Neuntes Buch.
Ueber das Gute oder das Eine

[436] 1. Alles Seiende ist durch das Eine seiend, sowohl das, was ursprünglich seiend ist, als auch das, was irgendwie zu dem Seienden gezählt wird. Denn was sollte es auch sein, wenn es nicht Eins wäre? Da ja jenes, des Einen beraubt, nicht ist was es genannt wird. Denn es giebt weder ein Heer, wenn es keine Einheit geben soll, noch einen Chor noch eine Heerde ohne Einheit. Aber auch ein Haus oder ein Schiff giebt es nicht ohne dass sie das Eine haben, wenn anders das Haus und das Schiff eine Einheit bilden; wenn sie diese verloren haben, so ist das Haus nicht mehr Haus und das[436] Schiff nicht mehr Schiff. Die continuirlichen Grössen hören demnach auf zu sein, wenn in ihnen das Eine nicht vorhanden ist; zertheilt wenigstens alteriren sie das Sein in sofern, als sie das Eine zerstören. Ebenso auch die Körper der Pflanzen und Thiere, deren jeder eine Einheit bildet: wenn sie in eine Vielheit zerrieben das Eine verlassen, so vernichten sie ihr eigenes Wesen und sind nicht mehr was sie waren, sondern sind andere geworden und zwar jene, die vermöge einer Einheit existiren. Auch die Gesundheit ist dann vorhanden, wenn der Körper zur Einheit geordnet worden, desgleichen Schönheit, wenn die Natur des Einen die Theile zusammenhält; ferner Tugend der Seele, wenn diese zur Einheit geführt und zu einer Harmonie geeint worden ist. Muss man nun etwa, da die Seele alles schaffend, bildend, gestaltend, ordnend zur Einheit führt, auf diese recurriren und sagen, dass sie den Reigen des Einen führt und diese das Eine ist? Nein, wie sie, die den Körpern das andere zuführt, nicht selbst ist was sie giebt, z.B. Gestalt und Form, die vielmehr von ihr selbst verschieden sind, so muss man, wenn sie auch eine Einheit giebt, doch annehmen, dass sie dieselbe als eine von ihr selbst verschiedene giebt und dass sie auf das Eine blickend ein jedes zu einer Einheit macht, wie sie auch auf einen Menschen blickend einen Menschen macht, indem sie mitsammt dem Menschen das in ihm liegende Eine ergreift. Denn von den Dingen, die eins genannt werden, ist ein jedes in der Weise eins, wie es seinem Wesen nach ist. Es hat also das weniger Seiende das Eine weniger, das mehr Seiende mehr. Es hat auch die Seele als etwas von dem Einen verschiedenes das Eine, je nachdem sie in höherem Grade und wahrhaft ist, jedoch ist sie das Eine selbst nicht; denn die Seele ist eine und gewissermassen per Accidens das Eine, es sind hier zwei, Seele und Eins, wie auch Körper und Eins. Das Discrete, wie z.B. ein Chor, liegt ferner ab von dem Einen, das Continuirliche steht ihm näher; die Seele steht ihrerseits noch in engerer Gemeinschaft mit ihm. Wenn man aber deshalb, weil die Seele überhaupt nicht sein kann ohne eins zu sein, die Seele und das Eine identificirt, so existirt zunächst auch alles andere nur in Gemeinschaft mit dem Einen; aber gleichwohl ist das Eine von ihm verschieden; denn Körper und Eins sind nicht identisch, sondern der Körper hat Theil an dem Einen. Sodann ist auch die eine Seele eine vielfache, wenn sie auch nicht aus Theilen besteht; denn es liegen eine Menge von Kräften in ihr: Zorn, Begehren, Vorstellen u. a., welche durch das Eine wie durch ein festes[437] Band zusammengehalten werden. Die Seele führt nun zwar als eine das Eine auch selbst einem andern zu; aber sie leidet dies auch ihrerseits von einem andern.

