XX.
Heinrich Stieglitz. Die Geschichte der Poesie.

[465] Ich war zuerst mit poetischen und literarischen Arbeiten aufgetreten. Durch Hofrath Gruber war ich sodann veranlaßt worden, Schriften aus diesem Gebiet in der Halleschen Literaturzeitung zu recensiren. Hiervon war die weitere Folge, daß auch die Berliner Jahrbücher mir solche Aufgaben zumutheten. – Von hier ab hat mich die Deutsche Belletristik nicht wieder losgelassen, mir ihre Producte zur Kritik unterzubreiten, bis ich vor etwa zehn Jahren jedes Ansinnen solcher Art ganz entschieden ablehnte. Ich war es müde geworden, Manuscripte zu lesen und Erstlingsversuche zu beurtheilen. Ich war es noch müder geworden, den Dichtern oder Philosophen Verleger für ihre Schöpfungen zu empfehlen. Von allen Bitten, die im Leben eines Schriftstellers zu den unangenehmen gerechnet werden müssen, sind die unangenehmsten die, welche die Noth um einen Verleger hervorruft. Nur die Bitte dramatischer Autoren, ihre Trauerspiele auf einer Bühne zur Aufführung bringen zu helfen, übertrifft sie noch an Peinlichkeit. – Es ist übrigens unglaublich, wie viel Verse in Deutschland gemacht werden, und noch unglaublicher, wie viel von diesen Versen wirklich zum Druck gelangen. Der größte Theil dieser Dichtungen ist nur eine mehr oder weniger geschickte Reproduction schon vorhandener, als classisch anerkannter Muster. Das Genie ist, der Natur der Sache nach, selten. Nun halten sich aber die Dichter in der Regel für Genie's. Sie haben über den Werth ihrer Production, was auch ganz begreiflich, kein klares Urtheil, sondern nur das Vorurtheil, daß man sie vortrefflich finden müsse. Dies ist der schwierige Punct für den Kritiker. Wenn er lobt, ist man mit ihm zufrieden. Tadelt er aber, oder verwirft er wohl die[466] ganze Poeterei, so hat er sich damit einen unversöhnlichen Feind geschaffen. Man hat zwar von dem Kritiker die Wahrheit zu hören gewünscht, allein wenn er sie aufrichtig ausspricht – sei es auch im höflichsten Ton – so fühlt man sich beleidigt. Das verletzte Selbstgefühl reagirt, und der Kritiker, dessen Urtheil man soeben noch mit größter Bescheidenheit, mit unbedingtem Vertrauen als maaßgebend anrief, wird plötzlich zum beschränkten Menschen, der das Neue, das Große, das Bedeutende, das Geschmackvolle der höchst interessanten Dichtungen nicht zu fassen vermag. Man geht auch wohl noch weiter und beschuldigt ihn des üblen Willens. – Ich kann mir nun das Zeugniß geben, daß ich mit aller Höflichkeit der Wahrheit treu zu bleiben gestrebt habe. Hiervon aber ist die Folge gewesen, daß sehr viel Personen, die meine Auctorität erbeten hatten, gegen mich, um es ganz gelinde auszudrücken, verstimmt wurden. Zuweilen gerieth ich mit den Verfassern ganz unmittelbar in üble Lage. So mit einem Mann, Namens Heidelberg, der ein großes Gedicht: »Orpheus« hatte drucken lassen, das von der Leipziger Kritik günstig aufgenommen war. Dieser Mann kam nun mit einem zweiten epischen Gedicht im Manuscript: »Jesus Christus«, zu mir. Er besuchte mich wiederholt, aber ich konnte seinem Werke keinen Geschmack abgewinnen, worüber er schließlich ganz außer sich wurde. Nach einer heftigen Scene kam er glücklicher Weise nicht wieder. Schlimmer erging es mir mit einem Studenten, der unstreitig Talent für das Drama besaß. Ich hatte ein Trauerspiel von ihm gelobt. Er brachte mir ein zweites. Ich ersuchte ihn, zu mir zu kommen, es mit ihm durchzugehen. Es hatte einzelne Schönheiten, allein auch viel Verfehltes und bedurfte starker Remeduren. Als ich ihm dies auseinanderzusetzen suchte, wurde er, weil er vielleicht nur Lob zu hören gekommen war, allmälig so wüthend und unmanierlich gegen mich, daß ich, so schwer es mir wurde, ihm die Thür wies. Ich war auch in Affect gerathen und hatte zuletzt mit fürchterlicher Stimme auf ihn losgescholten. Ich erwartete nun einige Tage nach dem Zuschnitt des damalige Studentenlebens in Halle, daß mir, wie es Leo wiederholt gegangen war, die Fenster eingeworfen werden würden, und bereitete meine junge Frau darauf vor. Doch verzog sich die Sache wieder. Auch verließ ich Halle bald nach diesem Auftritt für immer.[467]

