Sechstes Buch.
Ueber die Frage, dass das über das Sein Erhabene nicht denke und was das ursprünglicher und das abgeleiteter Weise Denkende sei

[193] 1. Das eine denkt etwas anderes, das andere sich selbst und dies flieht schon mehr die Zweiheit. Das erstere will es gleichfalls, vermag es aber weniger; es hat wohl bei sich selbst was es sieht, jedoch als ein anderes denn jenes [es[193] selbst]. Das andere hingegen ist nicht von seiner Substanz getrennt, sondern bei sich selbst schaut es sich selbst. Es wird also zwei, während es eins ist. Es denkt also in höherem Grade, weil es hat, und denkt ursprünglich, weil das Denkende eins und zwei sein muss. Denn wenn es nicht eins ist, so wird ein anderes das Denkende, ein anderes das Gedachte sein – es würde also nicht das ursprünglich Denkende sein, weil es, wenn es das Denken eines andern aufnimmt, nicht das ursprünglich Denkende sein wird, da es was es denkt nicht als sein eigenes hat, also auch sich selbst nicht; oder wenn es dies als sich selbst hat, damit es in eigentlichem Sinn denke, so wird das beides eins sein; es muss also beides eins sein – wenn es eins, aber nicht auch wieder zwei sein wird, so wird es nicht haben was es denkt, folglich wird es auch nicht denkend sein. Einfach also und nicht einfach muss es sein. Besser indessen möchte man dies so Geartete fassen, wenn man von der Seele aus aufsteigt; denn dort ist die Trennung leicht und man möchte das Zweifache leichter sehen. Wenn sich nun jemand ein doppeltes Licht vorstellt, die Seele entsprechend dem geringeren, das Intelligible in ihr entsprechend dem reinem, wenn er sodann das sehende Licht sich gleich dem gesehenen vorstellt, so wird er, da er es nicht mehr durch die Differenz trennen kann, dies beides als eins setzen, indem er denkt, dass es zwei waren, er es aber bereits als eins schaut; auf diese Weise wird er Denkendes und Gedachtes erhalten. Wir nun haben begrifflich aus zweien eins gemacht, jenes aber wird umgekehrt aus einem zwei sein, weil es sich als ein solches, das sich selbst zu zweien macht, denkt, oder vielmehr es ist zwei, weil es denkt, und eins, weil es sich selbst denkt.

2. Giebt es also ein ursprünglich und ein in anderer Weise Denkendes, so dürfte das über das ursprünglich Denkende Hinausliegende nicht mehr denken; denn um zu denken muss es Intellect werden, als Intellect muss es auch das Gedachte haben und als erster Intellect muss es das Intelligible in sich selber haben. Es ist aber nicht nothwendig, dass alles Intelligible das Denkende und Denken in sich habe; denn dann wird es nicht bloss Gedachtes sondern auch Denkendes sein, und es wird nicht das Erste sein, da es zwei ist. Der Intellect ferner, der das Intelligible hat, würde nicht seinen Bestand haben, wenn nicht die Substanz des rein Intelligiblen wäre, was im Verhältniss zum Intellect intelligibel, an sich jedoch weder denkend noch intelligibel sein wird. Denn das Intelligible wird an einem andern bemessen und für den Intellect ist die Ausübung des Denkens leer ohne das Erfassen und Ergreifen des Intelligiblen,[194] das denkt; denn er hat das Denken nicht ohne das Intelligible. Dann also ist das Denkende vollkommen, wenn es hat; es musste aber vor dem Denken vollkommen sein durch sein eigenes Wesen. Wem also das Volkommene zukommen soll, das wird vor dem Denken sein; es hat also das Denken durchaus nicht nöthig, denn es ist sich vor diesem selbst genug. Also wird es dicht denken. Das eine also denkt nicht, das andere denkt ursprünglich, das andere wird abgeleiteter Weise denken. Ferner wenn das Erste denken soll, so wird ihm etwas zukommen; es ist also nicht das Erste, sondern auch ein zweites und nicht eins, sondern auch vieles und alles was es denken wird; ja auch wenn es nur sich selber denkt, wird es vieles sein.

