XXI.
Uebergang in die Prosa. Entscheidung für Königsberg. Abreise von Halle.

[477] Mit dieser Geschichte der Poesie beschloß sich auch die Geschichte der Poesie meines Lebens, denn es erfolgte mit raschen Schritten der Uebergang in die Prosa des Mannesalters.

Der erste Schritt dazu war meine Verheirathung. Mit der Ehe erst lernt man die ganze Endlichkeit und Unendlichkeit des Lebens, den absoluten Ernst der Geschichte kennen.

Der zweite Schritt zur Prosa war eine Thorheit, zu welcher ich mich durch meine Tischfreunde hatte hinreißen lassen. Dr. Bahrt, der seiner Augen halber das stürmische und kalte Königsberg mit Halle vertauscht hatte, wollte eine sogenannte höhere Töchterschule begründen, für welche sich ein Bedürfniß geregt hatte. Um ihm aufzuhelfen, wurde in unserer Tischgesellschaft, deren Mitglied er war, beschlossen, daß wir das erste halbe Jahr unentgeltlich als Lehrer bei ihm eintreten wollten. Rosenberger und Scherk übernahmen das Rechnen und ich weiß nicht, was sonst noch, ich in der ersten Klasse das Französische. Ich hatte vier Stunden jede Woche zu geben und jede zweite Woche die Correctur eines Exercitiums. Die Wittwe des Linguisten Professor Vater übernahm das Protectorat der Schule und ertheilte mit ihrer Tochter Julie ebenfalls Unterricht. Als das erste Semester Ostern 1833 geschlossen wurde, veranstaltete Dr. Bahrt eine öffentliche Prüfung im Saal des Kronprinzen, welcher damals das vornehmste Hôtel in Halle[477] war, und ich führte hier auch mein Dutzend Schülerinnen vor. Die ganze Stadt konnte sich nun überzeugen, ob sie etwas bei mir gelernt hätten. Eine kleine Gräfin von Schulenburg, die mich auch später noch zuweilen hat grüßen lassen, zeichnete sich vorzüglich aus. Ich bin also auch Schulmeister in optima forma gewesen. Der Unterricht wurde mir ganz leicht und machte mir Vergnügen, aber er war insofern eine Thorheit, als ich die Zeit für meine übrigen Arbeiten viel besser hätte gebrauchen können, zumal meine Verheirathung sehr begreiflich gar mancherlei Zerstreuung mit sich brachte.

Der dritte Schritt zur Prosa war, daß ich vom 1. Januar 1833 ab Mitglied der wissenschaftlichen Prüfungscommission für die Fächer der Philosophie, der Pädagogik und der Deutschen Sprache wurde. Bernhardy, der Philologe, der in Berlin mein Lehrer gewesen war, Kämpz, der Physiker, Leo, der Historiker, Guericke, der Theologe, der mir so scharf bei meiner Habilitation opponirt hatte, wurden meine Collegen. Wie wunderbar war mir das! Ich mußte mich tüchtig zusammennehmen, die neuen Aufgaben, die sich mir hier stellten, richtig aufzufassen und zu lösen. Ich hatte Themata zu geben, Arbeiten zu beurtheilen, Examina und Probelectionen abzuhalten, Schulacten mit den Berichten von den Abiturientenprüfungen zu lesen und zu begutachten und sogenannte Wilde zu prüfen, d.h. solche jung Leute, die von keinem Gymnasium entlassen waren, sondern, was damals noch gestattet war, die Prüfung bei der Commission machten. Die Deutsche Clausurarbeit wurde von den Wilden auf der Waage im Senatszimmer gemacht. Es waren einige zwanzig. Ich mußte sie überwachen. Nur während ich zum Essen ging, löste mich der Universitätssecretär, Herr von Leonhardi, ab. Es war aber schwer, fast unmöglich, Durchsteckereien zu verhüten. Neben dem Senatszimmer war nämlich ein langes Zimmer. Hier war ein Apparat für die Bedürfnisse der jungen Leute aufgestellt. Bei der schmorenden Julihitze mußte das Fenster geöffnet bleiben, da man es sonst vor üblem Geruch nicht aushalten konnte. Die Praxis bestand nun darin, daß die Wilden unter dem Vorwand der Nothdurft sich in das Nebenzimmer begaben und das Thema einem auf der Straße lauernden guten Freunde zuwarfen, der zur Disposition oder auch Ausarbeitung des Thema's geschickter war und dieselbe durch[478] den bestochenen Wärter unter allerlei Formen dem Abgesperrten zugehen ließ. Es war wohl nicht gerade leicht, solche Verhältnisse, ohne Fehler zu begehen, zu behandeln, und ich glaube namentlich, daß ich als Neuling anfänglich bei den Probelectionen zu hohe Forderungen machte. Doch half mir meine natürliche Unbefangenheit, und ich muß den Erwartungen der Behörden genügt haben, weil ich sonst schwerlich im Januar 1834 zu Königsberg dasselbe Amt überkommen hätte, welches ich dort gerade dreißig Jahre lang verwaltet habe. Ich bin im Dociren und Examiniren grau geworden.

