Neuntes Buch.
Ueber den Intellect, die Ideen und das Seiende

[215] 1. Da alle Menschen von ihrer Geburt an die sinnliche Wahrnehmung vor dem Intellect zur Anwendung bringen und ihre Aufmerksamkeit nothwendig zuerst auf die sinnlichen Dinge richten, so bringen die einen, die auf diesem Standpunkt verharren, ihr Leben hin, indem sie dies für das Erste und Letzte halten; und weil sie das darin enthaltene Unangenehme für schlecht, das Angenehme für gut ansehen, so halten sie es für genügend, wenn sie dem einen fortwährend nachjagen, dem andern zu entgehen suchen. Und dies sehen als Weisheit diejenigen unter ihnen an, welche nach dem Scheine rationeller Erklärung streben, vergleichbar den schweren Vögeln, welche mit vielem erdigen Stoff beschwert und herab gedrückt nicht hoch fliegen können, obwohl sie Flügel von der Natur empfangen haben. Die anderen erheben sich ein wenig über das Niedere, indem sie der bessere Theil der Seele von dem Angenehmen zu dem Schöneren hinbewegt. Da sie aber nicht im Stande sind das Obere zu schauen, als die da keinen festen Standort haben, so sinken sie mit dem Namen der Tugend wieder herab zu Handlungen und zur Wahl der niedern Dinge, über die sie sich zuerst versuchten emporzuheben. Eine dritte Klasse von göttlichen Menschen aber sieht mit grösserer Kraft und Schärfe der Augen den Glanz in der Höhe und schwingt sich dorthin empor über die Wolken und den Nebel hier unten und bleibt dort, indem sie verächtlich herabsieht auf diese irdischen Dinge, froh über den wahren und dem eigenen Wesen angemessenen Ort, wie ein Mann, der nach langer Irrfahrt in das wohlregierte Vaterland zurückgekehrt ist.

2. Wer ist nun dieser Ort? Und wie könnte man wohl zu ihm gelangen? Hingelangen dürfte wer von Natur ein Liebhaber und seinem Wesen nach ursprünglich ein Philosoph[215] ist: indem dieser als Liebhaber schmerzlich um das Schöne sich müht, es aber bei der körperlichen Schönheit nicht aushält, sondern von dort emporeilt zu den seelischen Schönheiten, nämlich zu den Tugenden und Wissenschaften und Beschäftigungen und Gesetzen, so steigt er hinwiederum empor zu dem Grunde des Schönen in der Seele, und wenn es etwas wieder vor diesem giebt, weiter bis er zuletzt zu dem Ersten gelangt, das von sich selber schön ist. Dort angekommen wird er befreit sein von schmerzlicher Sehnsucht, eher nicht. Aber wie soll er aufsteigen? Und woher wird ihm die Kraft und welche vernünftige Ueberlegung soll diese Liebe erziehend leiten? Folgende: diese körperliche Schönheit ist eine den Körpern zugebrachte; denn diese Formen der Körper sind an ihnen wie an der Materie. Nun aber wechselt doch das Substrat und wird aus einem schönen zu einem hässlichen. Folglich, lautet der Schluss, ist es durch Theilnahme schön. Was ist es nun, das den Körper schön macht? Denn in anderer Weise macht ihn die Anwesenheit der Schönheit, in anderer die Seele schön, welche ihn bildete und ihm gerade diese Gestalt gab. Wie also? Ist die Seele von sich selber etwas schönes? Nicht doch. Denn dann wäre die eine nicht verständig und schön, die andere unverständig und hässlich. Durch Verstand [Weisheit] also ist das Schöne in der Seele. Und wer ist es denn, der der Seele Weisheit verleiht? Nothwendig doch die Vernunft [Intellect]. Die Vernunft aber ist nicht bald Vernunft, bald Unvernunft, die wahre wenigstens. Also ist sie schön von sich selber. Und muss man hier Halt machen als bei dem Ersten oder muss man noch über den Intellect hinausgehen? Der Intellect steht von uns aus betrachtet vor der ersten Ursache, indem er wie im Vorhofe des Schönen alles als in ihm selbst befindlich anzeigt, wie eine Abformung jenes aber mehr in eine Vielheit sich zerlegt, während jenes durchaus in Einem verbleibt.

