I.
Neustadt Magdeburg. Die Colonie der Reformirten. Das Paradies der Kindheit. Die Wunderfamilie Favreau.

In der nördlichen Vorstadt Magdeburgs, die Neustadt geheißen, bin ich am 23. April 1805 geboren.

Mein Vater bekleidete damals das Amt eines Steuersecretairs am Packhof. Er war am 6. December 1757 in der Gemeinde Buchholz bei Rostock in Mecklenburg geboren. Sein Vater war ein wohlhabender Leinweber gewesen, der ein eigen Haus mit einem großen Garten befaß. Mein Vater war der einzige Sohn. Bis zu seinem siebenten Jahr hatte er sehr einsam auf dem Gehöft zugebracht. Ein großer, schwarzer Hund war sein vornehmlicher Spielgefährte gewesen, denn das Haus lag auf einem weitumschauenden Hügel, wie das Vorwerk eines Gutes, sehr allein. Mit dem siebenten Jahr mußte mein Vater in die nächste Dorfschule einen langen Weg wandern, weshalb ihn seine Eltern bald in die Stadt Rostock zu einem Geistlichen in die Pension gaben, wo er in allen Schulwissenschaften Unterricht empfing. Dieser Geistliche gehörte zu den strengsten Pietisten. Täglich wurde mehrmals gebetet. Jeder Hausgenosse hatte einen lederüberzogenen Stuhl, vor dem er hinkniete und auf welchem Bibel und Gesangbuch lag. Der Gottesdienst wurde mit peinlicher Regelmäßigkeit besucht und die Selbsterforschung der Sündhaftigkeit mit finsterm Ernst betrieben.

Die Mutter wünschte, daß mein Vater sich einer Wissenschaft oder wenigstens einem nicht handwerksmäßigen Erwerb widmen möchte und[1] wußte es zu veranstalten, daß er nach seiner frühzeitig erfolgten Confirmation zu einem Advocaten als Schreiber kam. Allein mein Großvater war ihr entgegen und bestand darauf, daß der Sohn das Leinweberhandwerk erlernen müsse, weshalb mein Vater im fünfzehnten Jahr Rostock verließ und in das einsame Haus mit dem schönen Garten zurückkehrte.

Hier aber hatte sich viel verändert. Mein Großvater hatte sich mit heruntergekommenen Candidaten, mit Alchymisten und Schatzgräbern eingelassen und mit ihnen sein Vermögen allmälig in unsinnigem Streben verbracht. Mein Vater mußte mit ihm eine Reise nach Hamburg machen, allerlei mystische, höllenzwingende Bücher bei Antiquaren aufzusuchen. Durch eben diese Reise, sowie durch die immer sichtlicher werdende Zerrüttung seines sonstigen Wohlstandes ward man auf sein unglückseliges Treiben aufmerksam und das Consistorium setzte ihn wegen Schatzgräberei und Geisterbeschwörung in Anklagezustand.

Die Mutter, von Entsetzen ergriffen, glaubte es recht klug zu machen, wenn sie den Sohn überredete, die Schuld auf sich zu nehmen und nach Hamburg zu fliehen. Achtzehn Jahr alt, übernahm es mein Vater, den seinigen in dieser Weise zu retten. Dem Consistorium sollte vorgespiegelt werden, nicht der alte, sondern der junge Rosenkranz habe die Schatzgräberei betrieben und die Hamburger Reise des Alten habe sich bei diesem auf die Linnenfabrikation bezogen.

Aus Furcht, in Hamburg reclamirt zu werden, hielt mein Vater sich sehr still und wagte sich Niemandem anzuvertrauen. Er miethete sich bei einem Schneider ein und schlenderte am Tage in den Straßen umher, hoffend, der Sturm, der ihm, dem Schuldlosen, in der Heimath drohte, werde nun an dem getäuschten, abergläubischen Vater vorübergehen und dann in einiger Zeit auch seine völlige Nichtbetheiligung an diesen Dingen sich ergeben, so daß er vielleicht nach mehreren Jahren würde zurückkehren können. Allein allmälig wurde diese Aussicht zweifelhaft. Das Geld, welches die Mutter ihm mitgegeben und einige Male schon nachgesandt, zehrte sich auf. Mit der immer größeren Beschränkung, die er sich auferlegen mußte, schwand sein Muth, und in solch niedergeschlagener Stimmung fiel er eines Tages preußischen Werbern in die Hände, die ihn von Hamburg wegführten. So geschah es, daß[2] er am 26. Oktober 1776 in Crossen bei dem Arnstedt'schen, vom General von Natalis commandirten Regiment zur Fahne schwor.

Während er hier nun in Garnison stand, entwickelten sich die Folgen seiner künstlichen Flucht. Die Mutter, den Sohn durch ihren Rath zu Hause mit einem in damaliger Zeit sehr gefährlichen Proceß bedroht, auswärts aber ihn der preußischen Armee einverleibt und so wie so des einzigen Kindes sich beraubt sehend, starb bald, und der Vater folgte gebrochenen Herzens ihr rasch nach, so daß die Gerichte die Hinterlassenschaft der Eltern versteigerten.

Als das Arnstedt'sche Regiment 1788 aufgelöst wurde, kam mein Vater zum Regiment von Braunschweig und blieb bei demselben, bis er 1793 in dem Städtchen Burg bei Magdeburg als Kreiscontroleur angestellt ward. Hier heirathete er, allein die Ehe war kinderlos und, wie es scheint, durch Schuld der Frau unglücklich, so daß sie mit dem Ablauf des Jahrhunderts getrennt werden mußte. Sehr willkommen war es daher meinem Vater, 1799 nach Magdeburg als Steuerbeamter versetzt zu werden.

Er hatte noch vom Regiment her einen Kameraden, der Feldscheer gewesen war und nunmehr eine Anstellung als Packhofsinspector in Magdeburg erhalten hatte. Dieser Mann war in vielen Stücken das gerade Gegentheil meines Vaters. War dieser ein ernster, stiller, einfacher, aufrichtiger, bis zur höchsten Aufopferung pflichttreuer, fleißiger und bescheidener Mensch, so war jener ein lebenslustiger, jovialer, pompliebender, jähzorniger, zur Intrigue geneigter, dünkelhafter Mann, dabei jedoch äußerst gastfrei, gefällig und beredt. Durch diese Gegensätze des Charakters erklärt sich wohl ihre Zuneigung. Sie bedurften einander. Der lockere Lebemann erholte sich in dienstlichen und geschäftlichen Verlegenheiten Raths bei meinem Vater, während dieser sich durch ihn zum Genuß des Lebens anfeuern, durch seine übertreibende Geschwätzigkeit unterhalten ließ. Sie nannten sich Herr Bruder, redeten sich immer mit Ihr an und luden sich zuweilen ein. Mein Vater besuchte jedoch das Haus seines Kameraden und Collegen nur bis zum Tode von dessen Frau. Als Feldscheer nämlich hatte derselbe noch immer eine stille und sehr gesuchte Praxis, nicht nur im Verbinden von offenen Schäden, im Behandeln frischer Wunden, sondern vornehmlich in der Kur geheimer[3] Krankheiten. Er hatte sich gerade für diese einen besonderen Ruf zu erwerben gewußt und fand an den Handlungsgehülfen des Packhofs und den vielen damals durch Magdeburg ziehenden Offizieren ein großes und dankbares Publikum, so daß er ein bedeutendes Vermögen erwarb.

Von großer, schöner Statur, mit feurigem Blick, edlen Zügen, galantem Betragen, wußte er sich bei den Frauen sehr beliebt zu machen, zumal er auch ein ebenso geschickter als leidenschaftlicher Jäger war, dessen Geschenke von Hafen und Rebhühnern den Wirthinnen stets angenehm erschienen. Nach dem Tode seiner Frau verstrickten ihn eben diese chevaleresken und persönlich liebenswürdigen Eigenschaften in verderbliche Verhältnisse, die wohl der Grund sein mochten, weshalb mein Vater den Besuch seines Hauses vermied. Er hatte mehrere Kinder. Mit diesen bestand zwischen mir und meiner Schwester ein steter Verkehr. Wir Kinder begriffen die eigenthümlichen Beziehungen unserer Eltern nicht und lernten sie erst in reiferem Alter verstehen.

Mit jenem Kameraden nun besuchte mein Vater in Magdeburg häufig die Gaststube eines großen Brauhauses an der Ecke des breiten Weges und der Domstraße der Neustadt gelegen, »Das rothe Haus« genannt. Hier lernte er meine Mutter, Marie Katharine, die Tochter des Eigenthümers, Grüson, kennen. Dieser gehörte zur wallonisch-reformirten Gemeinde, deren Mitglieder vorzüglich in der Neustadt wohnten, und dort als Brauherren, als Oelpresser, als Holzhändler unter den Privilegien der preußischen Könige zu bedeutendem Vermögen und Ansehen gelangt waren. In der Altstadt Magdeburg wohnten mehr die Fabrikanten der Réfugiés, wie man die nichtdeutschen Reformirten damals noch zu nennen pflegte. Diese Fabrikanten waren meistentheils reine Franzosen und betrieben vorzüglich die Seidenstrumpfwirkerei, die Hutmacherei und Zuckerraffinerie. Die wallonischen und französischen Gemeinden unterschieden sich wenig, außer daß in letzterer eine größere Feinheit der Sprache und des Umgangs herrschte. Jede Gemeinde hatte in der Altstadt eine besondere Kirche. Neben diesen beiden reformirten Gemeinden existirte in Magdeburg noch eine dritte deutsche, von der ich später Erwähnung zu thun habe.