Endlich der vierte Schritt zur Prosa bestand darin, daß ich Halle verließ und eine ordentliche Professur der Philosophie in Königsberg annahm. Hier hatte Herbart vierundzwanzig Jahre gelehrt. Er hatte erwartet, nach Hegel's Tode nach Berlin berufen zu werden. Als dies nicht geschah, nahm er einen Ruf nach Göttingen an, wo Schulze gestorben war. Er kehrte zu der Universität zurück, an welcher er im Anfang des Jahrhunderts als Privatdocent aufgetreten war. Aber so einfach, als ich hier erzähle, machte sich die Sache bei mir nicht. Ich hatte einen schweren Kampf zu bestehen, das Anerbieten des Ministeriums anzunehmen.

Das Anerbieten schien zunächst ein großes Glück. Vom außerordentlichen Professor nach wenigen Jahren zum ordentlichen befördert zu werden und im Gehalt von zweihundert Thalern auf tausend Thaler zu steigen, war jedenfalls ein unleugbarer Fortschritt. Was jedoch den ersten Punkt anbetraf, so reizte er mich wenig, da ich niemals nach äußerer Macht und Ehre gestrebt habe. Ich bin zu großen Ehren gelangt. Ich bin Inhaber hoher Orden, ich bin Rath erster Classe, ich bin Doctor der Theologie, Mitglied vieler gelehrten Gesellschaften, selbst in Nordamerika, geworden, allein ich habe dies Alles nie gesucht. Es ist mir ohne mein Zuthun zugefallen. Was den zweiten Punkt betrifft, so war er für einen verheiratheten Mann von unbestreitbarer Wichtigkeit. Meine Frau wurde durch ihn ganz entschieden für die Annahme der Professur gewonnen. Ich wußte aber durch meine Freunde Rosenberger, Friedländer, Scherk, die in Königsberg studirt hatten, daß die Honorareinnahme des Philosophen daselbst gleich Null war. Die Anzahl der Studenten betrug nur zwischen drei- bis vierhundert. Die[479] meisten derselben waren arm und bezogen die Universität, um von ihr als einer wahrhaften alma mater mit Freitischen und Stipendien ernährt zu werden. Mediciner und Juristen, welche durchschnittlich vermögenden Kreisen der Gesellschaft angehörten, kümmerten sich wenig um die Philosophie. Logik und Psychologie wurden von Herbart nach einer Bestimmung der Vocation, die auch auf mich überging, unentgeltlich gelesen, indem darin gesagt ist, daß der Professor gehalten sei, in jedem Semester einen Hauptzweig seiner Wissenschaft gratis zu lesen. Ich habe dies Alles auch vollkommen bestätigt gefunden, denn ich habe es im Honorar im Maximum das ganze Jahr hindurch nie über hundert Thaler gebracht, obwohl es mir keineswegs an Zuhörern gemangelt hat. Den fleißigen Theologen und Philologen, die sich hauptsächlich um das Studium der Philosophie kümmern, wird hier in einem Umfang das Honorar gestundet, wie es in Deutschland unbekannt ist. – Herbart suchte den Ausfall der Collegiengelder dadurch zu ersetzen, daß er in seinem Hause eine Erziehungsanstalt für Söhne der reichen und vornehmen Familien einrichtete. Die Zeit, wo reiche Kur- und Liefländer in Königsberg studirt hatten, war längst vorüber. In Halle dagegen war ich in der baaren Honorareinahme bereits bis über fünfhundert Thaler gekommen, so daß der Quästor Leißring mir von der Annahme in Königsberg abrieth.