3. Wir müssen indessen diese Natur des Intellects untersuchen , welche die vernünftige Erwägung als das wahrhaft Seiende und die wahre Wesenheit verkündigt, nachdem wir zuvor auf einem andern Wege es zur Gewissheit erhoben haben, dass es eine solche Natur geben muss. Vielleicht ist es nun lächerlich zu forschen, ob der Intellect unter dem Seienden ist; doch sind möglicherweise auch hierüber einige im Zweifel. Vielmehr aber fragt es sich, ob er so beschaffen wie wir sagen, und ob er ein gesonderter ist und ob dieser das Seiende und ob die Natur der Ideen hier ist: lauter Fragen, worüber wir auch jetzt reden müssen. Wir sehen also, dass alles sogenannte[216] Seiende zusammengesetzt und auch nicht ein einziges einfach ist, sowohl das, was eine jede Kunst hervorbringt, als das, was von Natur zu Stande gekommen. Denn die Kunstwerke haben Erz oder Holz oder Stein und sind hierdurch noch nicht vollendet, bis jede einzelne Kunst sei es eine Bildsäule oder ein Bett oder ein Haus zu Stande gebracht hat durch Einfügung der in ihr liegenden Form. Ebenso kannst du auch die Gebilde der Natur, die vielfach zusammengesetzten von ihnen, auflösen in die sogenannten Concretionen und die allen anhaftende Form, z.B. den Menschen in Seele und Leib und den Leib in die vier Elemente. Hast du gefunden, dass ein jedes von diesen aus Materie und einem formenden Princip zusammengesetzt ist – denn die Materie der Elemente ist an sich selbst formlos – so wirst du fragen, woher die Materie die Form hat; desgleichen wirst du wieder fragen, ob die Seele schon zu den einfachen Dingen gehöre oder ob in ihr etwas sei Theils wie Materie, Theils wie Form d.h. der Intellect in ihr, der einerseits wie die Form am Erze, andererseits wie der Schöpfer der Form am Erze anzusehen sein möchte. Ueberträgt man ebendasselbe auf das Weltall, so wird man auch hier bis zum Intellect aufsteigen, indem man ihn als den wahren Schöpfer und Bildner annimmt, und zugeben, dass das Formen aufnehmende Substrat Theils Feuer theils Wasser Theils Erde und Luft geworden, diese Formen aber von einem andern hergekommen seien: dies sei die Seele; die Seele habe ihrerseits auch noch den vier Elementen die Form der Welt gegeben; ihr aber habe der Intellect die Begriffe zugeführt, wie auch den Seelen der Künstler von den Künsten her die zur Wirksamkeit gelangenden Begriffe zugeführt würden; der Intellect sei theils wie eine Form der Seele, nämlich der gemäss der Form, theils reiche er die Form dar wie der Schöpfer der Bildsäule, in welchem alles drinnen vorhanden ist was ergiebt, und zwar liege nahe bei der Wahrheit was er der Seele giebt; was aber der Körper aufnimmt, das seien bereits Scheinbilder und Nachahmungen.