Als mein Vater heirathete, trat er, ursprünglich lutherischer Confession,[4] zur reformirten über. Da meine Großmutter mütterlicherseits schon todt war und meine Mutter dem Großvater die Wirthschaft geführt hatte, so setzte sich derselbe nunmehr zur Ruhe, verkaufte das rothe Haus und zog zu meinen Eltern, die in der Neustadt am breiten Wege, nicht zu fern von der hohen Pforte der Altstadt, ein reizendes, sehr geschmackvoll gebautes Haus besaßen. In demselben bewohnte der Großvater im oberen Stockwerk nach dem Hof hinaus eine Stube und Kammer. Er war ein schlichter, würdiger Mann, der mit der Mutter gewöhnlich in einem patoisartigen Französisch sprach. Im Hause trug er eine schwere Sammtkappe, eine große dunkelbraune Schooßjacke, schwarze Manchesterhosen, Kniestiefel und eine weiße Schürze. Er war sehr geschickt in Holzarbeiten, weil er für den bessern Betrieb des Braugewerks es für räthlich erachtet hatte, auch das Böttcherhandwerk zu erlernen. In einem Hintergebäude des Hofes hatte er eine vollständig eingerichtete Werkstatt, worin er zu seinem Vergnügen alle in der Wirthschaft vorkommenden Holzgefäße, wie Eimer, Bütten, Zober, aber auch künstlichere Arbeiten fertigte. Er stand früh auf, als der Erste im Hause, kam die Treppe herunter und ging in das gemeinschaftliche, nach vorn gelegene Wohnzimmer, worin von der ganzen Familie das Frühstück genommen wurde. Bis wir uns nun Alle versammelten, spazierte er in der langen Stube auf und ab und sang ein geistliches Morgenlied. Seine beiden Lieblingslieder waren: »Befiehl Du Deine Wege« und »Wer nur den lieben Gott läßt walten.« Meine Mutter sang dann oft mit. Nachmittags arbeitete er nicht in der Werkstatt, die immer sehr aufgeräumt aussah. Die Schneidebank, die großen und kleinen Hobel, die Schraubstöcke, der Nagelkasten u.s.w. waren stets an ihrem Ort. Diese Pfälzer, wie die Wallonen auch hießen, waren in der That recht zum Erwerb gemacht. Sie hatten einen äußerst regen Sinn für Schicklichkeit, Ordnung, Fleiß, Ausdauer, Rechtlichkeit in Handel und Wandel, und Gefälligkeit der Form. Mein Großvater war noch ein rechter Mustercolonist, dessen ernstes und doch behäbiges Wesen, dessen Würde und Leutseligkeit ihn allgemein geachtet und beliebt gemacht hatten.

Nach Tische schlief er oben in seinem Zimmer, nahm wieder den Kaffee unten mit uns und zog sich dann wieder zurück, um einige[5] Stunden in der großen Nürnberger Bibel mit Luther's Erklärungen zu lesen. Diese Bibel, mit den schönen Kupfern von J. Sandrart, lag immer unter dem Spiegel auf seinem Tisch. Vor ihr stand ein Ledersessel. Die Stube war sonst ganz einfach gehalten; ein großer nußbrauner Kleiderschrank war das Hauptmöbel, welches für mich dadurch merkwürdig war, daß auf ihm eine Gypsbüste Friedrichs des Großen stand, der von Allen im Hause, auch von meinem Vater, immer als ein höheres Wesen verehrt wurde. Nächst den religiösen Gegenständen hätten diese Menschen gewiß keinen zu nennen gewußt, der ihnen interessanter und bedeutender gewesen, als der alte Fritz. Wir Kinder blickten daher zu jener Büste immer als zu einer Art Gottheit hinauf. Nach der Lectüre der Bibel ging der Großvater entweder mit einem compère aus, in einen langen Oberrock gekleidet, ein großes spanisches, silberbeschlagenes Rohr in der Hand; oder er setzte sich vor die Hausthür, mit den Nachbarn und Vorübergehenden zu plaudern und aus einer langen Pfeife zu rauchen.

Diese Hausthür war von dunkelbrauner Farbe und mit schönen Messingblechen verziert. Zu ihr führte eine breite Steintreppe von einigen Stufen. Rechts und links von diesen waren Bänke angebracht, und neben den Eckpfählen, die ebenfalls mit Blech beschlagen und mit einem dicken Messingknopf geschmückt waren, standen zwei köstliche Linden, deren Zweige die Sitze höchst anmuthig überschatteten. Abends nach Tische, so lange die Jahreszeit es erlaubte, pflegte die ganze Familie hier im Genuß der freien Luft und in traulichen Gesprächen zuzubringen.

Von meinen ersten Kinderjahren ist mir nichts erinnerlich. Bei der Berennung Magdeburgs durch die Franzosen flüchteten meine Eltern in die Altstadt zu guten Freunden in der Klosterstraße, die einen trefflichen Keller besaßen, der in dem erwarteten Bombardement die besten Dienste zu leisten versprach. Meine Eltern erzählten oft von dieser Flucht, wie sie das Silberzeug in der Werkstatt des Großvaters vergraben, sich Goldmünzen in die Hemden eingenäht, Nachts im Keller geschlafen hätten u. dgl. m. Kleist's Verrath machte der Angst bald ein Ende. Ich lernte inzwischen laufen. Die Schlacht von Jena war, so viel ich mich entsinnen kann, in der Anschauung meiner Eltern das[6] größte Unglück aus der ganzen Profangeschichte; denn obschon die Mutter und ihr Vater für französische Sprache und Sitte eine natürliche Vorliebe besaßen, so war ihnen doch Preußen das gelobte Land geworden. Ihre Dankbarkeit gegen seine Gastlichkeit und die ihrer Industrie gewährte Bevorzugung hatte sich in die innigste Loyalität umgebildet.

Wir kamen nun unter die Herrschaft Jérome's, da Magdeburg zum Königreich Westphalen geschlagen ward. Mein Vater wurde als ein höchst correcter Rechner auf ein Commissorium sofort auf die Oberrechnungskammer nach Cassel berufen. Die Mutter blieb mit dem Großvater und uns Kindern zwei Jahre allein. Ich erinnere mich aber auch hieran nur aus den Erzählungen der Eltern und weiß nur, daß wir dem rückkehrenden Vater entgegenfuhren und daß er mir hier gleichsam zum ersten Mal zum Bewußtsein gelangte. Ich hatte nun auch wirklich einen Vater, nachdem ich bis dahin nur von ihm reden gehört und meine Mutter bei seiner Erwähnung oft weinen gesehen hatte.

Ich wurde nunmehr mit meiner um fast anderthalb Jahr älteren Schwester in die unserem Hause gegenüberliegende Cantorschule geschickt, wo ich in der gewöhnlichen Weise lesen, schreiben und rechnen lernte. Diese Schule war noch ganz in dem Styl eingerichtet, der jetzt nur als eine antediluvianische Tradition bei uns existirt. Eine ungeheure, saalartige Stube. Zwei durch einen großen Zwischenraum getrennte Reihen von Bänken und Tischen, die amphitheatralisch aufstiegen, so daß der Lehrer alle Schüler übersehen konnte. Auf der einen Seite nach den Fenstern zu, die nach einem Hof wiesen, saßen die Knaben, auf der andern die Mädchen. Die A-B-C-Schützen saßen auf einer sehr niedrigen Bank voran, unmittelbar vor dem Lehrer. Sie hatten sich nur mit Stillsitzen zu beschäftigen. Am angenehmsten war es, wenn sie schliefen, denn ihre fast einzige Thätigkeit bestand darin, daß sie am Schluß der Schule auf einer Papptafel, die neben der Thür hing, die Buchstaben des großen und kleinen, deutschen und lateinischen Alphabets nebst den Zahlen, auf welche der Lehrer mit einem Rohrstöckchen wies, theils einzeln, theils im Chor hersagten. Da nun die Erwachsenen aus Ungeduld, herauszukommen, fleißig vorsagten, so ist es Wunder genug, daß die Kinder überhaupt wirklich lesen lernten. Von Schulbüchern erinnere ich mich nur der Bibel, des Gesangbuchs[7] und eines französischen Lesebuchs. Ich habe in dem kleinen Druck meiner Halleschen Handbibel lesen gelernt und erinnere mich noch, welch schwierige Leseprobe die vielen Namen der Geschlechtsregister im alten Testament waren.

