VI.
Berlin. Ich stürze mich in die heterogensten Studien und Verhältnisse. Der Mathematiker Grüson. Professor Zeune. Der Jurist Müller. Die Hoffmann'sche Romantik und mein Roman: »Graf Gundolf.«

[154] So war ich denn in Berlin. Ich wohnte in der neuen Friedrichsstraße in einem großen Gebäude, welches zu den Pertinenzen des Cadettenhauses gehörte, an welchem mein Oheim, ein alter Akademiker, auch Professor war. Er war außerdem auch Lehrer an der Bau-Akademie und an der Universität. Ich bezog eine Stube nebst Kammer nach dem Hofe hinaus, welcher an den des Cadettenhauses grenzte, von dem er durch eine Mauer getrennt war. Ich vernahm nun jede Stunde den Trommelwirbel, welcher hier die Glocke vertrat und erblickte die Cadetten, wie sie sich mit Turnübungen an Barren und Reck tummelten.

Zunächst beschäftigte mich die Stadt und ihre Umgebung. Berlin war damals weder so groß, noch so prächtig, als heute. Ich habe 1849 eine Topographie von Berlin geschrieben, welche gewissermaßen den Uebergang aus jener älteren Periode in die neuere schildert. Auf mich wirkte es damals auf zweierlei Weise ein. Einerseits drückte es auf mich mit seinen langen, gleichförmigen Straßen bis zur ödesten Langweiligkeit. Andererseits hatte das Hervortreten antiker Formen, wie der Colonaden am Alexanderplatz, wie am Opernhause, an der Hauptwache, am Brandenburger Thor etwas Idealisches für mich, das mich entzückte. Statuen gab es nur erst wenige, aber es gab doch welche, und das war schon etwas Erbauliches. Mein Lieblingsgang war durch das Gewühl die Königsstraße entlang bis zur Kurfürstenbrücke, dann dem mächtigen Bau des Schlosses gegenüber, die Burgstraße hinauf,[155] über die Herkulesbrücke nach dem Garten von Monbijou, dessen Schlößchen damals das ägyptische Museum unter der Direction von Passalaqua in sich schloß. Es war ein anmuthiger, schattiger Aufenthalt. Die eine Langseite des Gartens zieht sich am Ufer der Spree hin. Gegenüber am Kupfergraben wohnte Hegel. Mit der Stadt beschäftigten mich auch die Bewohner, deren verschiedene Typen ich allmälig unterscheiden lernte. Das Militär und die Bureaukratie überwog noch. Die Demokratie kündigte sich erst in einzelnen Zügen an, welche noch ein Decennium brauchten, bevor sie sich zu ihrem ersten Berliner Typus, dem Eckensteher Nante Strumpf, verdichteten.

Theater hatte Berlin damals erst zwei, das königliche und das Actien-Theater am Alexanderplatz, das sogenannte Königsstädtische. Hier machte in den Opern Henriette Sonntag Furore. In der Wiener Posse aber waren es zwei ausgezeichnete Komiker, Schmelka und Spitzeder, die mich unwiderstehlich anzogen. Da ich dem Theater nahe wohnte und da seine Preise nicht so hoch, als die des königlichen waren, so gewöhnte ich mich stark hierher. Für die Reinheit meines Geschmacks war dies nicht gerade zuträglich. Ich behielt eine Vorliebe für dieses Theater, dessen ganzer Zuschnitt für mich etwas Gemüthliches hatte und habe es auch bei späteren Aufenthalten in Berlin immer wieder aufgesucht. Ich habe die berühmte Hähnel, welche nach der Sonntag aufkam, darin die Opern Bellini's und Donizetti's singen gehört und mich an der Komik von Pohl und Beckmann mit äußerstem Behagen ergötzt. Bei meinen Verwandten begegnete ich in dieser Neigung einer recht scharfen Opposition. Sie ließen nur die königliche Bühne gelten, und die Königsstädter erschien ihnen als eine Neuerung, welche – mit Ausnahme des Gesanges der vergötterten Sonntag – nur untergeordnete ästhetische Bedürfnisse befriedigen könne. Es war die Gewöhnung, welche sie in einem Hofopernsänger, in einem Hofschauspieler sofort auch einen höheren Künstler, als in den von Herrn Director Cerf angestellten Sängern und Schauspielern der Königsstadt erblicken ließ. Das königliche Theater stand auch zu jener Zeit auf einer außerordentlichen Höhe. Ich habe damals noch die Schröder, die Unzelmann, die Stich, ich habe Beschort, Lemm, Wolf, Rebenstein, Krüger, Ludwig Devrient, wenigstens in ihren Hauptrollen, gesehen. Schiller, Calderon, Shakespeare[156] machten den Kern des Repertoires aus. Neben ihnen standen ausgewählte Stücke von Raupach und Auffenberg. Gern glänzte als Komiker. Die große Oper war mir zu theuer. Ich konnte sie nur selten besuchen. Doch habe ich die Milder und Blum in einigen ihrer Hauptrollen gehört. Manchmal spielte auch Devrient in kleinen Rollen der Oper mit, z.B. im Don Juan, wo er den Alkalden mit ganz unübertrefflicher Laune gab. Ich enthalte mich, mehr über diese Epoche zu sagen, weil sie tausendmal beschrieben ist. Erwähnen mußte ich sie, da ich immer ein großer Freund des Theaters gewesen bin und ihm viele der genußreichsten Stunden meines Lebens verdanke. In Berlin hatte der Besuch des Theaters für mich auch noch den besonderen Reiz der Anwesenheit interessanter und berühmter Persönlichkeiten, die man hier bequem von Angesicht zu Angesicht anschauen konnte. So traf es sich z.B., daß wir Studenten bei einer Aufführung von Molière's »Tartüffe« Hegel in einem Sperrsitz erblickten und nun erlebten, daß er Devrient eben so gut beklatschte, als wir Studenten im Parterre.

Auf der Straße unterhielt mich das bunte Durcheinander der Menschenmassen, die vom Alexanderplatz bis zum Brandenburger Thor hin wogten. Mein Weg zur Universität führte mich stets über die Kurfürstenbrücke durch das Schloß nach den Linden. Die Schaufenster der Kunsthändler boten eine unerschöpfliche Quelle interessanter Anschauungen. Die ästhetische Seite des Lebens war in Berlin schon viel mehr ausgebildet, als in meiner Vaterstadt Magdeburg. In meinem elterlichen Hause waren die Hauptkategorien gut und schlecht, wahr und falsch, nützlich und schädlich gewesen. Hier fiel mir zunächst im Kreise meiner Verwandten auf, daß sie besonders die Kategorien angenehm und unangenehm, schön und häßlich gebrauchten. Als ich aber längere Zeit in Berlin gelebt hatte, erkannte ich wohl, daß dies überhaupt die Kategorien waren, welche sich im Urtheil der Berliner vorwiegend geltend machten.