4. Warum muss man nun auf die Seele gestützt aufsteigen und darf sie nicht selbst als das Erste setzen? Nun, zuerst ist der Intellect ein anderes und besseres als die Seele; das Bessere aber ist von Natur das Frühere. Denn nicht erzeugt, wie man glaubt, die Seele nach ihrer Vollendung den Intellect; denn woher wird das Potentielle actuell werden, wenn keine Ursache da ist, die es zur Wirklichkeit führt? Geschieht es etwa zufällig, dann kann dasselbe möglicherweise nicht zur Wirklichkeit gelangen. Darum muss man das Erste als wirklich[217] setzten und bedürfnisslos und vollkommen; das Unvollkommene hingegen später als jenes, vollendet von jenem her nach Art der zeugenden Väter, die vollenden was sie anfänglich unvollkommen erzeugt haben; man muss es ferner betrachten als Materie, die sich zunächst hinwendet zu dem Schaffenden, dann selbst mit Form bekleidet vollendet wird. Wenn die Seele ferner wirklich afficirbar ist, es aber etwas Unafficirbares geben muss – sonst würde alles durch die Zeit zu Grunde gehen – so muss es etwas vor der Seele geben. Und wenn die Seele in der Welt ist, es aber etwas ausserhalb der Welt geben muss, so muss auch auf diese Weise etwas vor der Seele sein. Denn wenn, was in der Welt ist das im Körper und in der Materie Befindliche ist, so bleibt nichts dasselbe [identisch]; folglich sind der Mensch und alle Begriffe nicht ewig und nicht dieselben. Und dass der Intellect vor der Seele sein muss, kann man hieraus und aus vielem andern ersehen.

5. Wir müssen aber, wenn wir Wahres mit dem Namen aussagen wollen, als Intellect auffassen nicht den potentiellen oder den, der von Unvernunft zur Vernunft gelangt ist – widrigenfalls werden wir wieder einen andern vor ihm suchen – sondern den, der in Wirklichkeit und stets Intellect ist. Hat er aber das Denken nicht von aussen, wenn er etwas denkt, so denkt er von sich selbst, und hat er etwas, so hat er's von sich selbst. Denkt er aber von sich selbst und aus sich selbst, so ist er selbst was er denkt. Denn wenn sein Wesen verschieden ist von dem was er denkt, so ist sein Wesen selbst unvernünftig, und so ist er wieder potentiell, nicht actuell Intellect. Man darf also keins von dem andern trennen. Wir haben freilich nach den Vorgängen in uns die Gewohnheit, auch jenes in Gedanken zu trennen. Was wirkt er nun und was denkt er, damit wir ihn selbst als das was er denkt setzen? Es ist wohl klar, dass er als Intellect wesentlich das Seiende denkt und zu Stande bringt. Er ist also das Seiende. Nun wird er dies entweder als anderswo befindlich denken oder als sich selbst in sich selber befindlich. Anderswo es zu denken ist unmöglich; wo denn? folglich sich selbst und sich selbst. Denn es ist ja nicht im sinnlich Wahrnehmbaren, wie man meint. Denn jedes Erste ist nicht das sinnlich Wahrnehmbare; denn die an der Materie haftende Form darin ist ein Bild des Seienden und jede Form in einem andern geht von einem andern in jenes ein und ist ein Abbild jenes. Wenn es ferner einen Schöpfer dieses Weltalls geben muss, so wird dieser nicht das in dem noch nicht Seienden denken,[218] damit er es schaffe. Vor der Welt also muss jenes sein, nicht Typen von etwas anderem her, sondern Archetypus und Erstes und Wesen des Intellects. Wenn sie behaupten, es genügen die Begriffe, so verstehen sie offenbar ewige; sind sie aber ewig und affectionslos, so müssen sie in einem derartigen Intellect sein und der früher ist als Zustand, Natur und Seele; denn diese sind der Möglichkeit nach. Der Intellect also ist das wahrhaft Seiende, nicht wie es ist wenn er's anderswo denkt; denn es ist weder vor ihm noch nach ihm; sondern er ist gleichsam der erste Gesetzgeber, vielmehr selbst das Gesetz des Seins. Der Satz ist also richtig: ›Denken und Sein sind identisch‹, und die von der Materie losgelöste Wissenschaft fällt zusammen mit der Sache, und ›ich suchte mich selbst‹ als eins von dem Seienden; denn nichts von dem Seienden ist ausserhalb oder im Raume, es bleibt vielmehr stets in sich selbst, ohne einer Veränderung oder Vernichtung zu unterliegen; darum ist es auch wahrhaft seiend. Dagegen wird das Werdende und Vergehende von dem Seienden als einem herzugebrachten Gebrauch machen und nicht jenes, sondern dies wird das Seiende sein. Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge also sind was sie heissen durch Theilnahme, indem die zu Grunde liegende Natur die Form anderswoher erhält, z.B. das Erz von der Kunst Statuen zu giessen und das Holz von der Baukunst, indem die Kunst durch ein Bild in dieselben eingeht, während die Kunst selbst ausserhalb der Materie in der Identität verharrt und die wahre Bildsäule und das Bett [dem Begriffe nach] hat. So geschiehts denn auch bei den Körpern. Auch dieses All, das an Abbildern Theil hat, zeigt, dass das Seiende von ihnen verschieden ist, indem jenes unveränderlich, diese veränderlich sind, dass jenes in sich selbst bleibt ohne eines Ortes zu bedürfen. Denn es ist nicht Grösse, es hat eine vernünftige und sich selbst genügende Hypostase. Denn die Natur der Körper will von einem andern in ihrem Bestand erhalten werden, der Intellect aber, welcher mit seiner bewundernswürdigen Natur das von sich selbst Fallende emporhält, sucht selbst keinen festen Standort.