Die Disciplin wurde in einer Zeit, in welcher das Spießruthenlaufen noch in der preußischen Armee bestand, mit vielem Prügeln gehandhabt. Manche Jungen erwarben im Geprügeltwerden einen gewissen Ruf, indem sie bei der Execution sich gewaltig sträubten, so daß ihre Bestrafung für die Schule immer ein grausenerregendes und doch sehr unterhaltendes Fest war, ähnlich wie Hinrichtungen die Massen anziehen. Die Strampelnden und Abwehrenden mußten an Füßen und Händen gehalten und über einen Reitsessel gelegt werden, wo sie dann ihre weitschallenden Bullenfinkenhiebe erhielten.

Wenn uns dergleichen barbarisch erscheint, so muß man deshalb noch nicht meinen, daß in einer solchen Schule auch nicht viel Munterkeit und Regsamkeit hätte sein können. Ich lernte ganz gut in der Bibel lesen und legte auch im Schreiben einen guten Grund.

Die Zeit, die mir außer den Schulstunden übrig blieb, verbrachte ich in sehr wilden Spielen. Ich war überhaupt ein heftiges und unruhiges Kind, das in dummen Streichen und Schlägereien sehr ergiebig war und deshalb auch vom Großvater wie vom Vater öfters derb gezüchtigt wurde. Wir Kinder bildeten gewissermaßen für die Erwachsenen eine anarchische Räuberschaar, gegen die man immer auf der Hut sein mußte. Die großen Häuser unserer Verwandten und Bekannten, der Seiffert, Bailleu, Düvigneau, Coqui, Favreau, Bonte, Navia, Costenoble u.s.w. boten auf den Kornspeichern, in den Holzlagern, in den Brauhäusern, in den Stellungen, Höfen und Gärten einen ungeheuren Spielraum dar. Die ganze Jugend der Vorstadt war sich ungefähr bekannt, und der Platz um die Kirche herum, wo die Spritzenhäuser standen und welcher der »Thie« (wahrscheinlich von Thing) hieß, war ihr Sammelplatz zu gemeinschaftlichen Spielen und Kämpfen. In lichten Haufen zogen wir nicht selten nach der Elbseite zu in die Felder, thaten uns hier in den jungen Erbsen, in den Mohrrüben, in den Mohnköpfen und dergleichen gütlich und kamen dabei gelegentlich auch mit dem »Pannemann« (dem auspfändenden Flurschützen) in Conflict.[8] So erinnere ich mich, daß ich einst gewaltig vor ihm lief, weil ich meiner hölzernen Waffen durch ihn verlustig zu gehen fürchtete, zumal ich auch in meiner Patrontasche geraubte Mohnköpfe trug. Aber auch in die Gärten stahlen wir uns. Kirschen, Birnen, Nüsse, Maulbeeren (die der Seidenzucht halber unter Friedrich dem Großen mehr angebaut waren). Aepfel, nichts war vor uns kleinen Communisten sicher, und je gefährlicher eine solche Obstdieberei gewesen war, desto süßer schmeckte uns die Frucht, wenn wir sie endlich in einem sicheren Winkel aufschmausen konnten. Vor dem Eigenthum in den Häusern hatten wir Respect, aber die freiwachsenden Früchte, zu deren Genuß auch die Vögel des Himmels sich einfanden, wurden uns als Sondereigenthum schwer begreiflich.

Außer den Kindern unserer Verwandten ging ich vorzüglich mit dem Sohne eines Schlossers um, der neben uns an, und mit den Söhnen eines Schmieds, der neben der Schule wohnte. Der Erstere war ein guter, sinniger Knabe, Jakob Hövel, der jedoch seltsamer Weise durch phantastische Vorstellungen, die er von der Hölle empfangen hatte, fast schwermüthig gemacht war. Melancholie bei den Kindern ist eine Seltenheit, aber dieser weiche Knabe litt wohl schon daran. Er sprach am liebsten von den Höllenstrafen und ängstigte sich vorzüglich wegen des Stuhls mit glühenden Nadeln, worauf die Lügner sitzen müßten. Als der Lehrer in der Schule einmal von den Erdbeben erzählte, zog er sich diese Vorstellung zu Gemüth, indem er sich grauete, unter die Erde viele Klafter tief lebendig verschlagen zu werden und dann in gräßlicher Finsterniß ersticken und verhungern zu müssen. Da wir Nachbarskinder waren, so wurde ich sein natürlicher Vertrauter und er konnte mich so in seine Angst hineinziehen, daß ich ebenfalls von jenen Schreckbildern mich auf das Entsetzlichste gepeinigt fühlte und doch nicht zu meinen Eltern, nur zu meiner Schwester davon zu sprechen wagte. Dies war der erste düstere Schatten, der in den Sonnenschein meiner Kindheit vom Innern aus hereinkroch.

Die Hölle im Jenseits und die Hölle des vulkanischen Erdfeuers im Diesseits – diese beiden Vorstellungen wurzelten sehr tief in mir seit jenem Anstoß. Wenn ich auch nicht, wie Jakob, trübsinnig dadurch gestimmt ward, so machten sie mir doch viel zu schaffen und reizten[9] meine Phantasie immer von Neuem zu weiterer Ausbildung, so daß mein Nachdenken zuerst an diesem Stoff zu haften begann und ich stets von Frischem auf ihn als den anziehendsten zurückkam. Es blieb mir hiervon eine tiefe Empfindung der Vergänglichkeit unserer Existenz, denn konnte nicht all augenblicklich die Erde mich verschlingen? – sowie der Verwerflichkeit des Bösen, denn welch entsetzliche Qualen warteten nicht seiner in der Hölle! –

Nun muß ich aber bemerken, daß in der Neustadt und in damaliger Zeit überhaupt noch viel Aberglauben, viel sinnliche Färbung der religiösen Ideen existirte. Ganz ernstlich wurde noch von den »Unterirschken«, d.h. Unterirdischen, gesprochen, kleinen Männern mit schwarzen Mänteln und großkrämpigen Grauhüten, die unter den Viehställen wohnen und großen Einfluß auf das Vieh üben sollten. Schreckliche Beispiele ihrer Rache wurden erzählt, wenn man sie beleidigt hatte. Sie wanderten dann aus, kündigten dies dem Hausherrn durch einen Abgesandten an und sagten ihm den Tod der Thiere vorher. Der Plutus, der Gott des Reichthums, der Mehrung des irdischen Gutes, hat einmal seinen Sitz in der Erde. So wurde auch von den »Nickelmännern« im Wasser gesprochen. Namentlich wenn wir Knaben nach dem Elbufer an die sogenannte Kufferecke nach der Gegend der Bastion Cleve hin zum Baden gingen, warnte uns das Gesinde, uns doch ja vor dem Nickelmann, der in der Tiefe lauere, in Acht zu nehmen. Daß man an Hexen glaubte, versteht sich von selbst. Von diesem und jenem tiefäugigen alten Weibe ging die Rede, wie sie hier oder dort nicht aus der Thür zu gehen vermocht habe und in schreckliche Verlegenheit deshalb gerathen sei, weil nämlich ein Besen vor der Schwelle gelegen habe, auf welchem sie in der Walpurgisnacht zum Hexensabbath auf den Brocken gefahren sei. Einen solchen sollte die Hexe nicht überschreiten können. Da der Harz nur sechs Meilen von Magdeburg liegt, so ist begreiflich, daß dort diese Erinnerung des Altsassenschen Heidenthums lebendiger geblieben, und es war üblich, auf die Fahrt zum Blocksberg in der Nacht zum ersten Mai am Morgen des andern Tages scherzhafte Anspielungen zu machen. Wenn die bisher genannten Elemente des Volksglaubens einen mehr mythischen Charakter hatten, so daß die Aufgeklärteren schon nicht recht mehr daran glaubten, so[10] war es doch in Betreff der Gespenster anders. Diese wagten Wenige zu leugnen. Mein Vater war ein offener Leugner derselben, wie er auch jene andern Volkssagen als selbstbewußter Rationalist verwarf. Die Mutter, eine nervenzarte, phantasiereiche Frau, konnte die Gespenster nicht recht aufgeben. Noch mehr verfocht sie den Glauben an Ahnungen und wußte aus ihrem eigenen Leben sehr merkwürdige und poetische Erfahrungen anzuführen. Uns Kindern gefielen diese Gespenstergeschichten außerordentlich, besonders die Sage von dem Reiter ohne Kopf, der in der Ritterstraße Nachts zwischen zwölf und ein Uhr zuweilen auf schwarzem Rosse zu sehen sein sollte. Wagner's Gespensterbuch, worin, wie einst in des Cartesianers Becker's bezauberte Welt, solche Gespensterhistorien natürlich erklärt wurden, machte daher in unserer Familie großes Aufsehen. Noch erinnere ich mich der Titelvignetten und Titelkupfer, wo nachtwandelnde Wirthstöchter den Fremden schrecken, ein Scheintodter wieder erwacht, ein Wolf einem Menschen auf den Rücken gesprungen ist, Frösche ausgebrochen werden u. dgl.