Doch sind mir aus der Theilnahme an den Arbeiten Anderer auch sehr erfreuliche Verhältnisse erwachsen, die öfter zu lebenslänglicher Freundschaft sich befestigten. Sehr begreiflich waren es gerade die Talentvolleren, mit denen sich solche Verbindungen schlossen. Ich besaß die Gabe der productiven Kritik, d.h. ich erkannte nicht nur passiv das Gute an, ich tadelte nicht nur polemisch, was mißlungen und verwerflich schien, sondern ich hatte auch eine sympathische Erfindungsgabe, durch welche ich positiv nützlich und förderlich werden konnte. Sobald die Besseren dies wahrnahmen, wuchs ihr Vertrauen zu mir bis zur Rückhaltlosigkeit eben so sehr, als die Schwächeren und mit dem Dünkel der Originalität Behafteten sich gerade hierdurch abgestoßen fühlten. Meine Theilnahme war immer sachlich und uneigennützig, aber sie erblickten in meinen Verbesserungsvorschlägen eine schulmeisterliche Bevormundung, die ihnen unbequem war. Sie zogen sich daher von mir zurück, während die Gemeinschaftlichkeit des Suchens und Gestaltens mit Andern nicht selten zu den interessantesten Gesprächen oder Briefwechseln führte. Manchmal war mir die individuelle Lage des Andern zu fremd, um ihm, trotz meines guten Willens und trotz seiner hingebenden Offenheit, hülfreich werden zu können. So erging es mir mit Enk. Dies war ein Oesterreichischer Mönch, der als Lehrer am Lyceum in Mölk wirkte. Er war ein Freund von Ferdinand Wolf in Wien, und durch diesen wurde er mit mir in Zusammenhang gebracht. Ich empfing von ihm sehr ausführliche Briefe. Ich recensirte seinen Roman: »Don Tiburzio«; seine Theorie der Tragödie, die er unter dem Titel: »Melpomene« herausgab; ich versuchte, auf seine Fragen und Pläne einzugehen, allein es blieb mir immer etwas Undurchdringliches bei ihm zurück, wie es ihm wahrscheinlich umgekehrt mit mir eben so ergangen ist. Nachdem er noch eine recht gründliche Schrift über Lope de Vega und Calderon hatte drucken lassen, stürzte er sich aus Melancholie in die Wellen der Donau, die an dem Felsen vorüberrauschten, auf welchem das Kloster Mölk erbaut ist.

Die Hegel'sche Schule hatte damals auch eine poetische Phase, die sich theils an Göthe, theils an Heine anschloß. Wegen meines Nachspiels zum Faust konnte man mich selber dazu rechnen. Es waren aber vorzüglich zwei Dichter in Berlin, welche sie vertraten: Heinrich[468] Stieglitz und Karl Werder. Den letzteren habe ich persönlich erst 1848 kennen gelernt, mit dem ersteren jedoch war ich durch meinen häufigen Aufenthalt in Berlin schon früher in näheren Verkehr gerathen. Da er mich zuweilen zum Thee zu sich einlud, so machte ich auch die Bekanntschaft seiner höchst liebenswürdigen Frau, die ein so unglückliches Ende nehmen sollte. Stieglitz gab mit Werder einen Berliner Musen-Almanach heraus. Sie luden mich zur Theilnahme daran ein, die ich ablehnen mußte, jedoch den ersten Jahrgang in der Halleschen Literaturzeitung recensirte. Nach dem Vorgang von Göthe und Rückert in ihren Westöstlichen Dichtungen gab Stieglitz in vier Bänden Bilder des Orients heraus, worin er eine Gallerie seiner Nationen von China bis zur Türkei schilderte. Ich recensirte sie in den Berliner Jahrbüchern. Es steckt eine gewaltige Arbeit darin. Ihre Physiognomie trägt einen unverkennbaren Zug aus Hegel's Auffassung der Weltgeschichte. Was er später noch hervorgebracht hat, reicht nicht an sie heran. Seine Frau Charlotte hatte durch ihren Tod ihn auf einen höheren Standpunkt zu erheben gehofft. Der Schmerz über das Opfer, welches sie ihm brachte, sollte seinem krankhaften Streben nach Größe eine entsprechende Kraft verleihen, allein er wurde nur gänzlich dadurch gebrochen. Zwar kämpfte er redlich mit seinem Geschick, allein er siechte in geistiger Schwindsucht hin, irrte unstät umher und starb einsam in Venedig, ohne sich genug gethan zu haben.

