an eine Menge hingiebt; denn sie ist im Stande, sich allen hinzugeben und eine zu bleiben; denn sie versenkt sich zugleich in alles und ist von jedem Einzelnen durchaus nicht abgetrennt. Ebendasselbe also ist sie in vielen. Daran wolle niemand zweifeln: denn auch die Wissenschaft ist ein Ganzes und hat viele Theile in der Art, dass die ganze bleibt und die von ihr herrührenden Theile; auch das Samenkorn ist ein Ganzes und von ihm stammen die Theile, in welchen es seiner Natur nach getheilt wird, und ein jedes ist ganz und bleibt ganz und nicht wird das Ganze verringert (die Materie hat es getheilt) und alles ist eins. Aber in der Wissenschaft, könnte jemand sagen, ist der Theil nicht das Ganze. Allerdings ist[136] auch dort in Wirklichkeit nur ein Theil was zuerst je nach Bedürfniss behandelt wird und dies ist die Propositio, es ergiebt sich jedoch auch das Uebrige, das der Möglichkeit nach darin verborgen liegt, und so ist alles in dem Theil; und vielleicht spricht man in diesem Sinne von der ganzen Wissenschaft und von einem Theile derselben. Dort also ist alles gleichsam der Wirklichkeit nach zusammen. Bereit also und geeignet ist ein jedes, um es nach Belieben zuerst zu behandeln. In dem Theile dagegen liegt zwar das zur Behandlung Geeignete, es gewinnt aber seine Kraft gleichsam, wenn es dem Ganzen genähert ist. Doch darf man nicht glauben, dass dies von den andern Wahrheiten gänzlich entblösst sei. Widrigenfalls wird es nicht mehr Glied eines Systems oder Theil einer Wissenschaft sein, sondern etwa nur den Werth eines Urtheils haben, das auch ein Kind aussprechen könnte. Ist nun der Begriff ein wissenschaftlicher, so hat er der Möglichkeit nach auch das Uebrige in sich. Der Mann der Wissenschaft wenigstens legt sich gleichsam drein und entwickelt sicherlich das Uebrige daraus durch logische Consequenz. So zeigt auch der Geometer in der Analysis, wie das Eine zuvor alles in sich begreift, wodurch die Analysis geschieht, sowie das Folgende der Reihe nach, was aus demselben erzeugt wird. Indessen findet dies wegen unserer Schwäche keinen rechten Glauben und wird wegen des Körpers verdunkelt; dort aber ist alles und jedes klar.[137]

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 2, Berlin 1880, S. 133-139.
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