Meine Mutter war eine echte Französin, voll von Geist, Leben, Redseligkeit und voller Religiösität. Die Phantasie und der Witz stachen bei ihr hervor. Sie war ungemein kunstreich in allen weiblichen Arbeiten. Sie nähte und stickte zum Entzücken. Das Sticken trieb sie mit Leidenschaft und stickte auch Gemälde, Vögel und schöne Landschaften, von denen einige eingerahmt in unsern Zimmern hingen. Auch Blumen verstand sie zu machen und erfand die reizendsten Bouquets, die damals auf Arbeitsbeutel u. dgl. gestickt wurden. Ihre Hauben und Hüte garnirte sie sich selbst und wir Kinder hatten an der sauberen und anmuthigen Thätigkeit, welche die Blumen mit Hülfe der Stempel, Nadeln, Zangen und Eisen hervorzauberte, immer große Freude. Aber so lebhaft das schwarze Auge der geliebten Mutter brannte, so freundliche Beredsamkeit ihrem Munde entströmte, so schön sie uns Kindern von der singenden Bohne oder anderen Märchen erzählte, so war die Arme doch im Innersten krank, und diese Krankheit sollte sich schrecklich entwickeln und sie noch schrecklicher tödten. In der Verzweiflung an ärztlicher Hülfe neigte sie dann auch zu sympathischen Kuren und zu sogenannten Besprechungen. Sie glaubte an das Verschwinden von Warzen durch Knoten, die in Zwirnfaden eingebunden und mit abnehmendem[11] Mond unter eine Dachtraufe vergraben wurden; sie glaubte an das Verschwinden von Ausschlägen, Balggeschwülsten, Geschwüren u. dgl. durch Bestreichen mit einer Todtenhand, wobei man aber mit der Leiche allein im Zimmer sich befinden und die Worte: »Im Namen des Vaters, Sohnes und Geistes« sprechen mußte; sie glaubte an das Besprechen des Feuers, an das Vernageln des Zahnschmerzes; sie glaubte an die Macht des »bösen Blickes«, an die Macht von Liebestränken; sie ließ sich die Gesichtsrose, von der sie auch zuweilen geplagt war, »beeten«, d.h. wegbeten. Alte Frauen in großen dunklen Capuzen schlichen zur Dämmerung ein. Wir Kinder mußten die Stube verlassen und brachten nur heraus, daß die Frau mit Kreuzschlagen die Rose dreimal anhauchte und dabei die Worte sprach:


Mutter Maria und hill'ge Ding

Stritten sich um en' golden Ring,

Mutter Maria gewannd,

Dat hill'ge Ding verschwand.


Das heilige Ding war eine volksthümliche Benennung für die Rose. Der Mutter half diese Ceremonie wirklich. Dem Vater aber mußte solche Winkelpraxis verborgen gehalten werden, da er einmal in Folge seiner Jugenderlebnisse ein abgesagter Feind alles Aberglaubens war. Auf mich ging diese Gesinnung über und ich konnte daher auch z.B. eine Warze am kleinen Finger der linken Hand durch keinerlei Sympathie, nur durch Höllenstein wegbeizen. Als ich in die Entwickelungsjahre kam, litt ich im Frühling und Sommer gewöhnlich außerordentlich an Nasenbluten, das oft kaum zu stillen war und sehr lästig wurde, da es oft mitten auf der Straße, auf Spaziergängen, in fremden Häusern mich befiel. Die Mutter bestand bei solchen Gelegenheiten darauf, daß ich auf kreuzweis gelegte Strohhalme das Blut niederrieseln ließ. Ich spottete, älter werdend, über dergleichen und ließ mir Weinessigumschläge um den Kopf und die Kühlung durch einen in den Nacken gelegten Schlüssel besser gefallen. Bei der Mutter hing diese Richtung auf die Nachtseite der Natur auch wohl mit ihrem poetischen Wesen zusammen. Sie träumte viel, träumte von vermißten Dingen, wobei sie uns öfter in Erstaunen setzte, daß sich z.B. eine silberne, lang gesuchte Strickscheide endlich in der That da fand, wo sie dieselbe[12] im Traume erblickt hatte; sie war überhaupt voll von einem echt weiblichen Ahnungsvermögen und kehrte gern die geheimnißreichen Beziehungen der Dinge hervor. Der Einfluß gewisser Mondesphasen war bei ihr über allen Zweifel erhaben und ebenso hielt sie auf gewisse Tage. Die Nägel durften z.B. nur am Freitag beschnitten werden.

Wie ich aus Gedichten schließe, die ich noch von ihr als Reliquie besitze, hatte sie ihre Mutter, die auch fast immer krank gewesen, unendlich geliebt, sie aber gerade in einer Zeit verloren, wo sie eines mütterlichen Beistandes sehr bedürftig gewesen. Sehr rührend sprechen jene Gedichte die Sehnsucht nach Vereinigung mit der theuren Verstorbenen, zugleich aber auch das Gefühl der Entsagung auf jede Lebensfreude und die Gewißheit baldigen Todes aus. Sie hatte nämlich, wie sie uns öfter erzählte, nach dem Verlust der Mutter in einem Traum ihr eigen Herz im Busen mit drei schwarzen Punkten erblickt und sich dies dahin ausgelegt, daß sie nach drei Jahren sterben müsse. Hierüber war sie in eine tiefe Schwermuth verfallen; denn so sehr sie nach der Hingeschiedenen sich sehnte, so sehr hing sie doch am Leben. Jene düstern Verse entsprangen aus diesem Kampf. Da ihre Melancholie einen gefährlichen Charakter annahm, so schickte der Großvater sie nach Berlin zu Verwandten, wo sie denn in anderer Umgebung, in geselliger Zerstreuung, im Besuch des Theaters u.s.w. nach einigen Monaten von ihrem Trübsinn genas.

In unserem Hause lebte damals ein Bruder meiner Mutter, David Grüson, der zu Breslau 1848 an der Cholera als ein sehr geschätzter Portraitmaler gestorben ist. Er hatte ursprünglich das Posamentirgeschäft erlernt. Bei demselben hatten die Farben und Zeichnungen der Bänder sein Talent für die Malerei so lebhaft angeregt, daß er zu dieser selbst überging. So lange er damals bei uns wohnte, widmete er sich dem Portraitiren mit großem Fleiß. Die schönen Farbenstoffe, das Mischen der Farben, die allmälige und doch ziemlich schnell vorschreitende Entstehung eines Gemäldes, endlich auch die vielen Herren und Damen, die zu ihm kamen, ihm zu sitzen, unterhielten uns Kinder außerordentlich und gaben mir frühzeitig einen Trieb, ebenfalls zu zeichnen und zu malen. Der Onkel David war ein heiterer Mann, der gern in Mußestunden mit uns schäkerte und uns auch der Ehre[13] würdigte, unsere kleinen Personen in Lebensgröße in Oel zu malen. Meine Schwester in weißem Kleide hielt einen Blumenkorb in der linken Hand; ich, in einem gelben Nankinghabit, hielt meine linke Hand in ihrer rechten und in der rechten eine uns umschlingende Epheuranke. Neben mir lagen meine Kinderwaffen. Ueber uns wölbte sich ein kräftiger Eichbaum hin. In der Ferne erblickte man die Neustadt mit dem Thurm der Kirche. Das Bild war sehr gut ausgeführt und fand bei allen Verwandten billige Anerkennung. Bei uns Kindern brachte es ein gewisses Selbstgefühl hervor. Wir erschienen uns durch diese Abschilderung als einigermaßen distinguirte Wesen, und ich erinnere mich, daß ich späterhin auf den sechsjährigen, blondgelockten, pausbäckigen Knaben im Bilde öfters träumerisch hingeschaut habe, ob mir wohl eine Andeutung meiner Zukunft aus dieser ersten Fixirung meiner Existenz entgegenblitzen möchte. Mit diesem Bilde schloß der Onkel seinen Aufenthalt bei uns ab, indem er sich seiner höheren Ausbildung halber nach Dresden auf die Akademie begab.