6. Der Intellect sei also das Seiende und alles in sich selbst nicht wie an einem Ort Enthaltende, sondern er enthalte es wie sich selbst und sei für dasselbe die Einheit. Alles aber ist dort zusammen und nichtsdestoweniger gesondert. Hat doch auch die Seele alle Wissenschaften zusammen und doch hat sie in sich kein Gemisch und eine jede [Wissenschaft] thut, wenn nöthig, ihr eigen Werk ohne die andern mit herbeizuziehen,[219] ein jeder Gedanke aber wirkt rein aus den drinnen liegenden Gedanken. So also ist auch der Intellect noch viel mehr alles zusammen und wieder nicht zusammen, weil ein jedes eine besondere Kraft für sich ist; der gesammte Intellect aber umfasst alles wie das Genus die Arten und wie das Ganze die Theile. Und auch mit den Kräften der Samenkörner verhält es sich ganz in der beschriebenen Weise; denn in dem Ganzen ist alles ungeschieden und die Begriffe liegen wie in einem Mittelpunkt; und es giebt einen andern Begriff des Auges, einen andern der Hände, welcher als ein von dem gewordenen verschiedener durch das sinnlich Wahrgenommene selbst erkannt wird. Was also die in den Samenkörnern enthaltenen Kräfte betrifft, so ist eine jede von ihnen ein vollständiger Begriff mitsammt den in ihm enthaltenen Theilen, von denen der körperliche Materie hat, z.B. soweit er feucht ist, er selbst aber [der Begriff] ist Form als das Ganze und der nämliche Begriff durch die zeugende Form der Seele, welche das Bild einer andern höheren Seele ist. Diese nennen einige die Natur in den Samenkörnern, welche von dorther von dem vor ihr erregt, wie das Licht vom Feuer, die Materie bewegte und bildete, nicht durch Stoss und Druck, auch nicht durch Anwendung der viel berufenen Hebel, sondern durch Mittheilung von Begriffen.

7. Was aber die Wissenschaften in der vernünftigen Seele betrifft, so sind die der sinnlich wahrnehmbaren Dinge (wenn man von Wissenschaften dieser reden darf, es passt aber für sie der Name Meinung) später als die Dinge und Bilder von diesen; die der intelligiblen Dinge aber, welche eben in Wahrheit Wissenschaften sind, gelangen von dem Intellect her in die vernünftige Seele und denken nichts Sinnliches; sofern sie aber Wissenschaften sind, sind sie eben jedes was sie denken und haben in sich das Gedachte wie das Denken, weil der Intellect drinnen ist, der eben das Erste ist, stets einig mit sich selbst und als Energie existirend, der nicht strebt als hätte er nicht, oder hinzuerwirbt oder discursiv ausdenkt was ihm vorher etwa nicht zur Hand war – denn das sind Affecte der Seele – sondern er sieht sich selber da und ist alles zusammen ohne nachzudenken, damit er jegliches zu Stand und Wesen bringe. Denn nicht, wann er Gott dachte, wurde Gott, noch wurde Bewegung, wann er Bewegung dachte. Daher ist es auch nicht richtig die Formen [Ideen] Gedanken zu nennen in dem Sinne: da er es dachte, wurde dieses oder ist dieses. Denn früher als dieses Denken musste das Gedachte sein. Oder wie käme es sonst dazu es zu denken? Denn sicherlich geschah[220] es nicht aufs Gerathewohl noch strengte es sich umsonst an.