Obwohl Stieglitz ein Hegelianer geworden war, so blieb er doch als Dichter wesentlich ein Romantiker. Auch sein Schicksal war ein romantisches, ganz im Sinne der Tieck'schen Ironie, denn der Selbstmord seiner Frau, den sie mit heroischer Resignation vollbrachte, ihren Gatten von seiner Hypochondrie zu heilen und ihn mit einer Begeisterung zu erfüllen, wie etwa Dante für seine Beatrice empfand, bewirkte nicht, was er bewirken sollte. Die ganze Zeit war eben noch von der Romantik erfüllt. Gruppe bekämpfte die Hegel'sche Philosophie noch kurz vor Hegel's Tode 1831 mit einer Komödie: »Die Winde oder die absolute Construction«, die halb nach Platen's Romantischem Oedipus, halb nach Tieck's Zerbino organisirt war. Die romantischen Dichter lebten ja auch noch. Lernte ich doch noch Fouqué persönlich kennen, als er sich nach Halle übersiedelte. Wie hätte ich gedacht, als[469] ich mit meiner Schwester in seinen Dichtungen schwelgte, einst die Ehre zu haben, daß der Dichter des Zauberrings mir in der Uniform eines Preußischen Obristen die Visite machen würde, wie dies eines Tages geschah. Fouqué beschäftigte sich in Halle auch mit Philosophie, insofern er eine Biographie des romantischen Philosophen Jakob Böhme drucken ließ, die ich auf seine Bitte in der Halleschen Literaturzeitung anzeigte. – Es war eine sehr gut gemeinte, aber ganz oberflächliche Arbeit, in welcher von einem Verständniß der Speculation Böhme's keine Spur zu finden war. Aus Verehrung für den Dichtergreis, dem meine Jugend so köstliche Stunden verdankt hatte, behandelte ich sie kurz und mit zarter Schonung.