2. Ist nun etwa bei dem nach Theilen gegliederten Einen das Wesen und das Eine nicht identisch, bei dem als Ganzes Seienden und der Substanz dagegen das Wesen desselben und das Eine identisch? Dann würde, wer das Seiende gefunden hätte, auch das Eine gefunden haben, und dass eben die Substanz das Eine selber sei. Wenn z.B. die Substanz Intellect wäre, so würde auch das Eine Intellect sein, nämlich als ein ursprünglich Seiendes und ursprüngliches Eine, der so auch den andern Dingen Antheil am Sein und in demselben Maasse auch an dem Einen gewährte. Denn als was wollte man ausser dem Sein selbst auch das Eine bezeichnen? Es wäre in der That identisch mit dem Einen; denn ›Mensch‹ und ›ein Mensch‹ wären identisch; in derselben Weise wie jedes eine Zahl hat, wie wenn man gewisse Dinge zwei nennt, würde das Eine dem Ding allein zukommen. – Wenn nun die Zahl zu dem Seienden gehört, so gehört dazu offenbar auch das Eine; und es fragt sich, was es ist. Wenn es aber nur eine Thätigkeit der Seele ist, welche durch Zählen sich in den Dingen orientirt, so ist das Eine nichts an den Dingen selbst. Aber die Erörterung ergab, dass wenn jedes Einzelobject das Eine verlöre, es überhaupt nicht sein würde. Es gilt also zuzusehen, ob das Eine in jedem einzelnen Falle und das Seiende, ebenso ob das Seiende überhaupt und das Eine identisch sind. Allein wenn das Seiende die Vielheit jedes Einzelnen ist und das Eine unmöglich eine Vielheit sein kann, so ist beides von einander verschieden. Ein Mensch wenigstens ist ein lebendiges, ein vernünftiges Wesen und hat viele Theile und diese vielen Theile werden durch das Eine gebunden; ein anderes ist also Mensch und Eines, wenn das eine theilbar, das andere untheilbar ist. Ebenso dürfte auch das ganze Seiende, das alle seienden Dinge in sich befasst, vielmehr ein Vieles sein und verschieden von dem Einen, während es durch Theilnahme und Berührung allerdings das Eine hat. Das Seiende hat auch Leben und Intellect, denn es ist ja nicht todt; also ist das Seiende vieles. Sollte dies Eine der Intellect sein, so müsste es auch auf diese Weise vieles sein. Und dies in noch höherem Grade, wenn der Intellect die Ideen umfasst; denn die Idee ist nicht Eins, sondern vielmehr eine Zahl, sowohl jede einzelne als die gesammte, und so ist sie eine, wie die Welt eine ist. Ueberhaupt ist das Eine das Erste, aber der Intellect, die[438] Ideen und das Seiende sind nicht das Erste. Denn eine jede Idee [Form] besteht aus Vielem und ist ein Zusammengesetztes und Späteres; denn jenes, aus dem ein jedes besteht, ist früher. Dass aber der Intellect nicht das Erste sein kann, wird auch aus Folgendem klar sein: Der Intellect muss nothwendig im Denken sein und gerade der beste und nicht auf das Aeussere blickende muss das vor ihm Seiende denken; denn indem er sich zu sich selbst wendet, wendet er sich zum Anfang. Und wenn er selbst das Denkende und das Gedachte ist, so wird er zwiefach sein und nicht einfach noch auch das Eine; wenn er aber auf das Andere blickt, so blickt er schlechterdings auf das Bessere und vor ihm Befindliche. Wenn er indessen sowohl auf sich selbst als auf das Bessere blickt, dann ist er auch so ein Zwiefaches [Zweites]. Und man muss den Intellect als einen solchen setzen, der dem Guten und dem Ersten nahe ist und auf dasselbe blickt, der aber auch bei sich selbst ist und sich selbst denkt als einen, der alles ist. Weit gefehlt also, dass er als ein vielfacher das Eine sei. Es wird demnach auch das Eine nicht alles sein, denn dann wäre es nicht mehr Eins; auch nicht Intellect, denn dann wäre es das Ganze des Intellects, der alles ist; auch nicht das Seiende, denn das Seiende ist alles.

3. Was wäre denn nun das Eine und welche Natur hat es? Kein Wunder, dass dies nicht leicht zu sagen ist, da es auch das Seiende und die Form nicht ist; und doch stützt sich für uns die Erkenntniss auf Formen. Je weiter aber die Seele zum Formlosen fortschreitet, da vermag sie, weil sie nicht determinirt und gleichsam gestaltet wird von dem mannigfach Gestaltenden, es nicht zu begreifen: sie schwankt und besorgt nichts zu haben. Deshalb arbeitet sie sich ab in solchen Dingen und froh steigt sie herab, indem sie mehrfach von allem herabsinkt, bis sie bei einem sinnlich Wahrnehmbaren anlangt und dort wie an festem Lande ausruht; so wird ja auch das Auge müde bei kleinen Gegenständen und ruht gern auf grossen. Wenn aber die Seele an und für sich schauen will, so glaubt sie, indem sie nur schaut in der Vereinigung und dem Einssein, doch noch nicht durch das Einssein mit ihm das Gesuchte zu haben, weil sie von dem Gedachten nicht verschieden ist. Gleichwohl muss so verfahren, wer über das Eine philosophiren will. Da es also Eins ist was wir suchen und da wir das Princip aller Dinge betrachten, das Gute und das Erste, so muss, wer das Princip und Eine schauen will, einerseits sich nicht entfernen von der Umgebung des Ersten und nicht in das[439] Allerletzte herabsinken, sondern er muss streben, sich selbst in das Erste zurückzuführen von den äussersten sinnlichen Dingen, und von aller Schlechtigkeit frei sein, da er ja zum Guten strebt; andererseits muss er aufgestiegen sein zu dem Princip in sich und Eins aus vielen geworden sein. Er muss also Intellect werden und seine eigene