Nun aber Königsberg und Halle als Wohnsitz verglichen, schwankte ich keinen Augenblick, das letztere vorzuziehen. Ich wohnte hier im Mittelpunkt Deutschlands. Halle war kein Paradies, aber man konnte von hier bald nach dem Harz und dem Thüringerwalde, nach der Sächsischen Schweiz und Böhmen, nach Leipzig und Jena, nach Dresden und Berlin gelangen. Königsberg liegt an der äußersten Grenze Deutscher Cultur in einer kahlen Umgebung, die nicht zum Fußwandern, das ich so sehr liebte, verlockt. Es wird immer als eine Merkwürdigkeit angeführt, daß Kant von Königsberg nie weiter, als bis nach Pillau, seiner Hafenstadt, d.h. nur sieben Meilen weit fortgekommen ist. Wer aber Königsberg kennt, welches damals mit Berlin nicht einmal durch eine Chaussee verbunden war, die erst nach den Freiheitskriegen gebaut wurde, wird dies ganz begreiflich finden. – Ullmann, ein Badenser, klagte schon über das rauhe Klima in Halle und ging auch von ihm[480] nach Heidelberg zurück. Aber verglichen mit dem Klima Königsbergs ist es ein Italienisches. Königsberg liegt auf einer Wetterscheide, hat daher ein höchst unbeständiges Wetter und macht in einem Tage die extremsten Absprünge in der Temperatur. Schlimmer als dieser Wechsel ist jedoch der naßkalte Untergrund der Stadt, worin überdem viele morastige, mit faulen Dünsten freigebige Stellen vorhanden sind, welche es erklären, daß Königsberg schon funfzehn Choleraepidemien gehabt hat. Der berühmte Professor Dieffenbach, ein geborener Königsberger, sagte mir in Berlin, ich solle mir das Klima der Stadt als feuchte Kellerluft vorstellen. Damit es aber nicht den Anschein gewinnt, als wolle ich das mir sonst so werthe Königsberg verrufen, bemerke ich, daß ich nun vierzig Jahre hier lebe, ohne krank gewesen zu sein. Nur an Augenentzündung habe ich in Folge schrecklicher Kälte und orkanartiger Stürme zu leiden gehabt.

Schwerer als Gegend und Klima wog jedoch bei mir der Gedanke, mich von meinen Verwandten und Freunden in eine so weite Ferne hin trennen zu sollen. Von Halle aus hatte ich meine einzige geliebte Schwester in Eisleben vier Meilen, meine Vaterstadt Magdeburg eilf Meilen, meine übrigen Verwandten in Berlin einige zwanzig Meilen nahe, während von Berlin bis Königsberg noch über achtzig Meilen sich hinziehen. Es war mir, zumal bei der damaligen Schwerfälligkeit und Theurung des Postverkehrs, als sollte ich mich von ihnen für das Leben scheiden. Und in der That ist es auch mit Vielen so gekommen. Ich trat in eine ganz neue, ganz andere Welt ein, welche meine Freunde in Deutschland nicht kannten, während ich theils durch mein Amt als öffentlicher Lehrer, das mich mit einer großen Menge von Personen in Berührung brachte, theils durch meine Kinder, die hier aufwuchsen, immer enger mit Preußen verschmolz. – Wie Göthe's Leben in zwei Perioden zerfällt, welche durch Frankfurt und Weimar bezeichnet werden, so ist auch mein Leben in zwei Hälften zerfallen, deren eine mein poetisches Jugendleben in Magdeburg, deren andere mein prosaisches Wirken in Königsberg umfaßt.

