Viertes Buch.
Ueber die Frage, wie von dem Ersten das nach dem Ersten entsteht und über das Eine

[176] 1. Wenn es etwas nach dem Ersten giebt, so muss dies nothwendig aus ihm sein, entweder unmittelbar oder durch Mittelglieder auf jenes zurückführbar, und es muss eine Rangordnung der Dinge in zweiter und dritter Linie sein, indem das Zweite auf das Erste, das Dritte auf das Zweite zurückgeführt wird. Denn es muss etwas vor allem geben, das seinerseits einfach ist und verschieden von allem nach ihm,[176] das an sich ist, das ohne mit dem von ihm Ausgehenden vermischt zu sein doch in anderer Weise wieder in ihm vorhanden sein kann, das schlechthin und nicht etwa erst ein anderes, dann Eins ist, in welchem Falle auch das Eins-sein eine Lüge wäre, von dem es keinen Begriff und kein Wissen giebt, das eben über der Wesenheit und dem Sein, wie man sich ausdrückt, steht – denn wäre es nicht einfach, nicht frei von allen Eigenschaften und aller Zusammensetzung, ein absolutes Eine, so würde es nicht Princip sein – das ferner, weil einfach und das erste von allem, durchaus sich selbst genügt; denn das Nichterste ist des vor ihm Liegenden bedürftig und das Nichteinfache verlangt nach dem Einfachen in ihm, damit es aus jenem sei. Ein so Beschaffenes darf natürlich nur Eins sein; denn gebe es ein anderes der Art, dann wären die beiden eins. Nun reden wir ja nicht von zwei Körpern und nennen das erste Eine nicht Körper. Denn kein Körper ist einfach, der Körper ist etwas werdendes aber nicht Princip. Das Princip ist nicht geworden; da es nun nicht körperlich ist sondern absolut eins, so dürfte jenes das Erste sein. Falls es nun ein anderes nach dem Ersten giebt, so dürfte es nicht mehr einfach sein, folglich wird es ein vielfaches Eins sein. Woher nun dies? Von dem Ersten; denn wäre es durch Zufall entstanden, dann wäre jenes auch nicht mehr Princip von allem Wie kommt es nun von dem Ersten? Nun, wenn das Erste vollkommen ist und das vollkommenste von allem und die erste Kraft, dann muss es von allem Seienden das mächtigste sein und müssen die andern Kräfte ihm nachahmen, soweit sie es vermögen. Und was immer von den andern Dingen zur Vollendung kommt, das sehen wir zeugen, das halt es nicht aus bei sich selbst zu bleiben, sondern muss ein anderes schaffen, nicht bloss das was einen Vorsatz hat, sondern auch was ohne Vorsatz seine Zeugungskraft übt, selbst unbeseelte Wesen theilen von sich mit was sie im Stande sind; so z.B. wärmt das Feuer und kühlt der Schnee, auch die heilkräftigen Kräuter wirken auf ein anderes wie alle übrigen Dinge auch, indem sie es dem Princip nach Möglichkeit nachthun zum Zweck ewiger Dauer und Vollendung. Wie könnte danach wohl das vollkommenste und das erste Gute in sich selbst stillestehen, gleich als ob es eifersüchtig auf sich selbst oder unvermögend wäre, die Kraft aller Dinge! Wie wäre es da noch Princip? Es muss also auch etwas von ihm entstehen, wenn anders etwas von den übrigen Dingen sein soll, die doch von ihm her ihren Bestand haben; denn dass sie denselben von ihm haben, ist[177] nothwendig. Demnach muss das Erzeugende auch das vorzüglichste sein, was aber unmittelbar nach ihm erzeugt wird und in zweiter Linie steht, muss besser sein als das übrige.