Seele dem Intellect anvertrauen und fest in ihm gründen, damit sie was jener schaut wachend aufnehme, und hiermit muss er das Eine schauen, ohne irgend eine sinnliche Wahrnehmung oder etwas von ihr her in jenen aufzunehmen, sondern mit dem reinen Intellect muss er das Reinste schauen und mit der ersten Kraft des Intellects. Wenn nun der zum Schauen eines solchen Ausgerüstete sich Grösse oder Gestalt oder Masse an dieser Natur vorstellt, so wird ihm nicht der Intellect der Führer zum Schallen, weil der Intellect seiner Natur nach solches nicht schauen kann, sondern die Thätigkeit ist die der sinnlichen Wahrnehmung und des der sinnlichen Wahrnehmung folgenden Meinens. Aber man muss vom Intellect die Kunde dessen empfangen, wozu er im Stande ist. Es vermag aber der Intellect zu schauen entweder die vor ihm liegenden oder die ihm zugehörigen oder die von ihm ausgehenden Dinge. Rein sind auch die in ihm, noch reiner und einfacher die vor ihm, oder vielmehr das vor ihm Liegende. Dies ist also auch nicht Intellect, sondern vor dem Intellect; denn der Intellect ist etwas von dem Seienden; jenes aber ist nicht etwas, sondern vor einem jeden, auch nicht seiend; denn das Seiende hat gleichsam die Gestalt des Seienden, jenes aber ist ohne Gestalt, auch ohne intelligible Gestalt. Denn da die Natur des Einen die Erzeugerin aller Dinge ist, so ist sie nichts von allen. Es ist also weder etwas noch ein Quale noch Quantum noch Intellect noch Seele; es bewegt sich auch weder noch steht es andererseits, ist nicht im Raum, nicht in der Zeit, sondern das an sich Einzigartige oder vielmehr Gestaltlose vor aller Form, vor aller Bewegung, vor der Ruhe; denn diese Dinge gehören zum Seienden, welche es selbst zu vielem machen. Warum ist es nun, wenn nicht bewegt, nicht stehend? Weil eins von beiden oder beides nothwendig zum Seienden gehört und das Stehende durch Stabilität stehend ist und nicht identisch mit der Stabilität; folglich wird diese ihm accidentiell zukommen und es bleibt nicht mehr einfach. Auch wenn wir es den Grund nennen, prädiciren wir nicht etwas was ihm, sondern was uns zukommt, weil wir etwas von ihm her haben, während jenes in sich selbst ist. Man darf es streng gesprochen auch weder ›jenes‹ noch ›dieses‹[440] nennen, sondern wir, die wir es gleichsam von aussen umkreisen, dürfen nur unsere eigenen Affectionen interpretiren wollen, indem wir ihm bald nahe stehen, bald weiter von ihm abfallen wegen der mit seiner Betrachtung verknüpften Schwierigkeiten.

4. Die Schwierigkeit wird deshalb ganz besonders gross, weil jenes weder auf dem Wege der Wissenschaft noch des Denkens, wie das andere Intelligible, begriffen werden kann, sondern durch die Gegenwart eines Grösseren als die Wissenschaft. Die Seele fühlt aber den Abstand von dem Einssein und ist nicht gänzlich Eins, wenn sie Wissenschaft von etwas gewonnen hat; denn die Wissenschaft ist Begriff, der Begriff aber ist vieles. Sie verfehlt also das Eine, nachdem sie in Zahl und Vielheit gesunken. Ueber die Wissenschaft muss sie demnach hinauseilen und an keinem Punkt aus dem Einssein heraustreten, sondern sie muss abstehen auch von der Wissenschaft und deren Objecten, von allem andern und auch von einem schönen Gegenstand des Schauens. Denn alles Schöne ist später als jenes und von jenem, wie alles Tageslicht von der Sonne stammt. Deshalb sagt auch Plato, jenes sei weder auszusprechen noch zu schreiben. Aber wir sprechen und schreiben, indem wir den Geist hinsenden zu jenem und ihn von den Begriffen aus zum Schauen erregen, gleichsam dem den Weg zeigen, der etwas zu schauen wünscht. Denn bis zum Weg und zur Reise geht das Lehren, das Schauen aber ist schon ein Werk dessen, der den Entschluss gefasst hat zu schauen. Wenn aber jemand nicht zum Schauen gekommen ist, auch die Seele kein Verständniss jenes strahlenden Glanzes dort gewonnen, noch einen der Liebessehnsucht gleichen Eindruck, da der Liebhaber in dem Geliebten erst zur Ruhe kommt, aus dem Schauen erfahren oder in sich aufgenommen hat; wenn jemand dabei zwar wahrhaftiges Licht aufgenommen und die ganze Seele erleuchtet hat durch die grössere Annäherung, aber nach dem Aufsteigen hinterher doch noch mit dem beschwert ist, was dem Schauen hinderlich war, und nicht allein aufgestiegen ist, sondern noch behaftet mit dem trennenden Element und noch nicht zur Einheit zusammengeschlossen – denn wirklich ist jenes [Eine] nicht fern von einem jeden und doch auch fern von allem, so dass es gegenwärtig nicht gegenwärtig ist ausser für die, welche es aufzunehmen vermögen und so ausgerüstet sind, dass sie sich ihm anpassen und es ergreifen und berühren durch Aehnlichkeit und mit der Kraft in ihnen, die wesensverwandt ist mit der von ihm ausgehenden (wenn sie sich nämlich so verhält[441] wie sie war, als sie von ihm ging), nunmehr jenen [Gott] schauen können wie er seiner Natur nach zu schauen ist – : wenn also jemand noch nicht dort ist, sondern dieser Dinge wegen oder aus Mangel an einem leitenden und sichere Kunde von jenem gewährenden Begriff noch ausserhalb steht, der messe sich um jener Dinge willen selbst die Schuld bei und versuche von allem sich absondernd allein zu sein, was er aber in der begrifflichen Erörterung an Beweiskraft vermisst, darüber stelle er folgende Erwägungen an.