In Königsberg selbst kannte ich Niemand, war aber durch meine von dorther stammenden Freunde gewissermaßen darauf präparirt. Durch sie hatte ich auch eine flüchtige Berührung mit dem Philologen Lehrs[481] gehabt, als er auf einer Reise nach der Schweiz durch Halle kam und Scherk und Rosenberger besuchte, welcher letztere ihn zu unserem Mittagstisch in der Stadt Zürich mitbrachte. Wie hätte ich ahnen können, daß mit diesem großen Gelehrten, mit diesem herrlichen Menschen mich in Königsberg die innigste Freundschaft verbinden sollte, welche im Wandel der Zeiten auch die schwersten Prüfungen der Meinungsverschiedenheit glücklich bestanden hat.

Einige Wochen wurde nun in Halle über meine Berufung lebhaft hin- und hergesprochen. Die alte Partei, um sie kurz so zu nennen, sah mich gern fortgehen, da ich immer weiter ging und ohne schroffe Polemik gegen die Personen, wie Hinrichs sie geübt und sich dadurch gänzlich isolirt hatte, allmälig auch auf sie einen sachlichen Einfluß gewann, indem ich z.B. in der Halleschen Literaturzeitung auch philosophische Schriften, wie Weiße's Mythologie, Ruge's Platonische Aesthetik zu recensiren, oder für die Encyklopädie von Ersch und Gruber Artikel, wie Ontologie, Opfer u.a. übernahm, zu denen mich Meyer, als Dirigent der dritten Section, aufforderte. Ein Landsmann von mir, Schaller aus Magdeburg, war durch meine Collegia zur Hegel'schen Philosophie herangezogen und habilitirte sich 1833 als Privatdocent, indem er durch eine Dissertation über Leibnitz sich an die meinige über Spinoza anschloß. Durch meine Vorträge über Geschichte der Philosophie und über Aesthetik hatte ich angefangen, meinem sehr verehrten Hofrath Gruber, der mir persönlich wohlwollte, eine nicht unbedeutende Concurrenz zu machen.

Durch meine Mitgliedschaft in der wissenschaftlichen Prüfungscommission war mir ein wichtiger Einfluß auf die Schulen und Pädagogen eröffnet, wie Hinrichs ihn nie gehabt hatte. Die Studenten, vorzüglich Westphalen und Schlesier, waren mir sehr gewogen. So war es denn in der Ordnung, daß man mich los zu werden wünschte, da die verhaßte Hegel'sche Philosophie durch mich eine gefährliche Propaganda machte. Die junge Partei sah mich gewiß, und zum Theil aus denselben Gründen, sehr ungern scheiden. Meine Freunde waren jedoch in dem Urtheil einstimmig, daß ich die Professur annehmen müsse, theils um die Hegel'sche Philosophie nach Königsberg zu verpflanzen, wo sie eben so unbekannt war, als die Herbart'sche in Halle,[482] theils weil ich durch eine abschlägige Antwort das Ministerium gegen mich verstimmen und abgeneigt machen würde, für mich weiter etwas zu thun. –