Mein Oheim, Dr. Grüson, cumulirte verschiedene Aemter, den Aufwand für seine große Familie zu bestreiten. Ihre verschiedenen Titel gingen in dem Titel eines Geheimen Rathes unter. Er trug diesen Titel mit mehr Recht, als so manche Andere. Er hatte einst den Auftrag ausgeführt, für den Hof ein neues System zum Chiffriren[157] und Dechiffriren der geheimen Berichte zu entwerfen und war dafür zum Geheimen Hofrath ernannt worden. Er war Mathematiker und für seine Wissenschaft von höchster Begeisterung erfüllt. Ich vermochte ihn als Fachmann nicht zu beurtheilen, aber ich glaube, daß er ursprünglich eine genialische Natur war. Die Nothwendigkeit eines großen Erwerbs hatte ihn gezwungen, sich vorzüglich dem Unterricht zu widmen. Es blieb ihm fast nur der Sonntag zu selbständigen Studien übrig. Auch als Schriftsteller war er sehr thätig gewesen, ohne über eine gewisse brauchbare Mittelmäßigkeit sich zu erheben. Von andern Mathematikern habe ich später gehört, daß in den Schriften der Akademie sich eine Arbeit von ihm befindet, welche vortrefflich sein soll. Diese Urkunde seines ausgezeichneten Talents führt den Titel: »Vereinfachung der Euklideischen Geometrie.« Er selber hat sie nie gegen mich erwähnt und ich muß zu meiner Beschämung gestehen, daß ich sie nie gelesen habe. Von Gemüth war er ein heiterer, kindlicher Mann mit bequemen Umgangsformen. Er ließ sich anfänglich viel mit mir ein, mir ein höheres Interesse für die Mathematik einzuflößen. Er hatte einige Monate zuvor, eh' ich nach Berlin zu ihm kam, den einzigen schon erwachsenen Sohn durch einen plötzlichen Tod verloren und übertrug nun die Liebe zu diesem gleichsam auf mich, als einen willkommenen Ersatz. Er schenkte mir einen Leitfaden der Mathematik, den er für seinen Unterricht hatte drucken lassen, sowie ein größeres Werk in drei starken Bänden, welches den Titel trug: »Die Mathematik nach der Erzeugung der Begriffe.« Dieser Titel gefiel mir außerordentlich, denn er schien mir Aufschluß über so viele Räthsel zu versprechen, die ich bis dahin auf der Schule in der Aneignung der Mathematik getroffen hatte. Doch fing ich, auf seinen Rath, mit der Durcharbeitung des Leitfadens in den Frühstunden, bis zum Kaffee, an. Mai und Juni setzte ich dieses Studium ziemlich regelmäßig fort und gewann dadurch eine größere Annäherung an ihn. Mit dem größeren Werk machte ich später einige Male Ansätze, es zu bewältigen, aber vergebens, trotz der Einhülfe, die er mir ab und zu gewährte. Ich fand gar nicht, was ich nach dem verlockenden Titel erwartet hatte. Nach diesem sollte wenigstens etwas Aehnliches darin vorkommen, als ich von Thibaut in Göttingen gehört hatte; aber statt einer genetischen Ableitung der[158] arithmetischen und geometrischen Begriffe fand ich, wenn auch in anderer Ordnung und mit anderen Wendungen, im Grunde doch wieder die alten kategorischen Definitionen, die von Formel zu Formel, von Form zu Form einen Sprung machten. Der Beweis war auch großentheils apagogisch oder, wie es mir vorkam, künstlich. Es sollte z.B. eine gerade Linie auch als ein Winkel gefaßt werden können, der dann ein gestreckter genannt wurde. Dies wurde so bewiesen: Man postulirte einen rechten Winkel; dann postulirte man, daß die Verticale sich über 90 Grad hinaus bewegte. Diese Bewegung wurde continuirlich fortgesetzt, bis der Punkt eintrat, wo die Verticale den Winkel überhaupt aufhob, d.h. horizontal geworden war. Dieser Winkel, der kein Winkel mehr war, mußte dann mit der Horizontale des ursprünglichen Winkels zusammenfallen. Ich habe mit meinem Oheim noch sehr viele Gespräche über viele mathematische, mechanische und physikalische Begriffe gehabt, die mir immer anziehend und auch lehrreich waren, aber ich habe leider ein eigentliches Studium der Mathematik von jenem Sommer ab aufgegeben, weil ich, wie man sehen wird, in ganz andere Bahnen fortgerissen ward. Unsere Lieblingsunterhaltung wurden die Kegelschnitte, die er nach Lacroix bearbeitet hatte. Ich habe erst in viel späteren Jahren, als ich ernstlicher mit der Astronomie und mit den Formen der organischen Natur mich zu beschäftigen anfing, ihre unermeßliche Wichtigkeit besser verstehen gelernt, allein ich habe auch zuvor schon nie aufgehört, sie zu bewundern. So unvollkommen meine mathematische Bildung geblieben ist, so verdanke ich ihr doch die Ueberzeugung, daß die Existenz solcher Formen und, was die quantitative Bestimmtheit angeht, solche Formeln, wie die analytische Geometrie sie darbietet, unmöglich ein Werk des Zufalls sein können, sondern eine berechnende Intelligenz voraussetzen. Wie sollten zufällige Aggregate von Atomen ein System von Ordinaten und Coordinaten hervorbringen können! Und doch sind auch solche Verhältnisse, wie die lebendige Wechselwirkung der konischen Sektionen sie entwickelt, nur ein Moment in dem ungeheuren Formenspiel der Natur!

Mein Oheim hatte eine große, aber unförmliche Bibliothek. Er hatte sich in jüngeren Jahren zuweilen verleiten lassen, den gesammten Büchernachlaß verstorbener Collegen anzukaufen, wodurch er mit einem[159] Wust auch sehr untergeordneter, ja werthloser und außerdem sehr heterogener Schriften belastet wurde. Er besaß alle Hauptwerke seines Faches in der reinen wie in der angewandten Mathematik und war in ihnen vollkommen zu Hause. Er besaß aber auch eine Menge Lehrbücher aller Gattungen, welche denselben Inhalt nur mit formellen Modificationen wiederholten. Dann fanden sich aber auch seinem Fach ganz fremdartige vor, wie Krünitz' technologische Encyklopädie, Campe's und Resewitzen's Revisionswerk der Erziehung, Jakob Twinger von Königshofen Straßburger Chronik, Carmer's Preußisches Landrecht in einer Folio-Ausgabe, die gar prachtvoll in Leder gebunden war, Wiegleb's natürliche Magie und was weiß ich. Von deutschen Classikern war auch nicht ein einziger vorhanden, denn mein Oheim las nur die französischen. Aber auch von diesen besaß er nur Racine, den er sehr liebte und aus welchem er mir manchmal einige Scenen mit großem Pathos vorlas, mir zu beweisen, daß die französische Sprache die deutsche, für welche ich so eingenommen war, an Wohlklang übertreffe. Die Schilderung vom Untergang Hippolyt's in der Phädra galt ihm fast als der Gipfel aller Verskunst. Zu seiner Erholung pflegte er aus der Schlesinger'schen Leihbibliothek die gewöhnlichsten Romane zu lesen.

