Zweites Buch.
Ueber das Werden und die Ordnung der Dinge nach dem Ersten

[153] 1. Das Eine ist alles und auch nicht eins; denn das Princip von allem ist nicht alles, sondern ihm gehört alles an; denn dorthin läuft es gleichsam zurück; oder vielmehr es ist noch nicht, sondern wird sein. Wie kann es nun aus einem einfachen Eins stammen, da in ebendemselben [dem Identischen] keine Vielheit zu Tage tritt, nicht irgendwelche Zweiheit von irgend etwas? Nun, weil nichts in ihm war, darum ist alles aus ihm, und damit es das Seiende sei, eben darum ist es selbst nicht seiend, wohl aber der Erzeuger desselben; und dies ist gleichsam das erste Werden. Denn da es vollkommen ist, weil es nichts sucht noch hat noch bedarf, so floss es gleichsam über und seine Ueberfülle brachte anderes hervor; das Gewordene aber wandte sich hin zu ihm und wurde erfüllt und blickte auf es und wurde so Intellect. Und seine feste, nach jenem hingewandte Position wirkte das Seiende, das Schauen auf sich selbst den Intellect. Indem es also zu sich selbst hingewandt stille steht, damit es sehe, wird es zugleich Intellect und seiend. So also beschaffen wie jener bringt es das Gleiche hervor, indem es viele Kraft ausströmen liess; eine Species [Form] von ihm ist auch dies, wie es das Frühere vor ihm ausströmen liess. Und diese aus der Wesenheit stammende[153] Wirksamkeit ist Seele, dies geworden während jenes bleibt; denn auch der Intellect ist geworden, während jenes vor ihm blieb. Sie aber schafft nicht bleibend, sondern in Bewegung gesetzt erzeugte sie ein Abbild. Dorthin also blickend woher sie geworden, wird sie erfüllt und indem sie fortgeht zu einer andern und entgegengesetzten Bewegung, erzeugt sie als ein Abbild ihrer selbst die Empfindung und die Natur in den Pflanzen. Nichts aber ist von dem Voraufliegenden isolirt oder abgeschnitten. Deshalb scheint sich auch die Seele des Menschen bis zu den Pflanzen zu erstrecken und in gewisser Weise erstreckt sie sich so weit, da das [Leben] in den Pflanzen ihr angehört; keineswegs jedoch ist sie ganz in den Pflanzen, sondern auf die Art gelangt sie in die Pflanzen, dass sie bis so weit nach unten zu fortschritt, indem sie eine andere Daseinsform schuf durch ihr Vordringen und Verlangen nach dem Schlechteren; lässt doch auch das Höhere, das von dem Intellect Abhängende den Intellect bei sich selbst bleiben.

2. Es findet also ein Process vom Ersten bis zum Letzten statt, indem ein jedes immer an seinem Ort zurückgelassen wird, das Erzeugte aber einen andern Rang d.h. einen schlechteren erhält; ein jedes jedoch wird identisch mit dem, dem es folgt solange es ihm nachjagt. Wenn nun eine Seele in eine Pflanze gelangt, so ist etwas davon gleichsam ein Theil in der Pflanze, nämlich das verwegenste und unverständigste und was bis dahin vorgeschritten ist; wenn in ein unvernünftiges Thier, so hat die Kraft der Sinnlichkeit die Oberhand und Führung gewonnen; wenn in einen Menschen, so bewegt sie sich entweder überhaupt innerhalb des Vernünftigen oder vom Intellect her wie eine, die den Intellect als eigenthümlichen Besitz und von sich selbst das Verlangen hat zu denken oder überhaupt sich zu regen. Kehren wir also wieder zurück. Wenn jemand an einem Baume die Auswüchse oder die Zweige oben abschneidet, wo ist dann die hierin befindliche Seele hin? Nun, woher sie gekommen ist; denn die Entfernung war keine örtliche. Eins also ist sie im Princip. Wenn man aber die Wurzel durchschneidet oder verbrennt, wo bleibt die Kraft in der Wurzel? In der Seele, die nicht an einen andern Ort gegangen ist. Aber selbst wenn sie an ebenderselben Stelle ist, so war sie doch wenigstens an einer andern, wenn sie zurückkehrt; wenn nicht, so ist sie in einer andern Pflanzenseele, denn sie zieht sich nicht an einen Ort zusammen; und wenn sie zurückkehrt, so gelangt sie in die Kraft vor ihr. Aber wo ist jene? In der Seele vor dieser; die aber erstreckt[154] sich bis zum Intellect, nicht räumlich, denn es war nichts im Raume; der Intellect aber ist noch viel weniger im Raume, also auch sie nicht. Nirgends also seiend ist sie so in dem, was nirgends ist und allenthalben. Wenn sie aber in die obere Region vorschreitend in der Mitte, ehe sie vollends in die oberste angelangt, stehen bleibt, so hat sie ein mittleres Leben und steht in jenem Theil ihrer selbst. Alles dieses ist jener [Intellect] und nicht jener: jener, weil aus jenem; nicht jener, weil jener in sich selbst bleibend gab. Sie ist also wie ein grosses, weithin sich erstreckendes Leben: jeder der nächstfolgenden Theile ein anderer, aber jeder mit sich selbst zusammenhängend, ein anderer dieser und ein anderer jener durch den Unterschied, ohne dass der frühere in dem folgenden untergeht. Was ist nun die in die Pflanzen eingegangene Seele? Zeugt sie nichts? Doch, dasjenige, in dem sie sich befindet. Allein das Wie ist von einem andern Ausgangspunkt her zu untersuchen.

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 2, Berlin 1880, S. 153-155.
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