Preußen lag aber in so nebelgrauer Ferne. Es gehörte damals noch nicht zu Deutschland. Wenn den Hohenzollern die Deutschen Besitzungen einmal wieder verloren gingen, so besaßen sie in Ost- und Westpreußen, wohin sie ja schon einmal geflüchtet waren, noch ein ganz anständiges Königreich. Um mir eine genauere Vorstellung von der Stadt Königsberg zu machen, hatte mir Freund Rosenberger eine Beschreibung derselben vom Buchhändler Nicolovius mit Kupfern geliehen. Sie vermochte mir aber kein besonderes Interesse einzuflößen. Herbart, dessen Nachfolger ich werden sollte, war mir von meinen Freunden als eine so bedeutende Persönlichkeit, als ein so genialer und beredter Lehrer, als ein so gelehrter, vielseitiger Forscher, gewandter Pädagoge und eleganter Gesellschafter geschildert worden, daß ich mich recht klein und schwach gegen ihn fühlte. Ich hatte mich wenig um ihn gekümmert. Ein sonderbarer Zufall hatte mich 1831 aufmerksam auf ihn gemacht. Da mein Freund Anton keine theologischen Schriften verlegte, so hatte ich meine theologische Encyklopädie an Schwetschke gegeben. Während sie in seiner Officin gedruckt wurde, brachte ich eines Morgens selber eine Correctur ab, fand das ganze Personal im Laden neugierig um ein Poststück versammelt, das man soeben, von einer Matte und Leinwand enthülste, worauf ein blanker metallner Kern, ein Blechkasten, zum Vorschein kam, in welchem sich ein höchst sauber geschriebenes, zierlich aussehendes Manuscript befand. Es war Herbart's Philosophische Encyklopädie, welche Schwetschke gleichzeitig mit meiner theologischen verlegte und auf demselben Papier mit denselben Lettern druckte. Sehr komisch schwitzten wir beide also, jeder mit einer Encyklopädie, unter demselben Preßbengel. Ich las nun auch diese Encyklopädie, durch welche Herbart in der Lehre vom Widerspruch eine gewisse Annäherung an Hegel's Dialektik versuchte. Sonst aber blieb mir Herbart eine sehr unbekannte Größe, die ich, wo ich auf sie gestoßen war, angestaunt, aber nie begriffen hatte. Hinrichs, als Oldenburger ein Landsmann von Herbart, hatte 1829 die Metaphysik desselben zur Kritik übernommen, mir fleißig daraus berichtet und lange Gespräche[483] darüber, namentlich im Garten von Trotha, gepflogen. Aber die realen Wesen Herbart's waren mir undurchdringlich geblieben und nun sollte ich in eine Welt eintreten, in welcher die Auctorität Herbart's durch Jahre lange Herrschaft befestigt war. Hinter Herbart aber stand in weiterer Perspective noch die große Gestalt Kant's, denn Herbart saß auf dessen Lehrstuhl. Zwischen Kant und Herbart war der Leipziger Krug drei Jahre hindurch Kant's unmittelbarer Nachfolger gewesen. Ich kam also durch Annahme der Professur in eine Beziehung zu Kant, die mich erschreckte. War ich auch gewohnt worden, ihn von der Hegel'schen Schule aus sehr polemisch, sogar geringschätzig behandelt zu sehen, war namentlich Hinrichs ein heftiger Gegner seiner kritischen Philosophie, so war ich doch von höchster Ehrfurcht vor seinem Genie und seinem Charakter durchdrungen. Und ich Zwerg sollte nun auf den Lehrstuhl treten, der durch diesen Riesen weltberühmt geworden?

Ich werde nun aufrichtig erzählen, wie die Sache weiter verlief. Gegen den Wunsch meiner Frau, gegen den Wunsch meiner Gegner, gegen den Rath meiner Freunde, gegen die Erwartung der öffentlichen Meinung – schrieb ich dem Ministerium einen Absagebrief. Ich trug ihn selbst auf die Post. Als ich nach Haufe zurückkehrte, sagte ich meiner Frau, daß unser Bleiben in Halle nunmehr entschieden sei. Dies gab Veranlassung, den gethanen Schritt noch einmal durchzusprechen, und diesmal siegte meine Frau. Außer den für die Annahme auf der Hand liegenden Gründen setzte sie dem schlechten Klima Königsbergs die Annehmlichkeit entgegen, daß es doch eine große Stadt sei; denn sie stellte sich als Berlinerin, da es eine Haupt- und Residenzstadt genannt wurde, etwas wenigstens Aehnliches, wie Berlin, vor. Gegen meine Scheu aber, einen Lehrstuhl zu betreten, wo ich so große Vorgänger gehabt, machte sie theils meine bisherigen Erfolge geltend, theils appellirte sie an meine Zukunft. Als Herbart nach Königsberg gegangen sei, sei er doch auch noch ein junger Mann gewesen.