Der große Familienzusammenhang unseres Hauses hatte einen sehr lebhaften Verkehr mit vielen und sehr verschiedenartigen Menschen zur Folge. Als der Mittelpunkt dieses ausgebreiteten Umganges erschien der Markt, der zur Herbstzeit in der Neustadt abgehalten ward, weil dann alle Bekannten und Freunde aus der Altstadt und Umgegend die Vorstadt besuchten und bei uns einsprachen. Dieser Markt dauerte eigentlich nur einen Tag und war vorzüglich ein Viehmarkt. Doch fehlte es nicht an Buden mit Putzwaaren, Spielzeug und Naschwerk, die den breiten Weg hinunter aufgestellt waren. Zwischen der Reihe der Buden und zwischen den Häusern wimmelte es von Viehgruppen, und das Feilschen um Rindvieh, Pferde und Schweine schallte vom frühen Morgen bis späten Abend dicht vor unsern Fenstern. In unserem Hause war für diesen Tag Alles festlich geschmückt. Die ein- und ausströmenden Gäste wurden je nach ihrem Stande und Geschmack bewirthet. Die näheren Freunde blieben Abends bei uns zu einem Mahle versammelt, das in einem Saal des oberen Stockwerks abgehalten ward. Dieser Saal war nur bei großen Feierlichkeiten für uns Kinder zugänglich. Für mich hatte er durch den Ofen, der in einer halbrunden Nische stand, einen besonderen Reiz, indem derselbe mit[14] einer großen Gypsstatue der Minerva geziert war, die auf einem viereckten Würfel sich erhob, der den eigentlichen Ofen bildete. Diese Göttin mit ihrem Helm, ihrem Brustharnisch, in der Rechten den Speer, in der Linken den Medusenschild, den sie auf den Boden stützte, war für mich eine ganz außerordentliche Erscheinung, die mir völlig fremdartig, wie aus einer andern Welt, entgegentrat. Wie edel und sinnig blickte ihr Antlitz, wie schwermüthig das schlangenumgürtete Haupt der Medusa! Wenn der Kronleuchter die Statue recht hell beleuchtete und sich die Wellenlinien der schönen Gestalt von dem dunklen Grunde der Nische schärfer abhoben, schien mir die Göttin fast lebendig zu sein. Wer hätte wohl damals geahnt, daß diese Göttin mich für mein ganzes Leben in ihren Dienst nehmen würde! Wäre ich ein Jean Paul oder ein Bogumil Golz, so würde ich diesem Markttage der Neustadt mit seinem Glanz und Rausch, der sich mir unter dem fröhligen Klang der Gläser, unter dem Duft der Blumenaufsätze der Tafel, unter dem Scherz und Lachen der geputzten Herren und Damen, unter dem durch die Süßigkeiten des Mahles sinnlich gesteigerten Behagen endlich in den lebhaften und unverstandenen Cultus der Göttin der Weisheit verklärte, eine eigene Idylle widmen.

Zu den bedeutenderen Gestalten aus dem Kreise des elterlichen Verkehrs gehörten auch zwei Nonnen, Agnes und Cäcilie, aus dem Nonnenkloster der Neustadt, das nur eine Straße von uns entfernt lag. Wir Kinder durften nur um die Ecke des blauen Sterns, unseres linken Nachbarhauses, huschen, so waren wir bald die Klosterstraße entlang. Jene Nonnen waren Freundinnen meiner Mutter. Große Geschicklichkeit in allen feineren weiblichen Arbeiten und in Miniaturmalerei zeichnete sie aus. Ich erinnere mich ihrer Züge nur dunkel, aber ihrer Freundlichkeit gegen uns Kinder und der Begleitung ihrer Liebkosungen mit zartem Obst, mit Blumen, Zuckerwerk, Bildern von Heiligen sehr deutlich. Besonders gefielen uns die sogenannten Hauchbilder, die oft eine Art von frommen Rebus enthielten und die wir auch von dem Pater geschenkt empfingen, der für das Kloster Huy bei Halberstadt jährlich einmal zum Terminiren bei uns einsprach. Das Kloster war für uns Kinder eine eigenthümliche Welt. Wir waren zu jung, um eine Vorstellung von dem Unterschied der christlichen Glaubensarten zu haben,[15] uns interessirten die phantastischen Eindrücke, die sich uns hier in den Zellen der Nonnen, in den langen Corridoren, im Kreuzgang, in der Kapelle beim Gottesdienst und in dem melancholischen Garten darboten, der mit herrlichen dunkelschattigen Alleen hinten nach dem Elbufer zu lag. Vom Katholicismus wußten wir nur den Namen. Daß Schwester Agnes und Cäcilie uns, denen sie so viel Freiheit gestatteten, uns, die wir von ihnen so geherzt und geküßt wurden, uns, deren Mutter ihre Freundin war, bei welcher sie von Zeit zu Zeit Kaffee tranken, für Ketzer, für Verdammte hätten halten sollen, würde uns, selbst wenn man es uns gesagt hätte und wir es hätten verstehen können, als Lüge erschienen sein. Um so weniger würden wir dies geglaubt haben, als auch die Bürger der Neustadt in der großen Gaststube der Bierbrauerei des Klosters täglich im friedlichsten und heitersten Verkehr aus- und eingingen, da das »Klosterbier« eines vorzüglichen Rufes genoß. Für besonders katholisch hätt' ich damals nur den eigenartigen Geruch gehalten, der von dem Meßräucherwerk her sich in dem eigentlichen Kloster überall festgesetzt hatte.

Wie geheimnißvoll uns auch die Stille des Klosters ansprechen mochte, so bot doch unsere eigene Verwandtschaft uns ein Wunder dar, das alles Uebrige in unserem Kreise überwunderte, das war der Cousin Favreau. So lange ich zurücksinnen kann, stellte sich derselbe regelmäßig jeden Nachmittag Schlag drei Uhr bei uns ein, mit meinen Eltern und dem Großvater Kaffee zu trinken und Schlag vier wieder zu gehen. Erst galt dieser Besuch wohl mehr dem Großvater, seinem alten compère, mit dem er auch spazieren ging. Nach dessen Tode aber übertrug er diese Sitte auch auf meine Eltern und harrte darin aus bis an seinen eigenen Tod. Er war nicht sehr groß, trug einen einfachen braunen Oberrock und einen braunen Stock, der oben in eine schön gearbeitete Hand auslief, die einen Todtenkopf hielt. Er rauchte nicht, schnupfte aber, wie mein Vater. Dieser Mann hatte weite Reisen gemacht, namentlich im südlichen Europa, von denen er gern erzählte, vor Allem von seinen Abenteuern in Ungarn. Doch ist mir keines im Gedächtniß geblieben, wahrscheinlich weil mir doch noch zu viel Voraussetzungen zu ihrem Verständniß fehlten. Er betrieb einen großen Holzhandel, hatte eine Holzstrecke unmittelbar an der Elbe und eine[16] andere hinter seinem Hause am breiten Wege. Dies Haus war nur Parterrewohnung, dehnte sich aber nach hinten zu in einen gewaltigen Hof und Garten aus. Der alte Favreau war Wittwer, ein weibliches Wesen habe ich nie in der Wirthschaft gesehen. Zwei Söhne, Friedrich und Abraham, besorgten mit männlichem Gesinde das ganze Hauswesen und Friedrich war ein Meister in der französischen Küche. Vor dem Alten hatten wir Kinder immer eine große Scheu; selbst wenn er mit uns scherzte, fürchteten wir ihn. Die Söhne dagegen liebten wir unendlich, und sie boten stets Alles auf, uns angenehm zu unterhalten. Beide waren in der Physik, in der Mechanik, in allen Handwerken, im Drechseln, Schmieden, Schnitzeln, aber auch im Gebrauch der Waffen sehr erfahren und geschickt. Wenn wir kamen, so wurden wir bald in den Garten geführt, wo Abraham mit einer Windbüchse uns Sperlinge zusammenschoß, die Friedrich uns dann zum Abendbrod briet und köstlichen Salat dazu machte, mit Schwenkgabeln, die er selber geschnitten, aus Pflanzen, die er selber gezogen hatte. Oder wir fuhren mit Abraham die Seejungfer hinauf. So hieß ein großer Schiffsmast, der inmitten des Hofes stand und oben mit einer kolossalen aus Blech geschnittenen Figur, einer sich nach dem Winde drehenden Seejungfer, verziert war, deren langes schwarzes Haar lustig in der Luft flatterte. An diesem Maste waren in der Mitte und ganz oben kleine, mit Gallerien umgebene Söller befestigt, zu denen man sich in einem hölzernen Stuhl mit einem Kettengewinde hinaufziehen konnte. Es war ein nicht ganz ungefährliches Vergnügen; allein es war zu schauerlich süß, da oben auf den schmalen Brettern zu stehen und über die ganze Neustadt zum Elbufer hin aus der Vogelperspective einen Blick werfen, besonders aber der mysteriösen Seejungfer nahe kommen zu können. Und so ließen wir uns denn gern von Abraham auf den Schooß nehmen und himmelan fahren. Als er später auf mehrere Jahre nach Quebeck reiste, wollte er, Unglück zu verhüten, vorher den Ziehstuhl und das Gewinde abnehmen, stürzte bei dieser Gelegenheit selbst von oben herunter, kam jedoch noch glücklich mit dem Bruch einer Rippe davon, der nach einigen Wochen verheilte.

Ging es nicht die Seejungfer hinauf, so warfen wir uns auf die riesige Strickschaukel, die unter der Einfahrt zu einer großen Scheuer[17] befestigt war; oder Friedrich drechselte uns ein Spielwerk; oder wir ergötzten uns an den Bildern einer Camera obscura, die in einer Kammer nach der Straße zu angebracht war. Die Lebendigkeit der kleinen vorüberschwebenden Figuren hatte für uns etwas Geisterartiges. Oder Abraham spielte uns auf einem von ihm selbst erbauten Orgel-Fortepiano mit Pauke und Becken lustige Märsche und Tänze. Oder er setzte sich mit uns in den Wagen, den er ebenfalls selbst gebaut und den er von innen aus durch einen Mechanismus bewegte, worüber wir als Kinder uns denn kindisch freuten. Dieser Wagen hieß auch der »sich selbst fahrende«. Oder wir neckten uns mit den mancherlei Thieren umher, die es hier gab, denn gleich im Hause wurde man von einem angeketteten Affen begrüßt, der – in rother Livree – einen Schein-Thürhüter vorstellte. In der Stube war in der einen Ecke ein großes Rollhaus für ein Eichhörnchen, das sich darin drillte. In einer andern Ecke stand ein Häuschen für weiße Mäuse, die mit ihren hellrothen klugen Augen allerliebst aus den Fenstern herausschauten und die Treppen zierlich auf- und abtrotteten. Zwischendurch flog das fliegenschnappende Rothkehlchen oder krächzte der Rabe sein heiseres »Jakob«. Auf dem Hofe trafen wir gravitätische Pfauen und zierliche Tauben und ergötzten uns unbeschreiblich an ihren Bewegungen. Hühner, Enten und Gänse fehlten nicht; ein flügellahm gemachter Reiher stolzirte unter ihnen mit einsamer Grandezza umher. Daß Hunde aller Art dies bunte Spiel des Thierlebens noch erhöhten, brauche ich kaum zu sagen, da ich schon erzählt habe, daß meine Vettern treffliche Schützen waren und so weitläufige Besitzungen nicht ohne den nächtlichen Schutz von Hunden sein konnten.