Da ich ein großer Bücherliebhaber war, und die Bibliothek sich in nicht geringer Unordnung befand, welche durch Wohnungswechsel herbeigeführt war, so bat ich um die Erlaubniß, sie besser aufzustellen. Bei dieser Arbeit lernte ich sie zugleich ihrem ganzen Umfange nach kennen. Sie enthielt wesentlich nur mathematische Werke. Von philosophischen fand ich nur Leibnitz, Wolf und Kant nebst einigen Ausläufern desselben, wie Kiesewetter, Fries, Jenisch, Bendavid, Mellin, dessen ganzes Wörterbuch der Kant'schen Philosophie vorhanden war. Die organische Natur war auch nicht durch ein einziges Buch vertreten. Die Schriften von Kepler, Newton, La Place, Le Gendre, Poisson, Euler u.s.w. kamen mir hier im Original zu Gesicht, so daß ich mir von ihnen wenigstens eine allgemeine Vorstellung machen lernte, was immer bei so wichtigen Erzeugnissen der Wissenschaft ein nicht gering anzuschlagender Gewinn ist. Die Principien der Naturphilosophie, z.B. von Newton, sind Vielen nur vom Hörensagen bekannt. Wie wichtig ist es aber, von der Anordnung des Stoffes und von der Art[160] seiner Behandlung durch eigene Einsicht einen Ueberblick erhalten zu haben. Von diesen Autoren war Euler mit seinen Briefen an eine deutsche Prinzessin derjenige, welcher eine Darstellung der Physik begründete, die populär war, ohne doch den wissenschaftlichen Charakter zu verlieren. Schriften, wie die von Poisson, waren mir wegen meiner mangelhaften Vorbildung undurchdringlich, aber die schön geschriebene Méchanique céleste von La Place konnte ich mir in ihrer Hauptidee mit Nachhülfe durch die Erklärungen meines gern belehrenden Oheims aneignen.

Von Geschichte enthielt die Bibliothek nichts, außer einem Abriß der Geschichte der Philosophie von Deslandes und eine von Formey. Nur was sich berechnen ließ, war, oft überreich, vertreten. Zeitrechnung, Kalenderwesen, Mortalitätscalcul, Geodäsie, Gnomonik, Nautik, Tontinenrechnung, Berechnung von Schiffslasten, von Maaßen und Gewichten, nichts fehlte. Von Allem, was man damals unter dem Namen der angewandten Mathematik zu befassen pflegte, empfing ich die vollständigste Uebersicht. Außer diesen Büchern der Fachwissenschaft fand ich aber noch eine große Menge von Zeitschriften des achtzehnten Jahrhunderts, französische sowohl als deutsche. Meine literarische Neugier wurde durch sie eben so sehr gereizt, als mein armer Kopf ohne sonderliche Resultate zerstreut. Namentlich war es die Bibliothek der schönen Wissenschaften, sowie Nicolai's allgemeine deutsche Bibliothek, die ich immer von Neuem zu durchblättern und hier und da zu haften nicht müde werden konnte. Doch wurden zum Glück die Schriften der Berliner Akademie die anziehendsten für mich. Die französischen Jahrgänge derselben ließ ich bald liegen, wohingegen die deutschen seit 1811 mich lebhaft zu fesseln anfingen, so daß ich während der zwei Jahre, die ich in Berlin als Student zubrachte, viele ihrer Abhandlungen gelesen habe. Die Arbeiten von Hirt über ägyptische Mythologie, von Karl Ritter über Geographie eröffneten mir ganz neue Gesichtspunkte, allein die höchste Bewunderung erregte mir Schleiermacher. Indem ich diesen Namen hier zum ersten Male nenne, erfüllt mich das Andenken an diesen wunderbaren Mann mit Dankbarkeit und Wehmuth. Ich konnte damals nicht im Entferntesten ahnen, wie tief er in mein Geschick eingreifen sollte. Ich fand in den Schriften der Akademie Abhandlungen[161] von ihm über Anaximenes, über Diogenes von Apollonia, über den Werth des Sokrates als Philosophen, über Auswanderungs-Verbote, über den Begriff der verschiedenen Staatsformen, über die Kunst des Uebersetzens, in einer Sprache, die mich hinriß. Alle diese Themata waren mir auch dem Inhalte nach ziemlich neu, allein die elegante und doch gründliche Art und Weise ihrer Behandlung eröffnete mir eine Schönheit und Klarheit der deutschen Sprache für die wissenschaftliche Darstellung, wie ich sie nie, auch bei Novalis nicht, bis dahin gefunden hatte. Die Abhandlung über den Werth des Sokrates als Philosophen konnte ich nicht genug lesen. Ich war in der Auffassung dieses Philosophen an das Bild gewöhnt, welches Eberhard für den Standpunkt der Aufklärung von ihm entworfen hatte. Da war er der praktische Mann, der die Methaphysik von sich ablehnt und sich auf die Tugendlehre wirft, rechtschaffene Menschen mit gutem Gewissen zu bilden. – Welche ganz andere Anschauung gab Schleiermacher von ihm! Ich sah nun, daß Sokrates ein spekulatives Genie gewesen und daß der Tiefsinn der Ideen, die Platon von ihm vortragen läßt, nicht blos Dichtung, sondern auch Wahrheit sei. Da Schleiermacher den Xenophontischen Sokrates als den Philister, welchen eben die Aufklärung in ihm verehrte, dem Platonischen scharf entgegensetzte, so verfiel ich darauf, gleichsam die Probe zu machen, indem ich von Jedem die Schrift las, worin sie Sokrates in derselben Situation behandeln. Jeder hat eine Symposion geschrieben. Als ich die Lectüre beendet hatte, stand es mir fest, daß nur der Platonische Sokrates der wahre sein könne. Sokrates endigt bei Platon im Gespräch über Tragödie und Komödie mit Aristophanes, während er bei Xenophon erst zum Nachtisch Seiltänzerkünste bewundert und dann einer Hetäre seinen Besuch macht. – Das war meine erste Bekanntschaft mit Schleiermacher, von dem ich bis dahin wenig mehr als den Namen gewußt hatte. Wie ganz anders blickte ich nun auf ihn, wenn ich ihm auf der Universität begegnete! Mein Oheim, der als Akademiker oft genug persönlich mit ihm zusammentraf, mußte mir von ihm mittheilen, was er nur irgend wußte. Es war im Grunde wenig, aber es war Alles lobwürdig. Endlich entschloß ich mich, eines Sonntags Morgens den weiten Weg zur Dreifaltigkeitskirche zu wandern, ihn predigen zu hören. Da[162] war es, wie man weiter sehen wird, um mich geschehen. Er bezauberte mich ganz und gar.