5. Wer glaubt, dass das Seiende durch Zufall und blindes Ungefähr geordnet und durch körperliche Ursachen zusammengehalten wird, der ist weit entfernt sowohl von Gott als von dem Begriff des Einen, und zu solchen reden wir nicht, sondern zu denen, die ausser den Körpern eine andere Natur setzen und aufsteigen bis zur Seele. Und diese müssen die Natur der Seele genau durchdenken, sowohl in den anderen Beziehungen als dahin, dass sie von dem Intellect stammt und durch Theilnahme an der von ihm ausgehenden Vernunft ihre Vortrefflichkeit erhält; darauf hat man anzunehmen, dass der Intellect verschieden ist von dem Denkenden und sogenannten Denkvermögen und dass die Gedanken bereits gleichsam auseinander getreten und in Bewegung sind, desgleichen dass die Wissenschaften Begriffe in der Seele und als solche [Wissenschaften] nunmehr offenbar geworden sind, dadurch dass in der Seele der Intellect der Grund der Wissenschaften geworden ist; ferner muss, wer den Intellect gleichsam sinnlich wahrnehmbar als über der Seele thronend und als ihren Vater geschaut hat, vom Intellect sagen, er fasse als ruhige und unveränderliche Bewegung alles in sich und sei alles, eine ununterscheidbare und doch wieder geschiedene Vielheit: denn weder ist er geschieden wie die bereits als Eins gedachten Begriffe, noch fliesst sein mannigfacher Inhalt zusammen. Jedes einzelne tritt nämlich gesondert heraus, wie auch in den Wissenschaften, obwohl alles ungetheilt ist, doch jedes einzelne gesondert ist. Diese in sich geschlossene Vielheit nun, der intelligible Kosmos, ist zwar dem Ersten nahe und die Beweisführung erweist sie so als nothwendig, wenn anders auch die Seele in ihrer Existenz nachgewiesen wird; diese aber steht höher als die Seele: jedoch ist sie nicht das Erste, weil sie nicht Eins und einfach ist; einfach ist aber das Eine und das Princip aller Dinge. Das vor dem Werthvollsten im Bereich des Seienden Stehende also, wenn anders etwas vor dem Intellect sein muss, das zwar Eins sein will, aber nicht Eins ist,[442] wohl aber Einsartig, weil ihm der Intellect noch nicht zerstreut vorliegt, sondern derselbe wahrhaft in sich selbst beisammen ist, indem er sich als unmittelbar an dem Einen befindlich nicht in seine Glieder auseinanderlegt, doch aber in gewisser Weise von dem Einen sich zu entfernen wagt – dies Wunder vor dem Intellect also ist das Eine, weil es nicht, seiend ist, damit auch hier das Eine nicht von einem andern prodicirt werde, dem in Wahrheit zwar kein Name zukommt, das aber, wenn man es denn nennen muss, gemeinhin das Eine passend mag genannt werden, nicht als ob es erst etwas anderes, dann Eins wäre; es ist deshalb schwer zu erkennen, wird aber vorzüglich durch sein Erzeugniss erkannt, durch die Substanz; denn es führt den Intellect zur Substanz und seine Natur ist derartig, dass sie die Quelle des Besten ist und die das Seiende erzeugende Kraft, die in sich selbst bleibt und nicht verringert wird, auch nicht in dem durch sie Gewordenen ist, weil sie ja vor demselben ist, die wir nothwendig um sie uns gegenseitig zu bezeichnen das Eine nennen, indem wir sie durch den Namen auf eine untheilbare Vorstellung bringen und die Seele einigen wollen, wobei wir sie jedoch nicht so Eins nennen und untheilbar, wie einen Punkt oder eine Einzahl; denn das in dieser Weise Eine ist Princip des Quantitativen, was nicht zu Stande kommen würde, wenn nicht vorher die Substanz und das vor der Substanz Liegende wäre. Nicht hierauf also müssen wir das Nachdenken richten, sondern müssen diese jenen gleich behandeln nach den Analogien mit dem Einfachen und dem sich Sträuben gegen die Vielheit und die Theilung.