Ich gab nach, eilte auf die Post, meinen Brief zurückzunehmen, was noch möglich war, schrieb dann einen Zusagebrief und trug ihn sogleich, um alles Schwanken zu verhindern, selber noch vor Postschluß fort. – So war denn mein Schicksal entschieden und ich verfiel zunächst einer unendlichen Wehmuth. Meine Frau konnte diese Empfindung[484] nicht theilen, da sie erst seit kaum einem Jahr in Halle lebte, allein für mich war diese Stadt voll von den interessantesten Erinnerungen, die von dem Augenblicke ab, wo ich sie für immer verlassen sollte, mit zauberischer Gewalt mein Herz bedrängten. Selbst die Wohnung, worin wir uns befanden, war für mich ein kleines Monument meiner ganzen Halleschen Geschichte. Hier hatte Hinrichs bis Ostern 1832 gewohnt, wo er sie verließ, weil er für seine Kinder eine Wohnung mit einem Garten suchte. Ich hatte sie nach ihm gemiethet. Hier war ich als Student, als Privatdocent, als Professor aus- und eingegangen und blickte aus den Fenstern des Seitenflügels in den Garten des Hauses der Staatsräthin von Jacob, wo ich die Dissertation über Spinoza geschrieben und worin ich noch mit Genthe, Loof und Bohtz so tolle Späße getrieben hatte. Doch, es half nichts. Das Schicksal hatte mich einmal gepackt und wir mußten endlich fort. Von Beuchlitz und Giebichenstein, von der Frau Hofräthin Pfaff, von Leo und Hinrichs, von Rosenberger und Scherk, von Ritschl und Meier riß ich mich mit manchem Ach und Weh los. Die Studenten, die mir anhingen, brachten mir einen Fackelzug und ich hielt meine erste öffentliche Rede zum Fenster hinaus. Mit meiner Frau fuhr ich nach Eisleben, meiner Schwester und ihrem Mann Lebewohl zu sagen. Zurückgekommen, gaben wir unsern Freunden und Freundinnen im Saal der Stadt Zürich ein Mittagessen zum Abschied und rollten am andern Morgen in einem schwerbeladenen Reisewagen zum Thor hinaus. Der getreue Brockhaus, den ich beibehalten hatte, Hanne, unser redseliges Mädchen, gaben uns noch eine Stunde das Geleit, reichten uns dann die Hand, wischten sich die Augen und überließen uns dem Gefühl der Vereinsamung. Es ist eine ganz müßige Frage, was aus mir geworden wäre, wenn ich in Halle blieb. Jedenfalls setzte mich das Amt, welches ich in Königsberg übernahm, in ein bestimmtes Verhältniß zu den centralen Wissenschaften der Philosophie, zur Logik und zur Psychologie. Ich hatte sie nicht vernachlässigt, allein ich hatte sie nur studirt, nicht vorgetragen. Da ich Hegel selber nicht gehört hatte und seine Vorlesungen über Weltgeschichte, Religion, Kunst und Geschichte der Philosophie noch nicht gedruckt waren, so kam ich auf diesen Gebieten zu einer selbstständigeren Auffassung, welche die Streitigkeiten erklärt, in welche ich[485] später mit der Schule Hegel's gerieth, sofern sie im Dogmatismus der Hegel'schen Traditionen stehen blieb und nur die Wiederholung desselben für correct ansah. Als eine weitere heilsame Folge meiner Lage in Königsberg muß ich die entschiedene Concentration auf philosophische Arbeiten im engeren Sinne betrachten. Ich war in Halle durch die allseitige Empfänglichkeit meiner Natur nach zu vielen Richtungen hin zerstreut. Mir wurde noch kurz vor meiner Abreise das Extrem von literarischer und theologischer Thätigkeit, worin ich mich bewegt hatte, recht anschaulich zum Bewußtsein gebracht. Der Bischof Tegner, der Dichter