Nun sollte ich aber nicht nur mit werdenden und fertigen Poeten verkehren, sondern ich sollte auch durch eine eigenthümliche Entdeckung zu einer anhaltenden Beschäftigung mit der Geschichte der Poesie vom Sommer 1831 bis zum Sommer 1833 bestimmt werden. Als ich das erste Mal den Versuch machte, die Geschichte der Philosophie vorzutragen, boten mir die Handbücher von Tennemann und von Rixner, die ich früher erwähnt habe, einen sehr willkommenen Anhalt. Eines Tages fiel ich darauf, ob von der Geschichte der Poesie nicht ähnliche Handbücher existirten. Zu meinem Erstaunen konnte ich solche nicht entdecken. Ich fand diese Geschichte theils nur als Specialgeschichte der Poesie der einzelnen Völker, theils als Moment in den Geschichten der Literatur von Meusel und Wachler, theils in den allgemeinen Weltgeschichten, wo sie den Uebersichten der Culturentwickelung der Völker incorporirt waren. Ich fand, daß die Geschichtschreiber in der Regel so verfuhren, daß sie eine kurze biographische Notiz über die Dichter, eine Titelangabe ihrer Werke und ein ästhetisches Urtheil über ihren Styl mittheilten, welches letztere gewöhnlich sich auf bloße Prädikate, wie kühn, glänzend, anmuthig, trocken, schwülstig und dergleichen beschränkte. Von einem höheren Gesichtspunkte, von einer inneren Entwickelung war keine Spur zu finden! Ich entdeckte ferner, daß am Ende des vorigen Jahrhunderts ein Rector des Gymnasiums zu Herford, Hartmann, 1797 und 1798 den ersten Versuch einer allgemeinen Geschichte der Poesie mit äußerster Schüchternheit und Befangenheit gemacht hatte. Er kann in seiner Vorrede sich nicht genug entschuldigen,[470] einen solchen Versuch zu wagen, indem er sich hinter die Kategorie der Nützlichkeit und Brauchbarkeit eines solchen Unternehmens verschanzt. Im Gefühl, wie dürr seine eigene Erzählung ausfiel, wollte er durch Uebersetzung sogenannter Proben aus den Dichtern nachhelfen. Er theilte die ganze Geschichte in drei Perioden; die erste von der Schöpfung bis zur Gründung des Jüdischen Staates 1516 vor Christus; die zweite von hier bis zur Völkerwanderung 496 nach Christus; die dritte von hier bis auf die Gegenwart. Innerhalb dieser Perioden betrachtete er die Völker synchronistisch. Bei der zweiten Periode sah er sich jedoch genöthigt, 336 vor Christus mit dem Macedonischen Reiche noch einen besonderen Abschnitt zu machen. Er hielt dann innerhalb eines jeden Zeitraumes eine Heerschau über die verschiedenen, neben einander hingestellten Völker, d.h. er befolgte die synchronistische Methode. Er blieb aber bei der Völkerwanderung mit dem zweiten Bande stehen. Der dritte Band erschien nicht. Wenn ich nun dies unvollständig gebliebene Buch mit dem Standpunkt verglich, zu welchem sich inzwischen die Deutsche Philosophie für den Begriff der Kunst und besonders der Poesie erhoben hatte, so konnte sich mir nur ein schreiendes Mißverhältniß für die Darstellung der Geschichte der Poesie ergeben. Es ist jetzt Mode geworden, von der romantischen Schule nur verächtlich zu sprechen, allein man wird ihr das Verdienst nicht ableugnen können, die Geschichte der Poesie poetischer, inniger, tiefer, würdiger aufgefaßt zu haben. Herder und Schiller legten den Grund zu der neuen Anschauung; Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Jean Paul, Solger, Wilhelm von Humboldt, hatten dann nach verschiedenen Seiten hin weiter gearbeitet. Meine Belesenheit auf dem ästhetischen und literar-historischen Gebiet war damals wirklich sehr ausgedehnt, und so fiel ich auf den Gedanken, ein Handbuch der allgemeinen Geschichte der Poesie zu schreiben, welches dem Standpunkt der Gegenwart entspräche. Dies geschah auch, und so wurde dies Werk in drei Bänden mit einem Register das erste vollständige Gemälde der Geschichte der Poesie.

Ich würde vielleicht nicht den Muth gehabt haben, es zu unternehmen, wenn es mir nicht einerseits unendliches Vergnügen gemacht, andererseits auch eine gute Summe Geld eingebracht hätte, dessen ich gerade sehr bedurfte, weil ich mich im September 1832 verheirathete.[471] Ich habe ökonomisch eigentlich immer nur ein negatives Princip verfolgt, nämlich keine Schulden zu haben, welches durchzusetzen mir auch gelungen ist. Die Kunst des Geldsammelns habe ich nie verstanden. Es ging mir, wie Lessing. Wenn ich Geld hatte, schien es mir höchst entbehrlich, wenn ich es aber nicht hatte, das Unentbehrlichste. Ich war kein Verschwender, allein ich versagte mir eigentlich wenig. Reisen, Bücher, Kupferstiche, Theater und Concerte waren die Gegenstände, für welche ich einen verhältnißmäßig großen Aufwand machte. Auch die Gastfreiheit, die ich gegen Fremde nach damaliger Sitte üben mußte, welche mir ihren Besuch schenkten, verursachte manche Kosten. – In der humoristischen Vorrede, die ich zum ersten Bande jenes Handbuchs schrieb, habe ich eine verblümte Schilderung meiner damaligen Situation gemacht. Hätte Hegel noch gelebt, so fragt sich, ob ich mich so leichtsinnig in die zu Halle grassirende Schreibseligkeit hätte fallen lassen, um mit einer bloßen Compilation hervorzutreten, in welcher die Philosophie sich auf eine Construction des Stoffes beschränkte.