6. Wie nennen wir es nun Eins und wie ist es dem Gedanken anzupassen? Doch wohl dadurch dass wir es in höherem Grade als Eins setzen, als dies von einer Einzahl und einem Punkt gilt; denn hier langt die Seele nach Hinwegnahme der Grösse und Vielheit der Zahl bei dem Kleinsten an und beruht auf einem Untheilbaren zwar, das aber doch in einem Theilbaren war und das in einem andern ist; jenes aber ist weder in einem andern noch in einem Theilbaren noch so ungetheilt wie das Kleinste; denn es ist das Grösste von allen Dingen nicht der Grösse sondern der Kraft nach, so dass auch das Grösselose der Kraft nach besteht; ist doch auch das nach ihm Seiende den Kräften nach untheilbar und ungetheilt, nicht den Massen nach. Man muss es auch als unendlich fassen, nicht weil die Grösse oder die Zahl unermesslich, sondern weil die Kraft unbegreiflich ist. Denn wenn du es denkst etwa als Intellect oder Gott, so ist es noch mehr; und wiederum[443] wenn du es in deinem Denken zur Einheit führst, so ist es auch in diesem Betracht mehr als du Gott selbst mit Bezug auf die grösste Einheit deines Denkens dir hättest vorstellen können; denn es ist an und für sich ohne irgendein Accidens. Man könnte das Eine an ihm auch unter dem Begriff der Autarkie denken. Denn es muss vor allem andern zureichend, selbstgenugsam und unbedürftig sein; alles Viele aber und Nichteine ist bedürftig, weil aus vielem geworden. Es bedarf also sein Wesen des Einssein; dies aber bedarf seiner selbst nicht, denn es selbst ist es. Was vieles ist bedarf in der That so vieles als es ist, und ein jedes in ihm, das mit dem andern verbunden und nicht an sich ist, erweist sich als des andern bedürftig und zwar bedürftig sowohl im einzelnen als hinsichtlich des so beschaffenen Ganzen. Wenn also etwas durchaus sich selbst genug sein muss, so muss ein solches das Eine sein und allein in der Weise, dass es weder in Hinsicht auf sich selbst noch auf ein anderes bedürftig ist. Denn es sucht nichts, damit es sei oder damit es gut sei oder damit es dort festen Fuss fasse; denn da es der Grund des andern ist, so hat es sein Sein nicht von einem andern, und was bedeutete ihm das Gutsein ausser ihm selbst? Dabei ist das ›gut‹ für es kein Accidens, denn es ist es selbst; es hat keinen Ort, denn es bedarf keines Sitzes als könnte es sich selbst nicht tragen, und was gestützt werden soll ist unbeseelt und eine fallende Masse, wenn es noch nicht festen Fuss gefasst hat. Dies aber ist der Grund, weshalb auch das andere einen festen Sitz hat; hierdurch gelangte es zur Existenz und er hielt zugleich den Platz, an den es der Reihe nach gestellt wurde. Was einen Ort sucht ist auch bedürftig; das Princip aber bedarf des nach ihm Folgenden nicht; das Princip aller Dinge bedarf schlechterdings nichts von allem; denn was bedürftig ist, ist dies als ein nach dem Princip Strebendes. Wenn aber das Eine bedürftig ist, so sucht dies offenbar nicht Eins zu sein, also wird es des Vernichtenden bedürftig sein. Alles nun, was des Guten bedürftig heisst, ist auch des Erhaltenden bedürftig; folglich hat das Eine kein Gutes. Dem nach will es auch nichts, sondern es ist übergut und nicht für sich selbst, wohl aber für die andern Dinge gut, wenn etwas an ihm Theil nehmen kann; es ist auch nicht Denken, damit es kein Anderssein erhalte, auch nicht Bewegung, denn es ist vor der Bewegung und vor dem Denken: was sollte es auch denken? Sich selbst, wird man sagen. Dann wird er allerdings vor dem Denken unwissend sein und des Denkens bedürfen, damit[444] er sich selbst erkenne der sich selbst genug ist. Nicht jedoch, weil er sich selbst nicht kennt noch denkt, wird bei ihm Unkenntniss herrschen; denn die Unkenntniss entsteht beim Vorhandensein eines andern, wenn das eine das andere nicht kennt; was aber allein ist kennt weder etwas noch hat es etwas, was es nicht kennt, und da es Eins ist in Gemeinschaft mit sich selbst, so bedarf es nicht des Denkens seiner selbst. Denn auch die Gemeinschaft darf man nicht hinzufügen, damit man das Eine bewahre, sondern auch das Denken und die Gemeinschaft muss man hinwegnehmen wie auch das Denken seiner selbst und des andern; denn man muss es nicht setzen als ein Denkendes sondern als das Denken. Das Denken denkt nicht, sondern es ist Ursache des Denkens für ein anderes; die Ursache aber ist nicht identisch mit dem Verursachten. Die Ursache nun von allem ist nichts von jenem allen. Man muss es demnach auch nicht das Gute nennen, was es darreicht, sondern in anderer Weise das Gute über alles andere Gute.

7. Wenn du aber, weil es nichts von diesen Dingen ist, in deiner Meinung schwankst, so versetze dich selbst in diese und schaue von diesen aus; schaue aber so, dass du dein Denken nicht nach aussen richtest; denn es liegt nicht irgendwo, nachdem es sich von dem andern isolirt hat, sondern jenes ist dein, der es ergreifen kann, gegenwärtig, dem, der das nicht vermag, ist es nicht gegenwärtig. Wie man im übrigen unmöglich etwas denken kann, wenn man ein Fremdes denkt und mit anderen sich befasst, sondern wie man dem Gedachten nichts hinzufügen darf, damit es eben das Gedachte selber sei: so muss man auch hier verfahren, da man, wenn man eine andere Vorstellung [Bild] in der Seele hat, jenes nicht denken kann unter der Wirkung der Vorstellung, auch die Seele, durch anderes ergriffen und gebunden, von der Vorstellung des Gegentheils keinen Eindruck gewinnen kann; sondern wie es von der Materie heisst, sie müsse durchaus qualitätslos sein, wenn sie Typen aller Dinge in sich aufnehmen solle: so muss auch die Seele in noch weit höherem Grade ungeformt sein, wenn in ihr kein Hinderniss liegen soll für ihre Erfüllung und Erleuchtung mit der ersten Natur. Wenn dem so ist, dann muss man von allem Aeussern absehend sich zu dem schlechthin Innern wenden, nicht zu irgendeinem Aeusseren sich neigen, sondern nichts wissen von allem und zwar zuvor nach seinem Zustande, darauf auch den Ideen nach, nichts wissen auch von sich selbst und so in das Schauen jenes, mit dem man eins geworden, versinken und dann gleichsam nach hinlänglichem[445] Verkehr wieder kommen, um auch einem andern womöglich von der dortigen Gemeinschaft Kunde zu geben (eine solche Gemeinschaft pflog vielleicht Minos und deshalb wurde er von der Sage als Gesellschafter des Zeus bezeichnet; in Erinnerung an dieselbe gab er als ihre Abbilder die Gesetze, von der Berührung mit dem Göttlichen voll ausgerüstet zur Gesetzgebung) – oder man muss auch das Politische seiner selbst nicht werth achten und, wenn man will, oben bleiben, was gerade dem, der viel geschaut hat, begegnen möchte. Gott also, sagt Plato, ist nicht fern von einem jeden, sondern ist allen nahe, ohne dass sie es wissen. Sie selbst aber entfliehen ihm, oder vielmehr sie entfliehen sich selbst. Sie können darum den nicht ergreifen, dem sie entflohen sind, und können auch, da sie sich selbst vernichtet haben, keinen andern suchen; wird doch auch ein Kind, das im Wahnsinn ausser sich gerathen, seinen Vater nicht kennen; wer sich selbst aber kennen gelernt hat, wird auch wissen woher.