der romantischen Frithjofssage, kam von einer Badekur in Teplitz durch Halle und hielt sich hier einige Tage auf. Er besuchte mich und sprach mit mir über meine Geschichte der Deutschen Poesie im Mittelalter, die er mit Interesse gelesen hatte. Von hier aus kamen wir auch auf die Edda und auf Saxo Grammaticus. Wir vertieften uns in den alten Norden. Als Tegner nach einigen Stunden lebhafter Unterhaltung aufstand, um zu gehen, fragte er mich, ob ich mit dem Theologen Rosenkranz verwandt sei, der eine Encyklopädie der theologischen Wissenschaften herausgegeben habe, die er noch nicht kenne, von der er aber schon Manches gehört habe? Als ich ihm nun sagte, daß ich der Verfasser derselben sei, wollte er dies anfänglich kaum glauben. Die Verschiedenartigkeit dieser Leistungen schien ihm zu groß und ich erinnerte gegen sein offenbar bedenkliches Erstaunen zu meiner Entschuldigung an Herder, der ja auch literarische, theologische und philosophische Arbeiten durcheinander gemacht habe. Ich kam noch in einigen Gesellschaften mit ihm zusammen, mußte ihm beim Abschied versprechen, ihn einmal von Königsberg aus in Schweden auf seinem Bischofssitz zu besuchen, woraus, wie aus so vielen andern schönen Vorsätzen, trotz einer wiederholten Mahnung Tegner's, leider nichts geworden ist. Ich begreife jetzt nicht, wo ich damals den Muth und die Kraft hergenommen habe, Alles zu bewältigen. Ich kann es nur dem leichten Sinn der Jugend und dem Ungestüm meiner Neigungen zuschreiben. Wenn ich mit meinem Leben verschwenderisch umging, so geschah es, weil mein jedesmaliges Thun mir im Augenblick durchaus nothwendig erschien. Ich bemerkte z.B., als ich an dem dritten Theil meiner allgemeinen Geschichte der Poesie schrieb, wie sehr ich doch im Englischen zurückgeblieben[486] sei. Kaum hatte ich nun den Französischen Unterricht in Dr. Bahrt's Töchterschule um Ostern aufgegeben, als ich sofort selber Unterricht im Englischen nahm, vorzüglich meiner schlechten Aussprache nachzuhelfen. Mir wurde ein Herrnhuter empfohlen, der lange mit seinem Vater, einem Herrnhutischen Buchhändler, in Norwegen und England gelebt hatte. Wir lasen Mittwoch und Sonnabend Nachmittag den Ossian zusammen, bis dieser Unterricht Anfangs Juni ein plötzliches Ende dadurch fand, daß mein trefflicher, von der gemüthvollsten Frömmigkeit erfüllter Lehrer an einem schönen Sonntag Morgen ertrank. Er war mit einigen Knaben botanisiren gegangen, hatte sich, die Blüthe einer Wasserpflanze zu pflücken, von einer Felsplatte bei Kröllwitz zu weit übergebogen, das Gleichgewicht verloren und war in die Saale gestürzt, die hier sehr tief ist.

Ich schied von Halle mit den besten Vorsätzen, mich nicht durch neue Thorheiten zu einer unruhigen Vielthätigkeit verlocken zu lassen. Die neuen Thorheiten aber, in die wir verfallen, sind listig genug, uns zunächst als sehr vernünftig zu erscheinen. Ich trat in Königsberg in einen mir ganz fremden Kreis von Erscheinungen, die mir den Stoff zu frischen Verirrungen und Verkehrtheiten lieferten, obwohl ich nun in der Stadt der reinen Vernunft lebte; – denn es irrt der Mensch, und – wie ich zu dem Wort des Dichters hinzusetze – besonders der Philosoph, so lang' er strebt.[487]

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878, S. 477-488.
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