8. Wenn also das Denken auf ein Immanentes geht, so ist jenes Immanente die Form und dies die Idee. Was ist dies nun? Intellect und intelligible Wesenheit; nicht verschieden vom Intellect ist jede Idee, sondern eine jede Intellect. Und der Intellect in seiner Gesammtheit ist die Gesammtheit der Ideen [Formen], jede Idee aber jeder Intellect, wie die gesammte Wissenschaft die Gesammtheit der Theoreme, und jeder Theil der ganzen [Wissenschaft] ist nicht örtlich getrennt, vielmehr hat jeder seine Kraft in dem Ganzen. Es ist also dieser Intellect in sich selbst und indem er sich in ruhigem Beharren hat, ist er stets Sättigung und Fülle [koros auch Sohn]. Wenn nun der Intellect früher als das Seiende gedacht würde, so müsste man sagen, der Intellect vollende und zeuge das Seiende durch sein Wirken und Denken; da man aber das Seiende vor dem Intellect denken muss, so muss man annehmen, dass das Seiende in dem Denkenden liegt, dass aber die Wirksamkeit und das Denken dem Seienden zukomme, wie ja auch dem Feuer die Wirksamkeit des Feuers, damit es in sich den Intellect, der eins ist, in sich als seine eigene Wirksamkeit habe. Es ist auch das Seiende Wirksamkeit; beide also haben eine Wirkungskraft, vielmehr beide sind eins. Eine Natur also ist das Seiende und der Intellect, daher auch das Seiende und die Wirkungskraft des Seienden und der so beschaffene Intellect; und die so entstehenden Gedanken sind die Form und Gestalt des Seienden und die Wirkungskraft. Gedacht aber wird von uns, die wir trennen, das eine vor dem andern. Denn ein anderer ist der trennende Intellect, der untheilbare aber und nicht trennende ist das Seiende und alles insgesammt.

9. Was ist nun das in dem einen Intellect, welches wir in unserm Denken trennen? Man muss es nämlich ruhig für sich allein vorbringen, gleichsam aus der in Einem befindlichen Wissenschaft das darin Enthaltene anschauen. Da also diese Welt ein lebendes Wesen ist, welches alle Wesen umfasst und von einem andern das Sein und dies bestimmte Sein hat, und da das, von dem sie ist, auf den Intellect zurückgeführt wird, so muss nothwendig auch im Intellect das ganze Urbild sein und dieser Intellect muss die intelligible Welt sein, von welchem Plato sagt: [er sieht die Ideen] in dem was ein lebendes Wesen ist. Denn wie, wenn der Begriff eines lebenden Wesens und die Materie, die den im Samen beschlossenen Begriff aufgenommen, da sind, ein lebendes Wesen entstehen muss, ebenso[221] muss auch, wenn eine vernünftige und eine durchweg potentielle Natur da ist und nichts sie trennt, da zwischen diesem und dem was ihn aufnehmen kann nichts liegt, das eine geschmückt [geordnet] werden und das andere schmücken. Und das Geschmückte hat die Idee getrennt, hier den Menschen dort die Sonne; das Schmückende aber hat alles in Einem.