3. Sagt man indessen, es hindere nichts, dass ebendasselbe vieles sei, so wird diesem doch ein Subject zu Grunde liegen; denn es kann nicht vieles sein ohne ein Eins, von welchem oder in welchem es ist, oder überhaupt ein Eins und dies zuerst von dem übrigen gezählt, was man an und für sich allein auffassen muss. Falls es zusammen ist mit dem übrigen, so muss man dies selbst auffassen und es, obwohl verschieden von dem übrigen, mit dem übrigen wie zusammen lassen, aber dies dem übrigen zu Grunde Liegende nicht mehr mit dem übrigen zusammen, sondern an und für sich suchen. Denn das in dem übrigen wird selbst diesem zwar gleich, aber nicht dieses sein; demnach muss es selbst allein sein, wenn es auch in dem übrigen gesehen werden soll. Es musste denn jemand sagen, das Sein desselben bedeute: zugleich mit dem übrigen die Verwirklichung [Hypostase] haben; es wird also selbst nicht einfach, auch nicht aus vielem zusammengesetzt sein; denn was nicht einfach sein kann, wird keine Hypostase haben, und das aus vielem Zusammengesetzte wird ohne Vorhandensein eines Einfachen gleichfalls nicht sein. Da also jedes einzelne Einfache nicht sein kann, ohne dass ein einziges Einfaches an und für sich besteht – denn nichts von ihm kann an sich eine Hypostase haben und kann sich selbst auch nicht zu dem übrigen gesellen, wenn es überhaupt nicht ist: wie kann das aus allem Zusammengesetzte sein, das geworden wäre aus dem Nichtseienden, ich meine nicht aus dem etwas bestimmtes nicht Seienden, sondern aus dem überhaupt Nichtseienden? Wenn also etwas vieles sein soll, so muss vor dem vielen Eins sein. Wenn nun das Denkende eine Menge ist, so darf in der Nichtmenge das Denken nicht sein. Dies war aber das Erste. Folglich wird in dem nach ihm Folgenden das Denken und der Intellect sein.[195]

4. Wenn ferner das Gute einfach und bedürfnisslos sein muss, so möchte es auch des Denkens nicht bedürfen; was es nicht nöthig hat, das hat es auch nicht. Hat es doch überhaupt nichts, also auch nicht das Denken. Und wenn ihm sonst nichts innewohnt, so ist es auch nicht etwas anderes. Ferner ist der Intellect etwas anderes als das Gute; denn er ist gutartig dadurch dass er das Gute denkt. Wie es ferner in der Zweiheit, in welcher Eins und ein anderes ist, unmöglich ist, das dieses Eine das Eine in Verbindung mit einem andern sei, sondern ein Eins an sich vor der Verbindung mit einem andern sein musste: so kann auch dieses Eine, das als einfach an und für sich vorhanden ist, nicht in Verbindung mit einem andern sein, da es nichts in sich hat von dem, was in dem mit einem andern Verbundenen ist. Denn woher soll in einem andern ein anderes entstehen, wenn zuvor nicht etwas an und für sich ist, von dem das andere kommt? Denn das Einfache kann nicht von einem andern her sein, was aber vieles oder zwei ist, das muss selbst an ein anderes geknüpft sein. Demnach ist das eine vergleichbar dem Lichte, das andere unmittellbar darauf der Sonne, das dritte dem Gestirn des Mondes, welches das Licht von der Sonne erhält. Denn die Seele hat den Intellect als einen hinzugebrachten, der ihr als einer vernünftigen die Färbung giebt; der Intellect hat in sich sein eigenthümliches Licht, indem er nicht bloss Licht ist, sondern auch das was in seiner Substanz erleuchtet ist; was aber diesem das Licht giebt, das ist nichts anderes als einfaches Licht, welches jenem die Kraft verleiht zu sein was er ist. Wozu sollte dies nun irgend etwas bedürfen? Denn es ist nicht identisch mit dem in einem andern; denn das in einem andern Befindliche ist ein anderes als das und für sich Seiende.