8. Wenn nun eine Seele sich allezeit kennt und weiss, dass ihre Bewegung keine gerade ist ausser wenn sie einen Bruch erlitten hat, dass vielmehr die naturgemässe Bewegung der Kreisbewegung entspricht, die sich nicht ausserhalb um etwas sondern um das Centrum bewegt, während das Centrum, woher der Kreis, sich um das bewegen wird, von dem es herstammt: so wird sie sich auch an das halten und sich selbst zu dem hin bewegen, wohin sich alle Seelen bewegen sollten, aber bloss die der Götter bewegen; weil sie sich dahin bewegen, sind sie Götter; denn Gott ist das mit jenem Verknüpfte, was aber fernab steht, das ist der Mensch, der vielgestaltige und thierische. Ist nun das, was gleichsam Centrum der Seele ist, das Gesuchte? Man muss etwas anderes dafür ansehen, in das gleichsam alle Centren zusammenfallen, und beachten, dass wir nur nach der Analogie des Centrums dieses bestimmten Kreises so reden – denn die Seele ist nicht ein Kreis in der Art wie die Kreisfigur, sondern weil in ihr und um sie herum die ursprüngliche Natur ist – dass sie ferner von einem solchen ersten Princip stammt und dass sie als ganze mehr vom Körper getrennt sind; so aber, da ein Theil von uns vom Körper gefesselt wird – gleichwie wenn einer die Füsse im Wasser hat, mit dem übrigen Körper aber darüber hervorragt –, erheben wir uns mit dem nicht eingetauchten Theil des Körpers, knüpfen uns damit nach unserem eigenen Centrum an das Centrum gleichsam aller Dinge, sowie die Centren der grössten Dinge an dem Centrum der[446] ausschliessenden Sphäre haften, und ruhen dann. Wenn nun die Kreise körperliche, nicht seelische Kreise wären, so würden sie sich örtlich an das Centrum knüpfen und um das irgendwo liegende Centrum sich herumlegen; da aber die Seelen selbst intelligible sind und jenes über dem Intellect liegt, so ist anzunehmen, dass die Verknüpfung mit andern Kräften geschieht, als womit das Denkende sich seiner Natur nach mit dem gedachten Object verknüpft, und zwar in höherem Maasse, derartig dass das Denkende durch Gleichheit und Identität gegenwärtig ist und mit dem Wesensverwandten sich verknüpft ohne irgend ein Trennendes. Denn Körper werden gehindert sich mit andern Körpern zu verbinden, Unkörperliches wird von Körpern nicht ausgeschlossen; beide sind also nicht räumlich getrennt, wohl aber durch Anderssein und Differenz; wenn nun das Anderssein nicht vorhanden ist, so ist das Nichtdifferente einander nahe. Jenes nun, da es kein Anderssein hat, ist immer da, wir aber nur, wenn wir kein Anderssein haben; und jenes strebt nicht nach uns, so dass es um uns wäre, sondern wir nach jenem; folglich sind wir um jenes. Und wir sind immer um jenes, doch blicken wir nicht immer auf dasselbe, sondern wie ein singender Chor, obwohl um den Chorführer sich scharend, sich wohl nach aussen schauend wendet, wenn er sich aber zum Chorführer hinwendet, schön singt und in Wahrheit um ihn ist: so sind auch wir immer um jenes und wenn nicht, dann werden wir uns gänzlich ablösen und nicht mehr [um es] sein; wir blicken nicht immer auf dasselbe, aber wenn wir auf es blicken, dann winkt uns das Ziel und die Ruhe und wir dissoniren nicht mit ihm, indem wir in Wahrheit einen gottbegeisterten Reigen um es herum aufführen.