Durch die weitverzweigte Familie meines Oheims kam ich in Berlin mit vielen Menschen unvermeidlich in vorübergehende Berührungen, die ich unerwähnt lassen will. Hingegen hatte ich geraume Zeit hindurch ein näheres Verhältniß zu Zeune und seiner Familie. Ich hatte ihn, wie erzählt, schon in Magdeburg kennen gelernt, erhielt von Cousine Favreau eine Empfehlung an ihn, besuchte ihn und wurde von dem trefflichen Mann auf das Freundlichste aufgenommen. Sonntags Nachmittag oder gegen Abend sollte ich immer willkommen sein. Er war Director des Blindeninstituts bei der Georgenkirche am Alexanderplatz und wohnte also nicht weit von mir. Er machte mich mit der Unterrichtsweise der Blinden bekannt, die sich mit Sicherheit in Haus und Garten bewegten. Das war ganz interessant und belehrend, aber die Hauptsache zwischen ihm und mir war die altdeutsche Literatur. Er hatte auch eine Ausgabe der Nibelungen in Duodez veranstaltet. Das größte Zimmer seiner Wohnung war mit den schönen Kupferstichen geschmückt, welche Cornelius zu den Nibelungen gezeichnet hatte. Es hieß der Nibelungensaal. In einer Ecke stand eine Lanze oder, wie Zeune sagte, Gere, die von einem der Minnesänger herstammen sollte. Für die Koryphäen der altdeutschen Literatur, wie Lachmann, galt Zeune nur als ein Dilettant, wie er denn auch als Fachmann eigentlich Geograph war. Seine Gäa, ein Handbuch der Erdbeschreibung, schloß sich den Bestrebungen von Ritter und Gutsmuths an. Unser Lieblingsgespräch war der Kampf gegen das Welschthum. Zeune streifte in demselben, wie ich früher schon angedeutet habe, an das Pedantische, ohne jedoch in's Geschmacklose zu fallen. Ich war damals sehr geneigt, ihm beizustimmen. Ich überzeugte mich zwar, daß die Terminologie der Wissenschaften als ein gemeinsames Gut der gebildeten Völker ihre Griechische oder Lateinische Abkunft nicht verleugnen könne. Was sollte wohl aus dem wissenschaftlichen Verkehr werden, wenn jede Nation die allgemeinen Begriffe nur in ihrer Sprache darstellen wollte! Wie verworren und wie weitläufig würde der ganze Erkenntnisprozeß werden! Jeden Augenblick müßte man von einer Sprache in die andere übersetzen und würde doch oft ungewiß sein,[163] ob man das Rechte getroffen habe. Ebenso muß man zugeben, daß viele Französische Wörter sich bei uns als technische Ausdrücke eingebürgert haben. Es gehört hierher das Gebiet des Kriegswesens, der Diplomatie, der Formen des gesellschaftlichen Lebens, der Kleidermode, des Haarschnitts, der Kochkunst, der Tanzkunst und der Finanzverwaltung. Es würde dies nicht möglich gewesen sein, wenn die Franzosen nicht in allen diesen Richtungen seit Ludwig XIV. den Vorgang gemacht und durch ihn auch den Vorrang behauptet hätten. Durch Friedrich den Großen und durch die Einwanderung so vieler reformierter Familien aus Frankreich ist, wie es mir auf meinen Reisen erschienen ist, in Norddeutschland eine größere Anzahl Französischer Worte im Umlauf, als in Süddeutschland. In Norddeutschland ist besonders merkwürdig, wie sich sogar das plattdeutsche Idiom mit Französischen Wörtern gesättigt hat. Man sollte glauben, daß der bäuerliche Stand sich eine größere Reinheit der Sprache bewahrt haben müsse, weil doch zunächst die Aufnahme des Französischen nur von Seiten der höheren Stände, namentlich des Adels, erfolgen konnte, allein es ist ganz unglaublich, wie viel Franzosenthum in die bäuerliche Sprache eingedrungen ist. Die Wörter sind oft sehr komisch, bis zur gegentheiligen Bedeutung, corrumpirt z.B. reuniren statt ruiniren. Oder es wird auch dem Französischen Ausdruck der Deutsche, der dasselbe sagt, hinzugefügt z.B. Plaiseervergnögen. Nur selten kommt es vor, daß das Fremdwort zwar ungefähr dem Klange nach gebraucht, aber durch ein deutsches oft ganz sinnig ersetzt wird, z.B. Schossweg für Chaussee, denn die Chaussee kann nicht, ohne daß Geld dafür geschoßt wird, befahren werden. Wenn man nun auch allen oben angeführten Umständen Rechnung trägt, so bleiben doch unzählige Fälle zurück, in denen wir Deutsche ganz ohne Noth unsre Muttersprache verleugnen und uns in Französische Tracht kleiden. Man achte auf sich selbst und man wird erstaunen, wie jeden Augenblick ein Französisches Wort uns über die Zunge läuft. Man wird bei näherem Betracht auch finden, daß es ganz überflüssig gebraucht worden, daß man ein ebenso gutes, ja vielleicht bezeichnenderes Deutsches Wort dafür hätte setzen können. Wir glauben aber, mit dem Französischen Wort uns gebildeter, eleganter, treffender auszudrücken. Wir sagen z.B. es sei Jemand von einer Reise retour gekommen oder[164] retournirt. Wäre denn zurück nicht wirklich dasselbe? Das Deutsche klingt uns nicht vornehm genug. Wir hören auf unseren Bällen die Commandowörter: à droite, à gauche, en avant, chaine, changez les dames u.s.w.

Wie gemein würden wir uns vorkommen, wenn wir rechts und links, vorwärts u.s.w. sagten, während der Franzose doch bei dem Worte: à droite sich in der That weiter nichts, als auch rechts, vorstellen kann. Diese Ueberschwemmung des Deutschen mit Französischen Wörtern, ja Redensarten, muß bei den Franzosen den Dünkel nähren, daß sie uns an Bildung weit überlegen seien, weil wir doch sonst nicht in ihrer Sprache reden würden. Zuweilen müssen wir ihnen wegen solcher grundlosen Verachtung unsrer volksthümlichen Sprache selbst verächtlich, oft geradezu lächerlich erscheinen. Man stelle sich einen Franzosen vor, der in einer Deutschen Stadt von einer Gesellschaft hört, welche den Namen: »Deutsche Ressource« führt. Erst kommt also ausdrücklich das Deutsche, aber dann kommt die eigentliche Sache französisch.

In unseren Tagen wird die Zeit, welche wir zum Lesen von unseren Geschäften übrig haben, zu einem viel größeren Theil, als früher, durch die Beschäftigung mit Zeitschriften aufgezehrt. Die Tageblätter sind es daher ganz vorzüglich, welche den Vorrath der Wörter verbreiten, deren sich das Publikum zu bedienen pflegt. Sie vorzüglich haben es in der Gewalt, der Muttersprache die ihr gebührende Herrschaft zu sichern. Sie vorzüglich können die Befreiung des Deutschen Geistes und noch mehr der Deutschen Gesinnung von dem Druck der Verwelschung befördern.