10. Was nun wie Ideen [Formen] in dem sinnlich Wahrnehmbaren ist, das stammt von dort; was aber nicht, nicht. Deshalb ist auch dort nichts naturwidriges, wie auch in den Künsten nichts kunstwidriges und im Samen keine Lahmheit. Die Lahmheit der Füsse schon bei der Geburt kommt daher, weil der Begriff nicht die Oberhand gewonnen, die zufällig entstandene ist Verlust [Schädigung] der Form [Idee]. Naturgemässe Qualitäten also wie Quantitäten, Zahlen wie Grössen, Zeugungen wie Zustände, Einwirkungen wie Affectionen der Natur gemäss, Bewegung wie Ruhe im ganzen wie im einzelnen gehören jener Ordnung dort an; statt der Zeit herrscht die Ewigkeit; der Raum ist dort intelligibler Weise das Ineinander. Da also dort alles zusammen ist, so ist, was du auch ergreifst, intelligible Wesenheit und ein jedes hat Theil am Leben und ist dasselbe und ein anderes und Ruhe und bewegt und stehend und Wesenheit und Qualität und alles Wesenheit. Denn auch der Wirklichkeit nach, nicht der Möglichkeit nach, ist jedes Seiende, so dass das Quale nicht getrennt ist von einer jeden Substanz. Sind nun etwa bloss die Dinge in der sichtbaren Welt dort oder auch anderes mehr? Indessen gilt es zuvor die Gegenstände der Kunst zu untersuchen. Um das Böse freilich handelt sich's nicht; denn das Böse ist hier aus Mangel, Beraubung und Defect, ist eine Affection der formlosen Materie und was der Materie ähnlich.

11. Also die Gegenstände der Kunst und die Künste. Von den Künsten nun lassen sich alle nachahmenden, Malerei und Plastik, Tanzkunst und Mimik der Hände, die hier irgendwo zu Stande gekommen sind und ein sinnliches Vorbild zu Rathe ziehen und Formen nachahmen und Bewegungen und die geschauten Symmetrien wiedergeben, füglich nicht dorthin zurückführen, ausser durch menschliche Reflexion. Wenn aber aus der Symmetrie in den Thieren auf einen gewissen Zustand aller lebenden Wesen als eines Ganzen geschlossen wird, so wird sie ein Theil der Kraft sein, die auch dort nachsinnt und die allgemeine Symmetrie im Intelligiblen schaut. Dann wird auch jede musische Kunst, deren Gedanken sich um Harmonie und Rhythmus bewegen, sich auf dieselbe Weise verhalten wie die mit dem intelligiblen Rhythmus beschäftigte.[222] Diejenigen aber, welche kunstgerechte sinnliche Gegenstände schaffen, wie die Baukunst und Tektonik, dürften, soweit sie Symmetrien zu Hülfe nehmen, die Principien und einen Theil der Gedanken von dorther haben; indem sie dies mit dem sinnlichen Gegenstand verbinden, dürfte das Ganze nicht dort sein, vielmehr im Menschen. Sicherlich auch die Agricultur nicht, die sich mit der sinnlichen Pflanze befasst, noch die Medicin, die auf die Gesundheit hier, noch die Kunst, die auf Stärke und Wohlbefinden abzielt; denn dort ist eine andere Kraft und Gesundheit, derzufolge alles was lebendig heisst unentwegt und sich selbst genug ist. Aber die Rhetorik und Strategie, die Oekonomie und Staatsverwaltung, wenn sie etwa das Schöne mit den Thaten verbinden, haben, falls sie auf jenes schauen, von dorther einen Beitrag zu ihrer Wissenschaft aus der Wissenschaft dort. Der Geometrie aber, die es mit dem Intelligiblen zu thun hat, ist dort ihr Platz anzuweisen, desgleichen der Weisheit, die hoch oben um das Seiende sich bewegt.

12. Wenn aber die Idee des Menschen dort ist, so auch die des denkenden und künstlerischen, also auch die Künste, welche Erzeugnisse des Intellects sind. Man muss aber auch sagen, dass die Ideen auf das Allgemeine gehen, nicht auf den Sokrates sondern auf den Menschen. Es ist aber zu untersuchen, ob es auch von dem einzelnen Menschen eine Idee giebt; von dem Einzelnen deshalb, weil ein und dasselbe ein anderes ist bei einem andern, z.B. weil der eine eine platte, der andere eine Habichtsnase hat. Man muss nun annehmen, dass die Habichts- und Plattnasigkeit Unterschiede sind in der Art des Menschen, wie es eben beim lebenden Wesen Unterschiede giebt; dass es auch von der Materie herrührt, wenn der eine diese, der andere jene Art von Habichtsnase hat; ebenso dass die Unterschiede der Farbe theils im Begriff begründet sind, theils von der Materie und der verschiedenen Oertlichkeit bewirkt werden.