Mit Hegel war die Auctorität verschwunden, die er auf seine Schule übte. Die Anarchie der Schüler begann. Die Strenge der Forderungen kehrte zwar ein Schüler gegen den andern hervor, allein gegen sich selbst wurde man immer nachsichtiger. Ich hatte von der Kritik, so weit sie den vorhegel'schen Standpunkt vertrat, genug zu leiden gehabt. Das unaufhörliche Gerede gegen die Dialektik brachte mich jetzt dahin, sie zwar in der Sache walten zu lassen, sie jedoch nach Außen hin aller Schulform und methodischen Feierlichkeit zu entkleiden. Es kam darauf an, die Resultate der vielen Specialarbeiten mit kritischem Tact richtig auszuwählen und sie in der Einheit der gesammten Anschauung so zu verarbeiten, daß eine harmonische Ausgleichung des Mannichfaltigen, das ich von Andern entlehnte, möglich wurde. Ich citirte die jedesmalige Quelle, aus welcher ich schöpfte und rechtfertigte bei wichtigen Puncten die Gründe, die mich zu meiner Beurtheilung bestimmten. Die außerordentliche Gewandtheit, die ich damals in der Anwendung der dialektischen Methode auf concrete Gegenstände besaß, erleichterte es mir, den ungeheuren Stoff mit glücklichem Instinct zu durchdringen. – Alles hat in uns seine Epoche, und so bewegte ich mich einige Jahre in einer unendlich fruchtbaren Reflexion[472] über die Erzeugnisse der Poesie. Meine Arbeit war einerseits eine durchaus gelehrte, sofern man unter Gelehrsamkeit ein die Thatsachen einer Sphäre umfassendes, reiches Wissen versteht. Andererseits war sie eine philosophische, sofern ich an die Stelle der rohen Begrifflosigkeit, die ich vorfand, eine Entwickelung setzen wollte, welche in der Erscheinung das Wesen der Idee offenbar machte.

Für den inneren Proceß der Poesie verfolgte ich überall ihren Gang von der Naturpoesie zur Kunstpoesie. Die Naturpoesie hebt sich auf, sobald ein Volk zur Schrift gelangt. Sie dauert aber neben der Kunstpoesie als Volkspoesie fort. Wenn die Kunstpoesie sich nicht der Ursprünglichkeit des Volkslebens entfremdet, wie es durch eine einseitige Hofpoesie zu geschehen pflegt, so kann sie als Nationalpoesie den individuellen Gehalt der Volksdichtung mit der Vollendung der höfischen Form vereinigen. Diese classische Popularität ist die höchste Stufe der Ausbildung der Dichtkunst.

Für die Eintheilung hielt ich mich an die weltgeschichtliche Trias des Orients, der antiken und der christlichen Welt. Die Orientalische und die Hellenische Poesie sind einander entgegengesetzt. In jener kämpft der Verstand mit der Phantasie. Der Verstand wird didaktisch, die Phantasie phantastisch. Gegen das Zerfließen in diese Extreme macht die Griechische Individualität die schöne Mitte derselben, die absolute Einheit von Inhalt und Form, aus. Das Maaß überwindet die Maaßlosigkeit und setzt sie im Kolossalen zu einem Moment herab, wie die schönen Götter die hunderthändigen Titanen in den Tartarus werfen, über dessen Dunkel sie auf den heiteren Höhen des Olympos thronen. Die christliche Welt macht die Innerlichkeit des Gemüths, die absolute Versöhnung Gottes mit dem Menschen zum Princip. Schon in seinem er sten Auftreten nimmt das Christenthum durch seine heilige Schrift das Orientalische und das Hellenische Element in sich auf. Jedes Volk aber, welches von der christlichen Religion als der Weltreligion einverleibt wird, muß seine Besonderheit mit der Allgemeinheit des Menschlichen durchdringen. In diesem Kampf erneut sich das absolute Ideal in einer höheren Gestalt.