An Regentagen, gegen Abend nahm der vielkünstige Abraham die Electrisirmaschine hervor, ließ Funken aus unseren Haaren sprühen, ließ Puppen eine kleine Treppe auf- und abtanzen oder den Blitz in ein Papierhäuschen schlagen. Am erfreulichsten aber war es uns, wenn er sich erbitten ließ, uns den magischen Spiegel zu zeigen. Dieser bestand aus einem starken Vergrößerungsglase, das, eingerahmt, aber beweglich, frei aufgestellt wurde. Dahinter auf Rollen wurden illuminirte Kupferstiche gelegt, die, mit einer Kurbel gedreht, dem staunenden Auge in der Größe vollkommener Wirklichkeit erschienen. Diese Rollen enthielten[18] Prospecte der vornehmsten Hauptstädte Europa's, Thierhetzen, Hofjagden, Stiergefechte, merkwürdige Gebäude und waren in jener sinnlich-kräftigen Manier gedacht und gemalt, die aus der niederländischen Schule noch auf die damalige handwerksmäßige Kunst übergegangen war. Welche Lust wir Kinder bei Anschauung der fremden Städte, der Paläste und Kirchen derselben, der See- und Berglandschaften empfunden, ist unsäglich. Nicht selten trat mir in meinem spätern Leben, wenn ich mit Entzücken auf Reisen eine Stadt, ein Gebäude begrüßte, dennoch unwillkürlich die Vorstellung entgegen, daß sie doch an Reiz die Trunkenheit hinter sich ließen, die mir im magischen Spiegel ihr erstes Bild erweckt hatte. Das ist die Macht der »Morgenröthe im Aufgang«, mit deren dämmerungscheuchender Beleuchtung die Mittagssonne nicht wetteifern kann.

Man wird zugeben, daß eine solche Fülle interessanter Gegenstände, als das Dach unserer Verwandten umschloß, dargeboten überdies mit so hingebender Liebenswürdigkeit, als meine Vettern zierte, schon hinreichend gewesen sein würde, Kinder unwiderstehlich zu fesseln. Allein durch einen noch nicht bemerkten Zug stellte sich uns dies Alles in einem Tone dar, welcher unsere kindliche Einbildungskraft in ein Jenseits seltsamer und dunkler Vorstellungen hinüberriß. Der alte Favreau nämlich, den wir kurzweg den »Alten« hießen, hatte eine Art von Grabphantasie. Er selbst schon, wenn er, umgeben von Damascenersäbeln, Pistolen und Doppelpistolen, die mit Schiebeschlössern versehen, deren Griffe mit Silber in mythologischen Figuren ausgelegt waren, auf einem Armstuhl am Fenster saß und durch ein Leseglas in Herder's »Ideen der Menschheit« oder in Young's »Nachtgedanken«, seinen beiden Lieblingsbüchern, las, machte auf uns Kinder immer einen wahrhaft ägyptischen Eindruck. Wir wagten dann nicht laut zu sein und schlichen uns durch das Zimmer mehr, als daß wir gingen, fürchtend, daß die großen Figuren der Tapetenwände, welche venetianische Masken in der Umgegend des Marcusplatzes vorstellten, auf sein zauberisches Geheiß etwa gar auf uns zuschreiten möchten. Ging man nun von seinem Zimmer durch eine Tapetenthür in ein längliches Gemach nach dem Hofe hinaus, so fand man in demselben Oelbilder mit Lichteffecten, Köpfe von Mönchen und alten Herren, die vielleicht historisch merkwürdig[19] waren, was ich natürlich noch nicht verstehen konnte. Ich besinne mich nur auf die großen Kahlstirnen, auf die kräftigen Formen, angeleuchtet von grellrothem Schein von Lichtern oder Lampen. Aus diesem Gemach, das in uns Kindern immer eine düster beklommene Stimmung erregte, trat man links in Friedrichs Werkstatt, rechts in den Garten, oder vielmehr noch nicht in den Garten, sondern in eine Art von Kirchhof. Auf dieser Thür war nach außen ein Kater gemalt, der eine brennende Kerze in der Pfote hielt. Es führte aus dem Hofe auch ein großes Gitterthor in den Garten, zunächst in dessen heitere Partien, die sich um einen Hügel concentrirten, auf welchem eine Venusstatue aus Sandstein, und in welchem eine Eremitage sich befand. Jene kirchhofartige Anlage war nach der einen Seite hin durch einen langen Baumgang gewissermaßen abgesondert. Hier standen nun, aus Sandstein gehauen, mit Oelfarbe übermalt, Säulen, Pyramiden, Obelisken, bedeckt mit mysteriösen Figuren und Symbolen. Der Todtenkopf mit kreuzweis übereinander gelegten Knochen darunter war hier besonders häufig. Aber auch Dreiecke, Pentagramme und Schmetterlinge als Symbole der Unsterblichkeit kamen hier vor, und den griechischen Tod, den Jüngling, der die Fackel umkehrt und mit dem einen Arm auf den Schlaf als seinen Bruder sich lehnt, habe ich, meines Wissens, hier zum erstenmal gesehen. Auf mich wirkte die Abtheilung des Gartens, in welcher kein Obst, kein Gemüse, keine Blumen gezogen wurden, wo nur jene Steinsäulen zwischen Laubbäumen und Lärchen auf moosigem Rasengrunde ernst und mystisch dastanden, mit ungemeiner Anziehung. Offenbar sollte sie zum andern Theil des Gartens, den die lebenslustige Liebesgöttin beherrschte, einen Gegensatz bilden, und noch jetzt fühle ich lebhaft die heiligen Schauer, die mich in dieser Umgebung durchrieselten. Hatte ich im Umgang mit dem stillen Jakob die Qualen der Hölle und eines Untergangs im Erdbeben, hatte ich bei Onkel David den Reiz der reinen Farben und Formen, hatte ich im Anschauen der Minerva unseres Saalofens die erste Begeisterung für plastische Schönheit empfunden, hatte ich im Kloster bei den Nonnen eine süße, tändelnde Heimlichkeit genossen, so überkam mich hier zum erstenmal das Gefühl eines tiefen, unergründlichen Mysteriums.

Und doch war dies noch nicht das Letzte, was der Alte uns darbot.[20]

An der Elbe hatte er, wie ich oben erzählt, eine Holzstrecke, in welcher er einen besonderen Verwalter hielt. Hier hatte er ein Haus mit einem flachen Dache erbaut, das getheert und von der Landseite her mit Nußbäumen umringt war, die ihre köstlichen Blätter und Früchte auf das Geländer und über dasselbe hinneigten. Nach der Wasserseite zu war das Dach offen und gewährte eine herrliche Aussicht auf den Elbspiegel und auf die Segel der von Hamburg kommenden, nach Hamburg fahrenden Schiffe. Hier auf diesem platten Dache gab der reiche Mann im Sommer einige Gesellschaften mit ausgesuchtem Luxus, zu denen auch meine Eltern mit uns Kindern geladen waren. So himmlisch uns nun oben im Genuß aller Weltfreuden zu Muthe war, so benutzten wir doch diese Gelegenheit, aus den überirdischen Regionen auch in die unterirdischen zu kommen, die an diesem Tage offen standen, weil sie für den gesellschaftlichen Apparat mitbenutzt werden mußten. Von diesen Gemächern flüsterte man Allerlei und wir Kinder wollten wissen, was daran wäre. Als Hauptresultat ist mir Folgendes erinnerlich. In dem einen gewölbten Zimmer waren die Wände mit dichtem Gebüsch bemalt. Aus dem Dickicht sahen Eulen und Raubthiere hervor, oder Spinnengewebe hatten sich über Blätter und Früchte gezogen und die Spinne lauerte auf ihren Raub. Inmitten dieser Scenerie aber stand ein großer Sarg, der Sarg, in welchem der Alte einst begraben sein wollte und in welchem er schon von Zeit zu Zeit schlief. An Leichen und Särge waren wir Kinder gewöhnt, denn in einer solchen Vorstadt nimmt man an allen Vorkommnissen in den Familien des Gemeinwesens regen Antheil. Die Leichen wurden mit Gepränge ausgestellt, besonders die von Kindern und Jungfrauen. Wenn wir irgend konnten, liefen wir hin, die »schöne Leiche« zu sehen. Jedes Leichenbegängniß war für uns ein Fest, das uns sehr fröhlich stimmte, weil es dabei oft viel zu schauen und zu hören gab. Daß aber Jemand schon bei Lebzeiten sich seinen Sarg machen ließ, daß er, von Raubthieren und Raubvögeln umringt, schon darin schlief, schien uns überseltsam. In reiferen Jahren habe ich dann wohl eingesehen, wie der Alte in jenen Raubthieren und Raubvögeln die Gefahren hat symbolisiren wollen, die dem in ihre Mitte gestellten Leben allaugenblicklich drohen, und wie er mit dem Schlafen im Sarge wohl hat[21] ausdrücken wollen, daß der Tod gar nicht ein nur plötzlich eintretendes, vielmehr im Proceß des Lebens schon immer gegenwärtiges Ereigniß sei.