5. Ferner dürfte das Viele sich selbst suchen und mit sich selbst übereinstimmen und seiner selbst sich bewusstsein wollen; was aber schlechthin Eins ist, wo soll das zu sich selber kommen? wo das Selbstbewusstsein nöthig haben? Es ist ja das Identische und vorzüglicher als Selbstbewusstsein und alles Denken. Denn das Denken ist nicht das Erste, weder dem Sein noch der Vortrefflichkeit nach, sondern ein zweites und gewordenes, während das Gute als Substanz da ist und sich zu sich selber bewegt, jenes dagegen bewegt wurde und sah. Und das ist Denken, eine Bewegung zum Guten hin in dem Streben jenes; denn das Streben erzeugte das Denken und liess es zugleich mit sich existiren; denn das[196] Streben nach dem Sehen ist Sehen. Das Gute selbst also braucht nichts zu denken, denn das Gute ist nichts von ihm verschiedenes. Denkt doch auch das von dem Guten Verschiedene, wenn es sich ausser dem Guten denkt, dadurch dass es gutartig ist und Äehnlichkeit hat mit dem Guten und denkt wie ein Gutes und für sich selbst ein Gegenstand des Strebens und als hatte es eine Vorstellung von dem Guten gewonnen. Wenn es sich immer so verhalt, ist es immer dies. Anderseits denkt es in dem Denken seiner selbst sich zufällig selbst; denn auf das Gute blickend denkt es sich selbst; auch in seiner Bethätigung denkt es sich selbst und die wirksame Bethätigung aller insgesammt ist auf das Gute gerichtet.

6. Wenn diese Ausführungen richtig sind, so dürfte das Gute keinerlei Platz haben für das Denken; denn das Gute muss für das Denkende ein anderes sein. Es ist also aller Thätigkeit enthoben. Was soll auch die thätige Wirksamkeit wirken? Denn überhaupt hat keine Wirksamkeit wieder eine Wirksamkeit; müssen wir zu den andern, die auf ein anderes gerichtet sind, etwas in Beziehung setzen, so müssen wir wenigstens die erste von allen, an welche die andern geknüpft sind, als das belassen was sie ist, ohne ihr etwas hinzuzufügen. Eine solche Thätigkeit also ist nicht Denken, denn sie hat nicht was sie denken soll, denn sie ist selbst das Erste. Sodann denkt nicht das Denken, sondern das was das Denken hat. So entstehen also wieder zwei in dem Denkenden; dies aber ist keineswegs zwei. Dies wird man noch klarer sehen, wenn man deutlicher erkannt hat, wie in jedem Denkenden diese doppelte Natur vorhanden ist. Wir sagen, dass das Seiende als solches und ein jedes an sich und das wahrhaft Seiende in der intelligiblen Welt sei nicht bloss, weil das eine seiner Substanz nach sich gleich bleibt, das andere fliesst und nicht bleibt, nämlich alles sinnlich Wahrnehmbare – denn vielleicht giebt es auch im sinnlich Wahrnehmbaren bleibendes – sondern mehr noch deshalb, weil es die Vollkommenheit des Seins von sich selbst hat. Denn die als erste bezeichnete Substanz darf nicht des Seins Schalten sein, sondern muss die Fülle des Seins haben. Erfüllt aber ist das Sein, wenn es die Form des Denkens und Lebens empfangen hat. Zusammen also ist das Denken, das Leben, das Sein in dem Seienden. Wenn also Sein, so ist es auch Intellect, und wenn Intellect, auch Sein, und das Denken ist zusammen mit dem Sein. Vieles also und nicht eins ist das Denken. Nothwendig muss es [das Gute] demnach, weil es nicht so beschaffen[197] ist, auch nicht das Denken sein. Und gehen wir ins einzelne, so begegnen uns da das Denken des Menschen und der Mensch, das Denken des Pferdes und das Pferd, das Denken des Gerechten und das Gerechte. Zwiefach also ist alles und und das Eine ist zwei und die Zwei geht wieder in eins zusammen; der aber gehört nicht zu diesen, ist weder ein einzelnes noch aus alle den Zweiheiten noch überhaupt zwei. Wie aber das Zweiheitliche aus dem Einen entsteht, darüber anderswo. Indessen kommt einem, der über dem Sein steht, auch die Erhabenheit über das Denken zu. Demnach ist es auch nicht ungereimt, wenn er sich selbst nicht weiss; denn da er einer ist, hat er bei sich nichts was er lernen könnte. Aber auch die andern Dinge dürfen ihn nicht kennen. Denn er giebt ihnen etwas besseres und grösseres als die Erkenntniss dessen, was das Gute der übrigen Dinge ist, vielmehr verleiht er ihnen, in ihm soviel sie können jenes Gute zu ergreifen.

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 2, Berlin 1880, S. 193-198.
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