Im Orient unterschied ich die Chinesische, die Indische und die Vorderasiatische Poesie. Die erstere ist verständig, die zweite phantastisch,[473] die dritte gemüthvoll. Die beiden ersteren Völker stehen gleichsam als besondere Menschheiten neben einander, bis der Buddhismus aus ihrem Gegensatz, aber in einer nur negativen Weise, zum Gedanken des allgemein Menschlichen in allen Völkern vordringt. In Vorderasien geht die Poesie in der vorchristlichen Zeit von der Hebräischen, in der nachchristlichen von der Muhamedanischen Theokratie aus, welche die Volkspoesie der Arabischen Lyrik und der Persischen Epik in sich aufzehrt, die dramatische Dichtung aber, zu welcher China und Indien gelangten, von sich ausschließt.

In der antiken Poesie ist die Griechische in der Totalität aller Gattungen die wahrhaft schöpferische, die Römische nur eine formelle Fortsetzung derselben. Die Hellenische Kunstdichtung war zugleich Nationalpoesie. In Alexandrien kam sie durch die Kritik zum Bewußtsein über ihre Form und wurde zugleich unter den Ptolomäern Hofpoesie. Die Alexandrinische Poesie macht die Mitte zwischen der volksmäßigen Griechischen Poesie und zwischen ihrer Römischen Nachbildung aus. In der Erotik der Idylle, der Elegie und des Romans, in der Abschilderung des Privatlebens durch das Drama und im theils gnomischen, theils descriptiven Lehrgedicht starb die antike Poesie dahin.

Die moderne Poesie ist viel schwerer zu fassen, weil sie aus sehr verschiedenen Elementen entspringt. Die nationale Individualität wird überall durch das Ideal der Humanität durchbrochen, welches die christliche Religion aufstellt. Mit ihrem Glauben verbreitet sich aber zugleich überall eine gewisse Kenntniß der antiken Poesie, welche die Nachahmung der gelehrten Kleriker und später der Humanisten zur Folge hat. Bis zum funfzehnten Jahrhundert überwiegen noch Stoff und Form der ursprünglichen Celtischen oder Germanischen Volkspoesie. Dann steht diese eine lange Zeit der gelehrten Lateinischen oder in der Form der Nationalsprache sich ihr eng anschließenden künstlichen Dichtung gegenüber, bis die moderne Poesie mit selbstständiger Kraft als nationale hervorbricht. – Ich ging nun von den Romanischen Völkern zu den Germanischen, und von diesen zu den Slavischen über. Unter den ersteren stellte ich die Franzosen voran, weil sie am selbstständigsten – sowohl dem Inhalt als der Form nach – die ungeheure Mannichfaltigkeit der neuen Stoffe gestalteten. Durch das verständige Geschick,[474] mit welchem sie sich dabei benahmen, sind sie die Meister der Europäischen Poesie geblieben. Die Italiener erhoben die Poesie zur reinsten Kunstform. Dante bezwang in seinen Terzinen die ganze Scholastik, Petrarca in seinen Sonetten den Minnegesang, Boccaccio in der Prosa seines Decamerone die Novelle, Bojardo, Ariosto und Tasso in der schön gebauten Stanze das heroische Epos zur durchsichtigen Klarheit der Gestalten. Die Plastik des Italienischen Styls war zugleich musikalisch vollendet. Die Oper, das eigenthümlichste Product der modernen Kunst, ging von Florenz und Venedig aus. Die Spanier und Portugiesen nahmen die Italienische Form auf. Die Dialektik des alleinseligmachenden katholischen Glaubens, der ritterlichen Ehre der Vasallen und der Leidenschaft der Liebe wurde der Inhalt ihrer Romanzen und Dramen, bis ihre originelle Productivität mit Calderon ihre höchste künstlerische Verklärung erreichte. Die Englische Poesie hat im Gegensatz zur Spanischen einen skeptischen Zug, der sich zur absoluten Befreiung im Humor forttreibt. Die Deutschen fangen zwar mit nationalen Dichtungen an, fallen aber bald in Abhängigkeit von den Franzosen und Engländern und gelangen erst durch Lessing und Klopstock, Göthe und Schiller zu einer selbstständiger Poesie. An Erfindung bleiben Franzosen und Engländer ihnen überlegen, so daß die Abhängigkeit von denselben in Drama und Roman nicht aufhört.