Noch Mancherlei könnte ich nun nach einzelnen Seiten hin berichten, z.B. von dem erschütternden Eindruck, den der Anblick und das Geschrei der Menschen auf mich machte, die auf dem Hofe unseres Nachbars zur Rechten, des Schlossers, »von Rechtswegen« geprügelt wurden. Hier wohnte nämlich im oberen Stock ein trefflicher Mann, der Friedensrichter Hecht, mit dessen Familie wir ebenfalls Umgang hatten. Nach der damals bei uns als im Königreich Westphalen geltenden französischen Verfassung hatte der Friedensrichter die Abmachung der kleinen Polizeisachen, und so wurden denn Herumtreiber, lüderliches Gesindel kurzweg abgeurtelt und bestraft.

Allein ich übergehe solche Einzelheiten, um von dem Gegenstande zu sprechen, der am Ende in der Phantasie des Knaben alle anderen für sich noch so bedeutsamen Anschauungen überfluthete. Dieser Gegenstand war die französische Armee. Man versetze sich in jene Zeiten zurück, in denen die Napoleonische Herrschaft das gesammte continentale Europa umfaßte und alle Völker desselben an ihren Triumphwagen gekettet hatte. Man versetze sich in jene Zeiten zurück, in denen wir ganze Regimenter hatten nach Spanien senden müssen, weshalb man in einer plattdeutschen Litanei sang:


Unse Söhne mötten wi na Spanje schicken,

Wo se sick de Näse an de Festunge flicken!


mit dem steten Refrain:


Wi hängen uns alle upp!

Et deit man jar to weh,

O jeh, o jeh!


Die Amme, die mich genährt hatte, war die Frau eines Soldaten Namens Stein, der in Spanien focht und blieb, wie die Sage ging, nicht in der Schlacht, sondern im Schlaf von den Spaniern erdolcht. Meine Eltern hatten stets Einquartierung, zum Glück Offiziere, denen das Zimmer mit dem Alkoven, links vom Hausflur, eingeräumt war. Ich kann mich in meinem Gedächtniß irren, allein nach demselben schweben mir diese Offiziere nur als freundliche Männer vor, die uns Kinder lieb und gut behandelten, uns einzelne Vocabeln vorsprachen[22] und uns mit Kleinigkeiten beschenkten. Daß die Mutter und der Großvater mit ihnen sich französisch unterhalten konnten, mag zu dieser Freundlichkeit des Benehmens viel beigetragen haben. Durch den einen dieser Offiziere habe ich zum ersten Male etwas von Paris gehört. Er erzählte meinen Eltern nicht nur viel davon, sondern er zeichnete auch mit einer Feder auf Papier Plätze und Gebäude leicht und sicher hin; Zeichnungen, die noch mehrere Jahre lang in unserer Familie aufbewahrt blieben. Durch sie ist mir wohl diese Erinnerung erhalten und das Bild der Hauptstadt des europäischen Continents als eines der bedeutungsvollsten früh in meine Seele gesenkt.

Die französische Armee gab uns Kindern ein stets sich veränderndes, mannichfaltiges und glanzreiches Schauspiel. Ich will es hier nicht wieder schildern, denn Andere, unter denen ich nur Heine mit seinem Tambourmajor, Le Grand, erwähnen will, haben dasselbe oft und treffend genug gemalt. Jene phantastischen Uniformen der großen Armee, jene Sappeure mit ihren Bärmützen, langen Bärten und breiten Beilen, die uns wie moderne Lictoren erschienen, jene riesigen Tambourmajore, die ihren goldbeknopften Stab so kunstfertig zwischen den Fingern umwirbelten und ihn wie einen Federball emporwarfen und wieder fingen, jene Träger des Halbmonds mit seinen Roßschweifen, jene Neger, die den Triangel schlugen – das Alles ist bei uns ein schon stereotypes Bild geworden. Weniger hat man vielleicht andere Züge bemerkt, die sich unserer Knabenphantasie ebenfalls tief einprägten. Hierher rechne ich z.B. die Häufigkeit der Duelle, die bei Streitigkeiten so oft angezettelt und sofort ausgeführt wurden, indem die Kämpfer sich in den Garten hinter den Häusern, in eine Scheune oder in eine große Hofstube sich zurückzogen. Vor uns Kindern genirten sie sich nicht und stachen auf einander los, bis eine leichte Verwundung die Aussöhnung herbeiführte. Doch habe ich diese Duelle nur von Gemeinen und Unteroffizieren gesehen.

Wie ich väterlicherseits von einem echten Deutschen, mütterlicherseits von einer germanisirten Französin abstamme, so ist in meinem ganzen Leben eine Mischung dieser Elemente sichtbar, und meine bösen wie meine guten Eigenschaften mögen in dieser Dualität ihren Ursprung haben. Ich mußte aber diese Naturirung meines Temperaments außerordentlich[23] durch den doppelten Umstand verstärkt sehen, einmal, daß die Vergangenheit der wallonisch-reformirten Gemeinde, zu der sich die Eltern hielten, nach Frankreich als ihrem heimathlichen Boden hinwies und demgemäß auf die französische Sprache und Literatur ein großer Accent gelegt ward; sodann dadurch, daß ich von 1806 bis 1814 in einer Umgebung lebte, in welcher das französische Element zwar nicht in die politische Gesinnung, die stets preußisch blieb, wohl aber in den gesammten Lebensverkehr tief eindrang. Alle Gegenstände des gemeinen Bedürfnisses wurden doppelnamig. Was unter pain, unter eau de vie, unter pain blanc, unter viande u. dgl. zu verstehen sei, wußte in Magdeburg zuletzt fast Jedermann. Ebenso allgemein wurden gewisse conventionelle Redensarten, wie: comment vous portez; avez vous bien dormi; il fait beau temps u.s.w. Noch mehr bürgerte sich das Französische dadurch ein, daß ursprünglich französische Wörter gar nicht mehr als französische betrachtet, sondern endlich als deutsche genommen wurden, für welche Sprachweise das Zeitalter Friedrichs des Großen und die schändliche Zurücksetzung unserer Literatur und Sprache gegen die französische bei unserem Adel schon vorgearbeitet hatte. So sprach man von einem Plaisir, das man sich machen wollte; so von einer Bataille, die geliefert worden; einer Affaire, die man gehabt; so von den Acteurs des Spectacles u.s.w. Daß wir Knaben das bezaubernde »Vive l'Empereur!« mit Wonne brüllten, wenn die Gelegenheit sich dazu bot, brauche ich nicht erst zu sagen. Dieser Ruf hatte dazumal etwas Electrisches, wie mir Jedermann zugeben wird, der sich mit mir in jene Tage zurückversetzen kann. Die ganze Zukunft schwebte um diesen Namen; er war der wunderthätige Talisman, dem nichts zu widerstehen vermochte.

Wie fern liegt diese ganze Zeit jetzt von uns! Welche mächtige Reaction des Deutschthums ist nicht gegen sie erfolgt! Wie tief, bis zur Krankhaftigkeit tief, sollte ich nicht selbst davon ergriffen werden! Und doch habe ich erfahren müssen, mit welcher Zähheit erste Jugendeindrücke haften. Als ich im Sommer 1846 den lang gehegten Wunsch befriedigte, nach Paris zu reisen, fuhr ich von Mainz mit der Mallepost ganz allein. Hinter dem lothring'schen Homburg schlief ich Abends ein. Plötzlich wurde ich von dem Ruf geweckt: »Eh bien, Monsieur,[24] votre clef!« Ich erwachte beim Schein von Laternen, antwortete träumerisch sogleich französisch, stieg aus dem Wagen, der gewechselt wurde und erfuhr nun, daß ich in Forbach, dem Grenzort angekommen, wo mein Koffer visitirt wurde. Erst als ich, wieder allein, nach Mitternacht im Wagen saß und weiter auf Metz zufuhr, machte sich in mir die Reflexion geltend, daß mir die blauen Blousen der Douaniers, das Benehmen der Postbeamten und des Conducteurs, besonders aber das Französischsprechen selber, gar nicht ungewöhnlich erschienen sei. Es war mir, als wäre ich durch den Traum in eine Scene meiner Kindheit zurückversetzt worden. Und so fand ich mich auch in Paris außerordentlich schnell zurecht, weil ich überall einen Grundton meiner Existenz anklingen hörte.