13. Es erübrigt noch zu sagen, ob allein die Dinge in der sichtbaren Welt dort sind oder auch, wie vom Menschen der Mensch an sich verschieden ist, so auch von der Seele die Seele an sich dort und vom Intellect der Intellect an sich verschieden ist. Zuerst nun ist zu sagen, dass man nicht alles was es hier giebt für Abbilder der Urbilder halten darf und dass die Seele kein Bild der Seele an sich ist, wohl aber dass die eine an Werth und Würde von der andern verschieden und auch hier, vielleicht jedoch nicht als hiesige, die Seele an sich ist. Ferner, dass eine jede wahrhaft seiende Seele auch Gerechtigkeit[223] und Besonnenheit bis zu einem gewissen Grade besitze und dass in unsern Seelen wahre Wissenschaft vorhanden sei, und zwar nicht als Abbilder und Gleichnisse jener, weil sie ja in der sichtbaren Welt wären, sondern jenes ist ebendasselbe auch hier; denn jenes ist nicht an einem bestimmten Ort gesondert; wo also die Seele aus einem Körper hervorgetaucht, da ist auch jenes. Denn die sichtbare Welt ist nur an einer Stelle, die intelligible überall. Soweit sich also eine derartige Seele hier erstreckt, das ist dort; folglich ist, wenn man unter den Dingen der sichtbaren Welt die sinnlich wahrnehmbaren befasst, nicht allein das in der sichtbaren Welt Vorhandene dort, sondern noch mehr; befasst man aber unter den Dingen in der Welt auch die Seele und was der Seele angehört, so ist alles hier was auch dort ist.

14. Hat man nun die alles umfassende Natur im In telligiblen als Princip zu setzen und wie geschieht das, da das Princip schlechthin eins und absolut einfach, in den vorhandenen Dingen aber eine Vielheit ist? Wie indessen neben dem Einen die Vielheit und wie dies alles besteht und weshalb der Intellect dies ist und woher, müssen wir von einem andern Ausgangspunkt her auseinandersetzen. Was aber die Frage betrifft, ob es dort auch eine Idee giebt von verfaulten und wiederwärtigen Dingen, ferner von Schmutz und Koth, so ist zu sagen: was der Intellect von dem Ersten her bringt, ist alles ganz vortrefflich, darin befindet sich solches nicht, und aus diesen Dingen erkennt man nicht den Intellect, sondern die vom Intellect herrührende Seele, welche anderes von der Materie hergenommen hat, worunter sich solches befindet. Hierüber wird jedoch deutlicher gesprochen werden, wenn wir zu dem Problem wieder aufgestiegen sind, wie aus dem Einen die Vielheit entsteht: dass nämlich die zusammengesetzten Dinge, die durch Zufall entstehen, die nicht durch den Intellect sondern von selbst als sinnlich wahrnehmbar zusammentreten, nicht unter den Ideen sind, desgleichen die aus Fäulniss entstandenen, indem die Seele etwas anderes nicht schaffen konnte – widrigenfalls würde sie etwas von den Naturdingen geschaffen haben; schafft sie doch wenigstens wo sie kann –; ferner wird von den Künsten gezeigt werden, dass diejenigen Künste, welche zurückgeführt werden auf die menschliche Natur, in dem idealen Menschen sind; endlich, dass es vor der Einzelseele eine Allseele und vor dieser eine Seele an sich giebt, d.h. das Leben im Intellect bevor die Seele wurde, damit es eben geschehen könne jene die Seele an sich zu nennen.[224]

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 2, Berlin 1880, S. 215-225.
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