Dies ungefähr war der Gang, den ich nahm. Da derselbe das ethnographische Princip stark betonte, so gab ich am Schluß eine Uebersicht des genetischen Verlaufs nach allgemeinen Perioden und Epochen. Diese Uebersicht ist eine nach Inhalt wie nach Form gelungene Arbeit, welche fortzuleben verdient, wenn auch alles Uebrige der Vergessenheit anheimfällt. Ich bin selbst Schuld, daß ein so mühsames Werk, welches die Geschichte der Poesie durch Verarbeitung der vorzüglichen Leistungen von den Gebrüdern Schlegel, von Görres, Wilson, Hammer-Purgstall, Schlosser, Valentin Schmidt, Jakob und Wilhelm Grimm, Franz Horn, Tieck, Solger, Göthe, Schiller und so vielen Anderen auf eine ganz neue Stufe gehoben und mit einer glänzenden Gallerie inhaltvoller Anschauungen bereichert hatte, ein Werk, welches der erste vollständig durchgeführte Versuch auf diesem Felde nach festen ästhetischen Principien[475] und mit weltgeschichtlichem Sinn geschrieben war, nicht den Erfolg hatte, der ihm hätte zufallen sollen. Ich schrieb nämlich die Geschichte hinter einander fort und machte, wenn ich mit einem Volk zu Ende war, nur einen dünnen Strich. Dann ging es weiter. Den Ueberblick der Entwickelung nach Perioden, Epochen und Namen gab ich, sehr genau mit Zahlen und Buchstaben gesondert, in einer vor jedem Bande abgedruckten Inhaltsanzeige. Wie dumm! Ich mußte diese Architektonik im Innern des Buches durch Ueberschriften markiren. Dann hätte sich diese schöne Organisation, die mein Hauptverdienst war, dem Auge des Lesers einladend päsentirt und ich hätte für die Poesie ein Buch geschaffen, wie mein Freund Kugler für die Geschichte der Malerei. Kugler hat mir selber manchmal erzählt, wie sehr mein Buch ihm geholfen habe, dem Proceß der Entwickelung auf die Spur zu kommen, wenn er um die Auffindung von Perioden und um die Charakteristik des Geistes der Nationen und Zeitalter sich in Verlegenheit befand. Das Lesen in meinem Buche brachte sein Denken in Fluß und half ihm, auf richtige Fährten zu kommen. – Außer dem Fehler, die Eintheilung nicht überschriftlich für das Auge des Lesers in das Innere des Buches aufgenommen zu haben, machte ich, wie ich glaube, noch einen andern. Ich schrieb öfter zu poetisch und zu pathetisch. Aber ein Handbuch verlangt einen gleichmäßigen Ton, einen mittleren Styl, der ruhig und klar, nur den Verstand beschäftigt. Es ist nicht nöthig, deshalb so langweilig zu werden, wie der Rector Hartmann, allein man sollte, was er Nützlichkeit und Brauchbarkeit nennt, im Auge behalten.

Ich widmete mein Buch meinen Freunden Hotho in Berlin und Besser in Petersburg.

Ich bin nun ein so großer Liebhaber der Poesie aller Völker, daß ich die in jener Compilation behandelte Aufgabe während meines spätern Lebens immer von Neuem aufgenommen, zweimal sogar ein Collegium darüber gelesen und 1855 von einem ganz andern Standpunkte aus noch ein Buch darüber geschrieben habe, über welches ich auch schon wieder fort bin. Ich werde in der Regel bald nachdem ich etwas abgeschlossen habe, damit unzufrieden. Die Kritik, die ich an mir selber[476] übe, ist unerbittlich. Ich verwünsche daher oft, daß ich etwas hab drucken lassen und kann mich nur durch den Gedanken trösten, daß ich ohne den relativen Abschluß nicht zur Kritik, nicht zur Unzufriedenheit mit mir, nicht zum Fortschritt hätte gelangen können.

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878, S. 465-477.
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