Mit dem Jahre 1812 beendigte sich die glückselige Idylle meiner Kindheit. Schon 1811 war als ein unheilverkündendes Jahr vom Volkssinn aufgefaßt, denn ein großer Komet, der mit bloßen Augen vollkommen sichtbar war, wurde als eine Zornruthe Gottes betrachtet. Noch erinnere ich mich, wie der Großvater mich vor die Hausthür öfter am Abend berief, daß ich doch ja das Wunder sehen möchte. An ihm selbst sollte sich die düstere Ahnung widriger Dinge, die durch den Irrstern den Zug der Franzosen nach Rußland angeregt war, zunächst bewähren. Bei einem Spaziergang auf dem Elbeise mit compère Favreau war er heftig auf den Hinterkopf gefallen, wurde krank und redete mehrere Tage irre. In diesen Tagen war uns Kindern entsetzlich zu Muthe. Der Großvater saß auf dem Sopha in der großen Wohnstube und wollte bald diese, bald jene Geschäfte vornehmen. Bald wollte er anspannen lassen, um auf den Camp zu fahren, wo wir etwas Busch besaßen, dessen Weiden er selbst jährlich kröpfte; bald suchte er ein Messer und rief nach unserm Fleischer, dem alten Kunert, der im Spätherbst bei unserem Wurstfest die Schweine abstach, die der Großvater selber fett fütterte und am Schlachttage bewältigen half; bald verlangte er hinaus in seine Werkstatt; bald versank er in Schweigen und wir Kinder vernahmen einige Tage, wie die Erwachsenen sich die für uns schauerliche Redensart zuriefen: der Tod kämpfe bereits mit dem alten Herrn, aber er sei noch zu stark und leiste ihm noch zu großen Widerstand. Da stellten wir uns denn vor, wie das Beingerippe mit der[25] großen Sichel in der einen, mit dem Stundenglase in der andern Hand auf den Großvater eindränge, wenngleich uns seine Angriffe nicht sichtbar wären. Eines Mittwochs früh, als ich in der Schule eben meinen Spruch aufsagen sollte, klopfte es an der Schulstubenthür. Der Schulmeister ward herausgerufen, kam aber sogleich wieder herein und rief mich und meine Schwester, daß wir nach Hause kommen sollten, weil soeben der Großvater gestorben. Wir eilten hinüber und kamen dazu, wie man ihm ein weißes Tuch um den Kopf band, die Kinnladen zu schließen. Der Schlag hatte ihn getroffen. Die Mutter war vor Schmerz außer sich. Wir Kinder weinten auch, jedoch mischte sich in unser Gefühl mehr Aufregung von dem Außerordentlichen unseres nunmehrigen häuslichen Zustandes. Wir hatten nun selbst eine Leiche im Hause. Es war bei uns etwas »los«. Wir blieben natürlich aus der Schule, fürchteten uns, obgleich es der liebe Großvater war, der da drüben todt lag, Abends beim Einschlafen doch ganz gewaltig und horchten mit Aengsten auf jedes Knistern und Poltern. Bei dem Begräbniß blieb die sehr gebeugte Mutter mit meiner Schwester zu Hause, und nur ich wurde in einer Kutsche mitgenommen.

Wie aber der Komet dem Tode des Großvaters voranging, so ging dieser Tod einem noch größeren Leidwesen voran, das er, wie die Mutter hinterher so oft erwähnte, doch nicht überlebt haben würde.

Ich war mit meiner Schwester bei den Kindern jenes trefflichen Mannes, des Friedensrichters Hecht, zum Besuch, als er, nach Hause kommend, mit großer Aufregung uns sofort nach Hause zu gehen bat, um den Eltern die Nachricht zu bringen, daß die Vorstadt aus militärischen Rücksichten, um die Festung bei einer etwaigen längeren Belagerung noch mehr zu sichern, zum größten Theil weggebrochen werden sollte. Zu diesem Theil gehörte nun sowohl das rothe Haus als unser gegenwärtiges Haus.

Voller Staunen über so unerhörte Dinge eilten wir nach Hause und versetzten die Eltern in die heftigste Trübsal. Sie liebten das Haus, dessen Fenster mit ihren grünen Marquisen schon von außen her so freundlich lächelten, auf das Zärtlichste und sollten nun von ihm sich trennen. Nicht blos die Mutter weinte und rang die Hände, auch der Vater – was uns neu war – weinte, und wir Kinder weinten an[26] jenem Abend um die Wette mit. Dumpf und trübe schlichen ein paar Wochen hin, bis eines Morgens die Zimmerleute kamen, das Werk der Zerstörung zu beginnen. Der Vater hatte indessen in der Stadt, unweit der hohen Pforte, der Jakobikirche gegenüber, bei einem Zimmermeister Struve, im goldenen A, eine Wohnung gemiethet und unsere Meubles und Sachen wurden nun allmälig dorthin geschafft.

Welch ein Moment! Wenn ich daran zurückdenke, wie ich vor meinen Augen alle diese großen schönen Häuser am breiten Weg, in der Domstraße, in der Kloster- und Sandstraße unter der Axt des Zimmerers und dem Hammer des Maurers verschwinden sah, so überkommt mich noch die damalige Empfindung, daß ich auch meinem Bewußtsein Gewalt angethan fühlte. Diese Häuser waren für mich so unendlich groß gewesen, ihre Stuben, Flure, Böden und Ställe waren uns Kindern oft so labyrinthisch erschienen. Und siehe da! Axt und Hammer ließen uns plötzlich in das Innerste aller Winkel blicken. Das profane Licht drang in alle Heimlichkeit. Diese Häuser waren für mich so fest mit der Erde verwachsen, daß ich mir die Welt ohne eine Neustadt und ohne einen breiten Weg mit diesen Häusern gar nicht als möglich vorstellen konnte, und doch deckten sich die Dächer ab, und doch verlor sich ein Giebel, ein Stockwerk nach dem andern, und die Welt sah binnen wenigen Wochen – zu meinem Erschrecken – ganz anders aus. Diese Häuser, in denen wir so lange, gegen Wind und Wetter geschützt, in allem Kriegslärm sicher gewohnt hatten, diese festen Mauern, diese starken Balken – sie mußten dem Eisen weichen. Und die Häuser nicht allein, die den Privaten angehörten, nein, auch die Schule, auch das Kloster, auch das Rathhaus, ja auch die Kirche! Das war fast zu viel für das kindliche Gemüth. Wäre die Stadt zerschossen oder abgebrannt, das hätte ich eher gefaßt; aber dies Zerstören inmitten der Ruhe, diese Vernichtung des Glücks so vieler Familien, wie aus Laune, war mir unfaßlich. Die verschiedenartigsten Empfindungen wurden in mir wach. Eine Erbitterung gegen die Franzosen setzte sich bei mir fest. Unruhe, Leichtsinn, Lust an der Zerstörung, eine gewisse Verwilderung bemächtigte sich meiner. So sehr ich an jenem Abend der ersten Trauerkunde mit den Eltern geweint hatte, so ausgelassen und übermüthig wurde meine Stimmung, als bei uns vom Dach herunter[27] das Haus mit Beilen und Brechstangen zerlegt wurde. Ich half selber mit zerstören und trieb tolle Possen, namentlich mit gefährlichen Klettereien. Als deshalb einst von der goldenen Sonne, uns gegenüber, die Cousine Hammer zu meiner Mutter schickte, weil ich zu waghalsig mit den Füßen zu den Fenstern des oberen Stockwerks herausbaumelte, mußte ich eine scharfe Strafpredigt erdulden, in welcher die Mutter mir die Thränen jenes Abends als eine Lüge vorwarf und meine Lustigkeit als abscheulich und unmenschlich tadelte. Ich suchte mich zu schämen, aber das Gefühl der rauschartigen Aufregung dauerte fort, denn mit dem Anblick des allgemeinen Untergangs war Alles, was in meiner Kinderseele als ein Festes und Unantastbares dagestanden hatte, wankend geworden. Gewiß ist, daß durch dies gewaltsame Verschwinden des objectiven Daseins meiner Kinderwelt mein Geist einen ungeheuren Anstoß empfing. Das Abbrechen einer Existenz und das Aufbauen einer neuen war von mir im kolossalsten Maßstabe empfunden und die verwüstenden Folgen dieses Erlebnisses entwickelten sich in den nächsten Jahren bis zu bedenklichen Ausartungen, wenn auch meine Intelligenz eine größere Schärfe durch die totale Veränderung gewann, die mit unserer ganzen Lage vorging.

Die Mutter krankte von hier ab. Es war gegen Ende October des Jahres 1812, als wir Kinder mit ihr in einen Kutschwagen gesetzt waren, der uns in unsere neue Wohnung nach der Altstadt bringen sollte. Die Mutter war in Betten gehüllt, hustete, fieberte, weinte. In stummer Trübheit saßen wir Kinder ihr gegenüber. Eine neue Welt that sich mir auf.

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878, S. 1-28.
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