2. Wäre nun das Erzeugende der Intellect als solcher, so müsste das Erzeugte mangelhafter als der Intellect, doch aber ganz nahe am Intellect und ihm ähnlich sein; da aber das Erzeugende über dem Intellect steht, so muss es nothwendig Intellect sein. Warum ist aber das Erzeugende nicht Intellect? Weil die Thätigkeit [Energie] des Intellects das Denken ist, das Denken aber, welches das Intelligible schaut und nach diesem sich wendet und von ihm gleichsam erzielt und vollendet wird, selbst unbestimmt ist wie das Sehen und erst von dem Intelligiblen seine Bestimmtheit erhält. Deshalb ist auch gesagt, dass aus der unbestimmten Zweiheit und dem Einen die Arten und die Zahlen entstehen: dies aber ist der Intellect. Des halb ist er nicht einfach sondern vieles, indem er die Zusammensetzung, die intelligible versteht sich, zur Erscheinung bringt und vieles bereits schaut. Er ist nun selbst das Gedachte [Intelligible], aber auch der Denkende, also doch gewiss zwei. Es giebt ferner ein anderes Gedachtes nach ihm. Allein wie kommt vom Intelligiblen der Intellect? So: das intelligible, welches in sich bleibt und nicht bedürftig ist wie das Sehende und Denkende – bedürftig nenne ich das Denkende als ein zu jenem Hingewandtes – ist nicht etwa leer von jeder Empfindung und Wahrnehmung, sondern alles von ihm ist in ihm und mit ihm zusammen, es hat durchgehend das Unterscheidungsvermögen seiner selbst, in ihm ist Leben, kurz alles in ihm, und es ist selbst die denkende Wahrnehmung seiner selbst, welche wie mit Selbstbewusstsein verbunden ist und in ewiger Ruhe und im Denken verharrt und zwar anders als das Denken des Intellects. Wenn nun etwas, indem es selbst bleibt, in ihm entsteht, so entsteht dies von ihm, wenn jenes im vollsten Maasse ist was es ist. Indem also dies in seinem eigensten Wesen bleibt, entsteht was entsteht aus ihm, aber als ihm dem Bleibenden angehörig. Da nun jenes als Intelligibles bleibt, so wird das Werdende Denken; da es Denken ist und das Denken hat von dem, von welchem es entsteht – denn anderes hat es nicht – so wird es Intellect, gleichsam ein anderes Intelligible und jenem gleich, eine Nachahmung und Spiegelbild jenes. Aber wie entsteht, wenn jenes bleibt, thätige Wirksamkeit? Einerseits ist sie die der Substanz, andrerseits die aus der Substanz eines jeden; und die der Substanz ist selbst ein jedes seiner Wirksamkeit nach,[178] die von ihr ausgehende muss mit Nothwendigkeit jedem einzelnen nachgehen, indem sie eine andere ist als dies: so giebt es auch beim Feuer eine Art Wärme, welche das Wesen erfüllt, eine andere von jenem ausgehende, indem das Feuer die seinem Wesen eigenthümliche Thätigkeit ausübt insofern es eben Feuer bleibt. Ebenso ist es auch dort: und noch viel eher gelangte dort, indem jenes in seinem eigensten Wesen verharrt, aus der Vollkommenheit in ihm und der ihm innewohnenden thätigen Wirksamkeit die erzeugte Wirksamkeit, die als aus einer grossen, ja der grössten Kraft von allem stammend ihre Hypostase gewonnen hat, zum Sein und Wesen; denn jenes steht über dem Sein. Und jenes ist die Kraft aller Dinge, dies aber ist nunmehr alles. Ist dies alles, so ist jenes über allem, folglich über dem Sein. Und wenn es alles ist, vor allem aber das Eine ist ohne von derselben Beschaffenheit wie alles zu sein, so muss es auch auf diese Weise über dem Sein stehen. Dies umfasst aber auch den Intellect, folglich steht auch etwas über dem Intellect. Denn das Seiende ist nichts todtes, nicht des Lebens und des Denkens bar, also ist der Intellect und das Seiende identisch. Denn der Intellect verhält sich zu den Dingen nicht wie die Wahrnehmung zu den wahrnehmbaren Gegenständen, die vor derselben sind, sondern der Intellect selbst ist die Dinge, da er ja ihre Formen nicht herbeiträgt. Denn woher sollte er sie nehmen? Vielmehr ist er hier zusammen mit den Dingen und identisch mit ihnen und eins; auch die gesammte Wissenschaft des Immateriellen ist die Dinge.

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 2, Berlin 1880, S. 176-179.
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