9. In diesem Reigen schaut der Geist die Quelle des Lebens, die Quelle des Intellects, das Princip des Seienden, den Grund des Guten, die Wurzel der Seele; dabei werden jene nicht aus dem Ersten herausgeschüttet, um es dann zu verringern; denn es ist keine Masse, oder die Erzeugnisse würden vergänglich sein; nun aber sind sie ewig, weil ihr Princip bleibt wie es ist, ohne sich in dieselben zu zertheilen, vielmehr bleibt es ganz. Daher bleiben auch jene, so wie auch das Licht bleibt, wenn die Sonne bleibt. Denn wir sind nicht abgeschnitten oder abgetrennt ausser ihm, wenn auch die körperliche Natur dazwischenfahrend uns zu sich hingezogen hat, sondern wir athmen und bestehen in ihm, indem jenes nicht giebt und sich dann entfernt, sondern uns immer liebt und trägt, solange es ist was es ist. In höherem Maasse jedoch sind wir,[447] wenn wir zu jenem neigen, und unser Wohlbefinden liegt dort, während das Fernsein von ihm das Allein- und Geringersein ist; dort ruht auch die Seele, nachdem sie vom Uebel hinweg zu dem von den Uebeln reinen Ort emporgeflohen; dort denkt sie und ist frei von Affecten; auch das wahre Leben ist dort, denn das Leben hier und ohne Gott ist eine jenes nachahmende Spur des Lebens, das Leben dort aber ist Energie des Intellects, und durch Energie erzeugt es auch die Götter in wandelloser Berührung und Gemeinschaft mit jenem, erzeugt es die Schönheit, die Gerechtigkeit, die Tilgend; denn damit geht die gotterfüllte Seele schwanger und dies ist für sie Princip und Ziel; Princip, weil sie von dorther stammt, Ziel, weil das Gute dort ist und weil sie dort angelangt selbst auch wird was sie war. Denn das Dasein hier unten und in dieser Umgebung ist ein Herausfallen, eine Flucht und ein Verlieren des Gefieders. Es beweist, dass dort das Gute ist und die der Seele eingeborene Liebessehnsucht; demgemäss wird auch in Schriften und Mythen der Eros mit den Seelen verbunden. Denn da jene verschieden ist von Gott, aber aus ihm stammt, so sehnt sie sich nach ihm mit Nothwendigkeit; und dort weilend hat sie die himmlische Liebe, denn dort ist die himmlische Aphrodite, während sie hier gleichsam zur gemeinen Hetäre wird; und es ist jede Seele eine Aphrodite. Das deutet auch der Mythus von dem Geburtstag der Aphrodite und dem mit ihr geborenen Eros dunkel an. In ihrem natürlichen Zustande sehnt sich also die Seele nach Gott, um liebend mit ihm eins zu werden, gleichwie eine Jungfrau eine edle Liebe liegt zum edlen Vater; wenn sie aber zur Erzeugung herabgestiegen gleichsam durch sinnlichen Liebesgenuss verblendet ist, dann hat sie einen andern, sterblichen Eros eingetauscht und gebärdet sich frech in der Trennung vom Vater; doch fangt sie die Lascivitäten hier unten wieder an zu hassen, so reinigt sie sich wieder von irdischem Beisatz: entsühnt wendet sie sich aufs neue zum Vater und nun ist ihr wohl. Und diejenigen, denen ein solcher Affect unbekannt ist, mögen an den Aeusserungen der irdischen Liebe abnehmen, was es heisst den besonders geliebten Gegenstand zu erlangen, und bedenken, dass diese Gegenstände der Liebe sterblich und schädlich und, wie auch die Liebe sich nur auf Scheinbilder richtet, wandelbar sind, weil sie nicht das wahrhaft Liebenswerthe sind, nicht unser eigentliches Gut und was wir suchen. Dort aber ist das wahrhaft Liebenswerthe, mit dem der, welcher es ergriffen hat und wirklich besitzt, vereint bleiben kann, da es von aussen nicht mit Fleisch[448] und Blut umkleidet ist. Wer es geschaut hat, weiss was ich sage, wie nämlich die Seele dann ein anderes Leben empfängt, wenn sie herzutritt und schon herzugetreten ist und Theil an ihm gewonnen hat, also dass sie in diesem Zustande erkennt, dass der Chorführer des wahrhaftigen Lebens da ist und es keines andern mehr bedarf; im Gegentheil, man muss alles andere ablegen, in diesem allein stehen und dies allein werden, nachdem wir alle irdischen Hüllen abgestreift haben; darum müssen wir eilen von hier fortzukommen und unwillig sein über unsere Fesseln, damit wir mit unserm ganzen Wesen ihn umfangen und keinen Theil mehr an uns haben, mit dem wir nicht an Gott hangen. Da dürfen wir denn auch jenen und uns selbst schauen, wie es zu schauen frommt; uns selbst im Strahlenglanz, voll intelligiblen Lichtes oder vielmehr als reines Licht selbst, unbeschwert, leicht, Gott geworden oder vielmehr seiend; entzündet ist dann unsers Lebens Flamme, sinken wir aber wieder, wie ausgelöscht.

10. Warum bleibt nun der Mensch nicht dort? Weil er noch nicht gänzlich von hier ausgewandert ist. Es wird aber für ihn die Zeit des dauernden Schauens kommen, wenn er von keiner Unruhe des Körpers mehr belästigt wird. Es ist indessen das Schauende nicht das Beunruhigte sondern das Andere, wenn das Schauende ablässt vom Schauen, aber nicht ablässt von dem Wissen, das in Beweisgründen und Ueberredungskünsten und in der Dialektik der Seele besteht; das Schauen hingegen und das Schauende ist nicht mehr Begriff, sondern grösser als der Begriff und vor dem Begriff und unter Voraussetzung [Einwirkung] des Begriffs, wie auch das Geschaute. Nachdem er sich nun selbst erblickt hat, wird er sich dann, wenn er schaut, als einen solchen schauen, oder vielmehr wird mit sich selbst als einem solchen verbunden sein und sich als einen solchen fühlen, der einfach geworden ist. Vielleicht darf man nicht einmal sagen: er wird schauen. Was das Geschaute anbetrifft, wenn anders man hier von zweien reden darf, dem Schauenden und dem Geschauten, und nicht vielmehr beides als eins bezeichnen muss – freilich eine kühne Redeweise – so schaut nicht noch unterscheidet noch stellt es der Schauende als zweierlei vor, sondern gleichsam ein anderer geworden und nicht mehr er selbst noch sich selbst angehörend, gelangt er zugleich dort an und jenem angehörig ist er eins mit ihm, wie ein Centrum ans Centrum an ihn geknüpft; sind doch auch hier zusammentreffende Dinge eins und findet die Zweiheit nur statt, wenn sie getrennt sind.[449]

So reden auch wir jetzt von einem Unterschiedenen. Deshalb lässt sich auch ein solches Schauen schwer beschreiben. Wie sollte jemand auch etwas als ein Verschiedenes ankündigen, wenn er jenes, als er schaute, nicht als ein Verschiedenes erblickte, sondern als eins mit sich selbst?