Obwohl ich durch meine Abkunft mütterlicher Seits, sowie durch die ersten zehn Jahre meines Lebens, die ich steter Berührung mit Soldaten der Napoleonischen Armee verbracht hatte, stark in das Französische Element eingetaucht war, so theilte ich doch von ganzem Herzen die vaterländischen Gesinnungen der deutschen Puristen. Moritz Arndt besonders hatte mich durch seine Schrift: »Ansichten und Aussichten der deutschen Geschichte« noch mehr, als Klopstock durch seine Gelehrtenrepublik, für die Pflege der Reinheit unserer Sprache eingenommen: Ich war sogar einige Male bis zur Albernheit darin vorgegangen. Ich[165] hatte z.B. einmal aus dem Herodot die Beschreibung der Schlacht der Thermopylen, welche mir als das innerste Heiligthum seiner Geschichte erschien, für mich übersetzt. Ich hatte dabei aber auch die Eigennamen der Griechischen Krieger gedeutscht; wodurch die Begebenheit sich wie ein Stück aus einer Deutschen Chronik ausnahm. Mit Professor Zeune konnte ich jedoch über dies Thema mich so unterhalten, daß, was ich darüber vorbrachte, auch für ihn nicht ohne Interesse zu sein schien. In der Geographie war ich ebenfalls durch die vielen Reisebeschreibungen, die ich gelesen hatte, nicht übel orientirt. Der Unterricht der Blinden in ihr durch Vermittelung von Reliefkarten richtete meine Aufmerksamkeit zuerst auf die Wichtigkeit, welche die plastische Darstellung der Bodenform überhaupt für die geographische Anschauung einnimmt. Ich fiel nun eines Tages auf eine Arbeit, worin ich die Geographie mit dem Deutschthum, wie es mir schien, so zu verknüpfen gedachte, daß Zeune sich darüber sehr freuen mußte. Ich besaß schon mehrere Jahre die Uebersetzung, welche Rühs von dem mythologischen Theil der jüngeren Edda gemacht und mit einer ausführlicheren Einleitung über die Geschichte von Norwegen und Island begleitet hatte. In der Geschichte des Mittelalters war ich damals sehr zu Hause. Die Werke von Rühs, von Hallam, von Luden waren eifrig von mir gelesen und excerpirt worden. Das Studium der Mythen, welche Snorre Sturleson uns in der jüngeren Edda aufbehalten hat, gab mir von ihnen eine viel genauere Vorstellung, als die gewöhnlichen Schilderungen, wie sie nach dem Vorgange Klopstocks in der Bardenpoesie landläufig geworden waren. Ich habe mich zu verschiedenen Zeiten viel mit dieser Sagenwelt beschäftigt, weil mir ihr Verhältniß zu den übrigen Religionen des Arischen Stammes dunkel blieb; bald erinnerte sie mich durch märchenhafte Züge an die Indische Mythologie, bald durch manche ausgeführtere Gestalten an die Griechische. In der innersten Organisation aber war doch wieder ein ganz verschiedener, origineller Geist thätig, der sich in den Kampf der Asen und Einheriar gegen Loki und die mit ihm verbündeten Mächte der Hel und Niflheim concentrirte. Ohne die Gesänge der älteren Edda, die ich erst durch Mone 1827 kennen lernte, lassen sich die compendiarischen Ueberlieferungen Sturlesons nur sehr unvollkommen verstehen. Auf meinem damaligen Standpunkt[166] jedoch genügte er mir schon und ich schätzte ihn außerordentlich hoch.

Noch muß ich bemerken, daß mir damals, in meiner deutschthümelnden Epoche die Art und Weise, wie Johannes von Müller den ersten Band seiner Schweizergeschichten verfaßt hatte, als unübertreffliches Muster deutscher Geschichtschreibung galt, dem nachzuringen die würdigste Aufgabe sei. Er schien sich einem Tacitus, dessen Styl ich vergötterte, am nächsten anzuschließen. Von Tacitus hatte ich die Germania und den Agrippa, wegen meiner Forschungen für die Völkerwanderung, mehrfach gelesen. Auch seine weniger beachtete Schrift über die Grammatiker hatte ich durchgenommen, weil ich daraus des Tacitus eigene Ansichten über den Styl kennen zu lernen glaubte.

In der Bibliothek meines Oheims fand ich unter so manchen Zufälligkeiten, die sich ihrem mathematischen Kern angesetzt hatten, die Reise eines Herrn von Troil, eines Franzosen, nach Island, mit Kupfern. Das Buch brachte mich auf den Gedanken, die Geschichte Islands zu schreiben. Um Kritik war es mir dabei nicht zu thun, nur um Uebung im historischen Styl und um Verherrlichung der alten Scandinavier. Gedacht, gethan.

In Müller'schen Perioden mit Hinneigung zu Archaismen, wurde vor allem eine malerische Beschreibung der norwegischen Fjorde und Thäler, sowie der Eisgefilde, der Vulcane und heißen Quellen Islands gemacht. Dann kam die Geschichte der Einwanderung der Normänner in das wundersame Eisland. Für die weitere Geschichte fand sich aber bald, daß ich eigentlich nur von Sämund Sigfuson und von Snorre Sturleson etwas zu erzählen wußte. Als ich sehr rührend erzählt hatte, wie der letztere in seinem Beruf als Lagmann erschlagen worden, ergoß ich mich in eine pathetische Schilderung der Ruinen, die bei Reikiavik von seiner Wohnung übrig geblieben waren. Ich fand sie bei Troil ausführlich beschrieben und abgebildet. Damit aber war mein Vorrath von Kenntnissen, sowie mein Antheil an der Geschichte Islands erschöpft. Und wirklich ist auch die ganze spätere Zeit höchst einförmig.

Hungersnöthe oder heftigere Ausbrüche des Hekla sind darin die einzig hervorragenden Begebenheiten. Die Glanzzeit Islands, in welcher seine Seehelden bis nach Byzanz fuhren, hat Snorre noch selber in[167] seiner Heimskringla vortrefflich beschrieben. Dies Werk lernte ich aber erst zwanzig Jahre später kennen. Mit dieser flüchtigen, lediglich auf den Pomp des Styls hinauslaufenden Arbeit schloß sich aber auch, ich weiß selber nicht wie, mein Verkehr mit Zeune ab. Ich machte wohl noch zuweilen einen Besuch, aber die näheren Beziehungen, die ich anfänglich zum Zeune'schen Hause gehabt hatte, starben gemach ab, weil die Persönlichkeit Schleiermachers mich von Michaelis ab immer mehr zu unterjochen begann.

Von meinen älteren Freunden fand ich nur Eduard Buschmann in Berlin, wo er schon seit länger als einem Jahr Philologie studirte. Er hatte sich schon in das Sanskrit gestürzt und bereits solche Fortschritte darin gemacht, daß er zu Bopp in ein näheres Verhältniß getreten war. Wir liebten uns noch immer und sind auch zeitlebens treue Freunde geblieben. Damals aber war unsere Lage zu ungleich. Ich konnte ganz sorglos leben und hatte Geld nicht nur zum Nothwendigen, sondern auch zum Entbehrlichen. Die persönliche Freiheit und Unabhängigkeit, deren ich mich durch die Güte meines Vaters erfreute, begünstigte bei mir die Befriedigung so vieler neu entstehender Bedürfnisse. Buschmann war genöthigt, seiner Subsistenz wegen viel Privatunterricht zu ertheilen.

Da er nun bei seinem ungeheuren Wissensdrang doch auch noch viel Collegia mit großer Gewissenhaftigkeit hörte, so blieb ihm zu einem freien Umgang nur sehr wenig Zeit übrig. In den Ferien kam er auch nur selten und auch nur auf kürzere Fristen nach Magdeburg. Da wir uns nun weder in gemeinsamen Collegien begegneten, da er zudem weit von mir am Ende der Leipziger Straße wohnte, so sprachen wir uns damals nur selten und flüchtig. Ich staunte ihn immer von Neuem an, so oft ich ihn wieder gesehen hatte, denn die Fortschritte, die er in den Sprachen machte, waren kolossal. Er übertraf mich auch in der Genauigkeit, mit welcher er die Sprachstudien betrieb. Ich wollte durch das Erlernen einer Sprache immer nur gern an die Lectüre ihrer Schriftsteller herankommen und hatte ganz in diesem Sinn das Englische mit einem jungen Berliner Kaufmann, Namens Baudoin, angefangen, mit welchem ich den Vicar of Wakefield las. Buschmann aber konnte sich für die bloßen Wörter und Formen einer[168] Sprache interessieren. Wenn ich bedenke, daß er so viele, Amerikanische, Afrikanische und Polynesische Sprachen gelernt hat, die gar keine Literatur besitzen, so erkenne ich, wie nöthig ihm dies Talent war. Als er sein Triennium vollendet hatte, ging er nach Mexiko, wo er drei Jahre hindurch Hauslehrer bei einem Herrn von Uslar war, der dort einer norddeutschen Bergwerkgesellschaft vorstand. Im Sommer lebte die Familie in einem Landhause im Thal von Oaxaca, wo Buschmann die Sprache der Otomiten, eines alten herabgekommenen aztekischen Indianerstammes erlernte.

Als er über Paris nach Magdeburg zurückkam, wo er sich bei seinen Eltern einige Wochen aufhielt, war ich glücklicher Weise auch zu Hause.

Wenn ich ihn nun von seinen Erlebnissen zu Land und Meer, von Mexiko, von den Spaniern und Indianern u.s.w. erzählen hörte, so mußte ich meine Rolle des Erstaunens in noch höherem Grade, als früher, wieder aufnehmen. Die Art und Weise vollends, wie er die politischen Kämpfe in Centralamerika auffaßte und beurtheilte, war mir etwas ganz Neues. Eine kleine Schrift, welche er über die Revolution in Mexiko drucken ließ, erstaunte mich noch mehr; denn ihm waren die Standpunkte der politischen Parteien ganz geläufig, während ich die größte Mühe hatte, auch nach seinen mündlichen Erläuterungen, die Sachlage deutlich zu fassen. Er ging wieder nach Berlin und wurde hier der wissenschaftliche Gehilfe erst von Wilhelm, dann, nach dessen Tode, von Alexander von Humboldt.

Jedermann weiß, welche Verdienste er sich um die durch mehrere Aufsätze erweiterte Ausgabe der »Ansichten der Natur« und um die des Kosmos erworben hat. Zu letzteren hat er auch das musterhafte Register gemacht.

Von dem Antheil, den er an den Arbeiten Wilhelm von Humboldt's gehabt hat, besitzt man keine Vorstellung und es ist auch schwer, denselben abzuwägen.

Da ich mich später, als ich nicht mehr in Berlin lebte, doch noch häufig wochenlang darin aufgehalten habe, so habe ich, wenn ich Buschmann zuweilen aufsuchte, Einblicke in die sinnreichen Methoden thun können, welche dieser Sprachforscher sich erfinden mußte, um aus Katechismen,[169] oder Orts- und Personennamen, aus Waarentarifen und ähnlichem dürftigen Material fruchtbare Resultate zu ziehen. W.v. Humboldt wollte mit Buschmann ein Lexikon der aztekischen Sprache herausgeben. Die ersten fünf bis sechs Bogen davon wurden auch gedruckt. Ich habe sie durch eine zufällige Veranlassung gesehen. So grenzenlos gelehrt Buschmann war, so hatte ihn doch seine große Thätigkeit immer gehindert, Muße zu finden, sich den Doktorgrad der Philosophie zu erwerben. Als ich nun schon Professor in Königsberg war, sandte er mir einige schriftliche Arbeiten, aber auch zwei schon gedruckte Bogen des Lexikons, sie meiner Fakultät vorzulegen, um promovirt zu werden. Ich übernahm gern die Erfüllung seines Wunsches und die Königsberger Fakultät wird es sich immer zur Ehre schätzen können, Buschmann graduirt zu haben. Er wurde später Bibliothekar der königlichen Bibliothek zu Berlin und Mitglied der dortigen Akademie.

Konnte ich mit Buschmann wegen seiner eigenthümlichen Lage und wegen seiner ganz anderen Zielen zustrebenden polyglottischen Tendenzen meine früher so innige Verbindung mit ihm nicht erneuern, so schloß sich mir dagegen unerwartet ein junger Mann an, den ich das Jahr zuvor oberflächlich in Göttingen gesehen hatte. Es war ein Jurist, Wilhelm Müller, der einzige Sohn wohlhabender Leute in Neuhaldensleben. Er hatte schon zwei Jahre studirt und ging also der Beendigung seiner akademischen Laufbahn entgegen. Er war von Herzen ein seelenguter, aber zu einer extremen Sentimentalität neigender Gefühlsmensch. Die Wissenschaft als Wissenschaft interessirte ihn nicht. Er wollte, wie die meisten Studirenden, durch sie nur hindurchgehen, um sich für ein Staatsamt vorzubereiten. Er nahm z.B. bei Hegel das Naturrecht an, vernachlässigte jedoch bald dessen Besuch, weil er Hegel's Vortrag zu ungenießbar und wegen des schwäbischen Dialekts, wie er behauptete, sogar unverständlich fand. Er liebte mich schwärmerisch. Ich durchstrich in seiner Gesellschaft die Umgegend von Berlin. Pfingsten machte ich mit ihm eine Fußreise nach Potsdam. Die Gasthöfe waren überfüllt. Wir kamen endlich in einem kleineren Hause unter und machten hier bei Tisch die angenehme Bekanntschaft des Justizraths Pinder aus Naumburg, der in Gesellschaft seines ältesten Sohnes Reinhold eben falls die Herrlichkeiten der reizenden Havelstadt genießen wollte.[170] Wir gefielen uns gegenseitig so sehr, daß wir drei Tage hindurch, die vom schönsten Wetter begünstigt waren, alle Partieen zusammen unternahmen. Diese Tage, in denen der Genuß von Kunstwerken aller Art mit dem der Gärten und landschaftlichen Prospekte, woran Potsdam so reich ist, abwechselte, gehören zu den ungetrübtesten und entzückendsten meines Lebens. Ich behielt von hier ab eine Vorliebe für Potsdam und bin später, so oft als ich konnte, mehrmals auch unter höchst sonderbaren Conjuncturen, dort gewesen. Potsdam war, wie Berlin, damals noch eine viel einfachere Stadt, als gegenwärtig. Ich habe es Schritt vor Schritt wachsen gesehen. Als ich 1849 mit meinen Söhnen auch einmal einen herrlichen Tag daselbst verlebte, traf es sich, daß wir nach einem tüchtigen Marsch an einem Tisch vor demselben Kaffeehause uns erfrischten, wo ich damals mit Freund Müller, Rath Pinder und seinem Sohne ein köstliches Gabelfrühstück eingenommen hatte. Sie waren alle drei todt. Nur ein junger Bruder Reinhold's, der nun auch schon verstorbene Rath Pinder im Cultusministerium, der die Angelegenheiten der Künste in demselben vertrat, lebte noch. Ich wurde mit ihm dadurch befreundet, daß wir in einigen philosophischen Vorlesungen Banknachbaren wurden.