11. Dies will offenbar das Gebot derartiger Mysterien, den Uneingeweihten nichts mitzutheilen, besagen. Da jenes nicht mittheilbar sei, so verbot es das Göttliche jemandem zu offenbaren, dem es nicht auch selber vergönnt gewesen sei zu schauen. Da also nicht zwei da waren, sondern der Schauende selbst und das Geschaute eins waren, gleich als wäre es kein Geschautes sondern Geeintes, so dürfte wer durch Vereinigung mit jenem eins geworden, wenn er sich erinnert, in sich ein Bild von jenem haben. Es war aber auch an sich eins, ohne irgend eine Differenz mit sich noch mit andern in sich zu haben; denn nichts bewegte sich in ihm, kein Zorn, keine Begierde nach etwas anderem war nach seinem Aufsteigen bei ihm vorhanden, ja auch kein Begriff, kein Gedanke, überhaupt er selbst nicht, wenn man auch dies sagen darf; sondern wie entzückt und gottbegeistert steht er gelassen in einsamer Ruhe und ohne Wandel da, mit seinem Wesen nirgends abweichend und sich nicht einmal um sich selbst herumdrehend, überall fest stehend und gleichsam Stillstand geworden; auch um das Schöne bekümmert er sich nicht, sondern auch über das Schöne ist er hinaus, hinaus auch über den Reigen der Tugenden, einem Mann vergleichbar, der in das innerste Heiligthum eingedrungen ist und die Götterbilder im Tempel hinter sich gelassen hat, welche ihm beim Herausgehen aus dem Adyton wieder zuerst begegnen nach der Schau drinnen und dem Umgang mit dem, was nicht Gestalt und Bild sondern das göttliche Wesen selbst ist; die Bilder waren denn also Gegenstände des Schauens in zweiter Linie. Dies aber ist vielleicht nicht eine Schau, sondern eine andere Art des Sehens, eine Ekstase, eine Vereinfachung und Hingabe seiner selbst, ein Streben nach Berührung, eine Ruhe und ein Sinnen auf Vereinigung, wenn überhaupt einer das Wesen im Adyton schauen wird. Blickt er auf andere Weise, so ist ihm nichts gegenwärtig. Dies also sind bildliche Analogien, und die Weisen unter den Propheten deuten wenigstens an, wie jener Gott geschaut wird; ein weiser Priester aber, der das Geheimniss versteht, möchte dort angelangt das Schauen des Allerheiligsten wohl erwirken. Und ist er dort nicht angelangt, so wird er dies Adyton, weil er es für etwas Unsichtbares, für Quelle[450] und Princip hält, kennen wie er durch das Princip das Princip schaut und mit ihm sich vereint und durch Gleiches Gleiches percipirt, indem er nichts von dem Göttlichen, soviel die Seele fassen kann, dahinten lässt. Und vor dem Schauen verlangt er nachdem, was von dem Schauen noch erübrigt; es erübrigt aber für den, der alles überschritten hat, das was vor allem und über allem ist. Denn die Natur der Seele wird ja nicht bei dem schlechthin Nichtseienden anlangen, sondern herabsteigend wird sie beim Bösen anlangen und so bei dem Nichtseienden, nicht bei dem schlechthin Nichtseienden; auf dem entgegengesetzten Wege wird sie anlangen nicht bei einem anderen, sondern bei sich selbst, und so ist sie, weil nicht in einem andern, in nichts, sondern in sich selbst; in sich allein sein und nicht in dem Seienden, heisst in jenem sein; denn es wird auch jemand selbst nicht Substanz, sondern er überragt die Substanz insoweit, als er mit Gott in Gemeinschaft steht. Wenn nun jemand sieht, dass er dies geworden, so hat er an sich selbst ein Ebenbild jenes, und wenn er von sich selbst aus hinübergeht wie das Abbild zum Urbild, so hat er das Ziel der Reise erreicht. Ist er aber aus dem Schauen gefallen, so wird er die Tugend in sich erwecken, sich selbst als allseitig geschmückt wahrnehmen und so sich wieder aufschwingen, durch die Tugend zum Intellect, durch die Weisheit zu Gott. Und so ist das Leben der Götter, der göttlichen und glückseligen Menschen eine Befreiung von allen Erdenfesseln, ein Leben ohne irdisches Lustgefühl, eine Flucht des einzig Einen zum einzig Einen.[451]

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 2, Berlin 1880.
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