Wenn es nun auch ein glückliches Loos ist, so geliebt zu werden, als Müller mich liebte, und wenn es auch ganz unterhaltend war, mit ihm durch die Kornfelder bei Lichtenberg und Pankow zu spazieren oder im Rummelsburger See zu baden und nachher ein gutes Gericht Aal mit einigen Flaschen Josty'schen Biers zu verzehren, so konnte ich mir doch eine gewisse Inhaltlosigkeit dieses Umgangs nicht ableugnen. Ich suchte daher nach einem Mittel, geistigere Stoffe in unsere Unterhaltung zu ziehen. Mit meinen altdeutschen, mittelalterlichen Neigungen durfte ich bei ihm, der ganz auf das Praktische gerichtet war, nicht kommen. Ich schlug daher vor, die Institutionen mit mir durchzulesen und sie mir, wo ich sie nicht verstünde, zu erklären. Von diesem Buch hatte ich so viel durch meine juristischen Freunde gehört, daß ich vor Begierde brannte, mir ein klares Bild von ihnen zu machen, um der ganz verworrenen Vorstellung von ihm, die mich quälte, den Abschied geben zu können. Es wurde ausgemacht, daß ich an bestimmten Tagen, wenn ich um fünf Uhr Nachmittags aus einem Collegium kam, mich bei[171] ihm in der Charlottenstraße, wo er bei einem Destillateur wohnte, einfinden sollte. Dies wurde in der That trotz der schrecklichen Hitze auf dem kleinen Zimmer ausgeführt, und wenn wir auch nicht ganz zu Ende kamen, so verdanke ich doch dieser cursorischen Lesung der Institutionen eine gewisse Vertrautheit mit der römischen Definition der Grundbegriffe des Privatrechts, die mir hinterher eine große Erleichterung bei dem Studium der praktischen Philosophie gewährte. Was Euklid für die Mathematik, das sind die Institutionen für die Rechtswissenschaft.

In den oberen Räumen des Universitätsgebäudes war die zoologische Sammlung aufgestellt, die ich von Zeit zu Zeit durchlief, mich zu überzeugen, daß all die Thiere, die ich beschrieben gelesen oder auch in Abbildungen gesehen hatte, wirklich existirten. Ein weiteres Resultat kam aber für mich nicht heraus. Dagegen überraschte mich im mittleren Stock die Giustinianische Gemäldegallerie, welche dem König gehörte, hier aber aufgestellt und zu gewissen Stunden dem Publikum geöffnet war. Sie ist später dem Museum einverleibt worden. Diese Gallerie fesselte mich unwiderstehlich. Ich besaß ein tiefes Gefühl für Schönheit in allen Formen der Natur, wie der Kunst. Noch jetzt überwältigt mich der Geist eines wahrhaft schönen Gegenstandes mit einer unbeschreiblichen Rührung. Wenn ich auf dem Katheder von großen Kunstwerken Analysen mache, so wird es mir oft schwer, Thränen der höchsten Beseligung zurückzudrängen. Die Stimme zittert mir, und ich reiße meine Zuhörer mit Feuerworten in den Strom der Bewunderung, welche meine ganze Seele erfüllt. Die ersten Jugendeindrücke haften gewaltig in uns, und so habe ich jene Gemälde, ob wohl sie größtentheils nicht zu den Werken des rein classischen Styls, sondern der eklektischen Richtung angehören, immer geliebt und sie, so oft ich dieselben später im Museum unter ganz anderen Umgebungen wieder erblickte, stets mit Freude und Dankbarkeit begrüßt. Ich war damals noch durch keine Theorie eingenommen und gab mich auch den Caracci's mit rückhaltloser Unbefangenheit hin. Wenn ich schüchtern in den Saal trat und nun langsam von Bild zu Bild einen Umzug hielt, so erstaunte ich, daß ein solcher Genuß mir so ganz frei geboten ward. Ich schwelgte in Wonne und vermied es sorgfältig, mit irgend Jemand in ein Gespräch[172] mich zu verwickeln, um die Seligkeit dieses Anschauens durch nichts Fremdartiges zu stören.

Die Universität selber gefiel mir außerordentlich, und sie schien mir der Götter würdig, die oben auf ihrem flachen Dache standen. Ich hatte nur drei Privatcollegia angenommen und daher Zeit genug, als Hospitant alle die großen Männer von Angesicht kennen zu lernen, welche damals die Zierden der Universität waren. Ich machte keinen Unterschied zwischen den Fakultäten. Rudolphi, Link, Ermann, Karl Ritter waren mir ebenso wichtig, als Savigny, Böckh, Lachmann, Heinrich Ritter. Ich war ohne alle Führung und überließ mich mit Sorglosigkeit meinen Bedürfnissen. Ich dachte an keinen Plan und glaubte in den drei Jahren, die man gewöhnlich der akademischen Bildung zu widmen pflegt, eine Ewigkeit vor mir zu haben. Ich sollte und wollte auch Philologie studiren. Ich nahm aber nur ein einziges philologisches Collegium an, die Erklärung einiger Bücher Herodot's, den ich sehr liebte, bei Professor Bernhardy. Die ersten Wochen, so lange die Einleitung dauerte und die Kunst der kritischen Interpretation mir noch etwas Neues war, ging es ganz gut. Als Bernhardy jedoch weiterhin einen unaufhörlichen Zweikampf mit Schweighänser's Ausgabe des Herodot eröffnete, verlor ich alle Lust. Ich wollte Herodot und nicht Schweighäuser, dessen Conjecturen der gelehrte Professor Stunde für Stunde mit höhnischem Ton abstrafte. Ich blieb daher weg und hatte nun noch mehr freie Zeit. Um doch aber etwas zu thun, mein Gewissen zu beschwichtigen, fiel ich auf ein ganz sonderbares Auskunftsmittel. Ich besaß von der Schule her die alte Borheck'sche Ausgabe des Herodot. Dieser sind die Indica des Ktesias angehängt. Indien gehörte zu den von der Romantik verehrten Wunderländern und hatte meine unbedingte Gunst. Wie anziehend also, zu erfahren, was Ktesias vor zweitausend Jahren den Griechen darüber berichtet hatte. – Nachdem ich in der Frühe zunächst so manche andere Studien getrieben hatte, setzte ich mich zu derselben Morgenstunde, wo ich bei Bernhardy hätte erscheinen sollen, hin, den Ktesias zu lesen, und übersetzte auch die Abschnitte von den Wunderthieren und Wundermenschen schriftlich, weil sie in den Gedichten des Mittelalters von Alexander und im Herzog Ernst wieder vorkommen.[173]

Ich glaubte auch Philologie zu treiben, wenn ich bei Friedrich von der Hagen ein Publikum über Gothische Grammatik hörte. Man kann sich vorstellen, daß dieser Mann mir unendlich wichtig war, da seine Nibelungen, sein Grundriß der altdeutschen Literatur und seine Zeitschrift: »Das deutsche Museum« mir schon so viel Zeit gekostet hatten. Auch seine Briefe in die Heimath hatten mich für ihn nach anderer Seite hin eingenommen. Sie sind inhaltreicher, als so viele italienische Reisebeschreibungen, und ich verdankte ihnen namentlich über die Entwickelung des Romanischen und Deutschen Baustyls viel neue Aufklärung. Ich besuchte ihn und er nahm mich auch sehr freundlich auf. Da er mich in der Literatur des deutschen Mittelalters gut unterrichtet fand, zeigte er mir im Verlauf des Gesprächs einige alte Drucke und Handschriften, mit denen er sich gerade speciell beschäftigte. Ich gewann aber kein Verhältniß zu ihm, weil er bei dem Vortrag zu sehr im Formellen stehen blieb und weil ich schon bald nach meiner Ankunft in Berlin einen Anstoß nach einer ganz andern Seite hin empfangen hatte. Ich war nämlich kaum einige Tage heimisch geworden, so eilte ich, mir Mone's Ausgabe des Otnit zu kaufen. Das Gedicht gefiel mir ganz wohl, vorzüglich der Zwerg Elberich. Nun fand ich aber auch eine Einleitung Mone's, die mir eine ganz neue Auffassung unseres alten Epos brachte. Mone verwarf die poetische, er verwarf die historische Erklärung. Jene war durch Grimm, diese durch Göttling vertreten, welcher in Otnit den Odenat der Königin Zenobia hatte wiederfinden wollen. Gegen beide Hypothesen stellte er die mythologische auf, welche Otnit mit Othin identificirte, Othin selber aber mit Osiris, Adon, Attys in eine Verbindung brachte, die zuletzt aus einer gemeinsamen Quelle, aus der asiatischen Urheimath der Völker stammen sollte. Ich werde hierauf zurückkommen, wenn ich erzählen werde, wie ich in Heidelberg mit Mone selber in Berührung kam. Jetzt begnüge ich mich mit der Bemerkung, daß ein junges, strebendes Gemüth durch jede neue Perspective, die sich ihm für die Erforschung der Wahrheit öffnet, lebhaft ergriffen wird. Vom Schimmer der mythologischen Hypothese geblendet, verschwendete auch ich nun viel Zeit und Kraft, in unserer Heldensage die Spuren der germanischen Götterwelt aufzusuchen. Da es mir nicht an Phantasie fehlte, so war ich in dieser unglücklichen[174] Tendenz durch Häufung scheinbarer Analogien leider oft nur zu glücklich, mich zu betrügen.

Eine andere Opposition gegen v.d. Hagen lag für mich in Lachmann. Ich versuchte, auch bei ihm zu hören, aber seine trockene, kaustische Manier hatte für mich, trotz der Gediegenheit seines Wissens, nichts Ansprechendes. Ich las aber jetzt seine Schrift über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungennoth. Sie wendete die Wolf'sche Hypothese über die Entstehung des Homer auf unsere alte Sage an. Daß die Heldensage bei einem Volk durch ihre lebendige Ueberlieferung von Geschlecht zu Geschlecht mannichfaltigen Abänderungen unterliegt, und daß diese Schwankungen erst zu verschwinden beginnen, wenn die Lieder aufgeschrieben werden, war mir ganz begreiflich gewesen. In diesem Sinn hatte ich Wolf's Prologomena verstehen zu müssen geglaubt. Ich hatte aber daran nie gezweifelt, daß die Ilias und Odyssee aus der schon vor ihnen vorhandenen Tradition als ein einheitliches Kunstwerk ebenso componirt wären, wie die Tragiker die umlaufenden Sagen von den Atriden und Laiden auch zu selbstständigen Formen verarbeiteten. Für die poetische Kraft des Dichters der Nibelungen verhielten sich die Lieder, die er vorfand, nur als Stoff, auch wenn er sie theilweise aufnahm und gerade durch eine solche Aufnahme hier und dort in thatsächliche Widersprüche verfiel. Daß ein solches Werk aber, wie die uns vorliegenden Nibelungen, nur im Sinne eines Aggregats aus poetischen Atomen sollte aufgefaßt werden können, schien mir ganz unmöglich. Gerade was ich als eine Arbeit des Dichters erkannte, Harmonie in die Sage zu bringen, mußte ich als unecht verwerfen hören. Ich war auf dem Gymnasium durch die Interpretation des Virgil und besonders des Horaz mit der Kunst der Dubitation, Emendation und Conjectur hinreichend vertraut geworden, die Nützlichkeit einer solchen Kritik zu würdigen. Da aber Lachmann von der Seite her Recht hatte, daß die Nibelungen nach ihren so verschiedenen Elementen als freies, gemeinsames Gut der Deutschen Heldensage und ihres volksmäßigen Gesanges existirt haben mußten, bevor sie durch die Vermittelung der Schrift zum Abschluß gelangten, so war doch nicht so leicht mit ihm fertig zu werden. Ich trug mich eine Zeit lang mit dem Gedanken, seiner Schrift eine andere entgegenzusetzen, welche den[175] Titel führen sollte: »Ueber die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von Reineke Fuchs.« Auch hier waren ja die einzelnen Fabeln von dem Wolf, vom Bock, dem Hasen, dem Hahne, dem Bären, dem Dachs, dem Kater, dem Pferde u.s.w. in ihrem Verhältniß zum Fuchs Jahrhunderte lang in mannichfacher Wandelung überliefert worden, bevor sie zu solchen Totalitäten, wie im mittelhochdeutschen Reinhart oder im niederdeutschen Reineke von einem Dichter zusammengefaßt wurden. Eine solche Einheit des Plans, eine solche gleichmäßige Gestaltung aller Theile des Ganzen in einer individuellen Sprache konnte doch nur die That eines einzigen Genies sein. Diese Schrift konnte ganz ernsthaft verfaßt werden, allein doch nicht vermeiden, als eine Parodie von Lachmann's Hypothese zu erscheinen. Lachmann aber stand mir so unendlich hoch, daß ich bei allem Leichtsinn dies nicht wagte und den Gedanken, nachdem er mich einige Zeit beschäftigt hatte, nur zu sehr fallen ließ, denn ich hätte in späteren Jahren wohl Gelegenheit gehabt, von ihm Gebrauch zu machen.

Lachmann ist für mich ein sehr verhängnißvoller Mensch gewesen. Ich hatte in der Vorrede zu seiner Auswahl mittelhochdeutscher Gedichte das überschwängliche Lob von Wolfram's Parcival gelesen. Die Scene aus demselben, welche er hatte abdrucken lassen, Parcivals erster Besuch des kranken Anfortas auf der Burg des Grals, hatte sich mir tief eingeprägt. Es stand bei mir fest, daß hier etwas ganz Außerordentliches existiren müsse. Die geheimnißvollen Andeutungen, die ich im deutschen Museum und sonst noch über den heiligen Gral gelesen hatte, entzündeten meine Phantasie mit einer krankhaften Lüsternheit nach einer genaueren Bekanntschaft mit jenen Schätzen. Ich kaufte mir jetzt sofort auch Docen's Fragmente des älteren Titurel, die er 1810 in Berlin herausgegeben hatte. Sie nützten mir damals zu weiter nichts, als meine Spannung und Verwirrung zu steigern. Ich habe mich, wie vielleicht kein Anderer, durch alle Irrgänge unserer damaligen Romantik hindurchwinden müssen. Da der Durchbruch meines Gralcultus aber durch die Intervention, welche Schleiermacher meinem ganzen Denken gab, noch einige Jahre verzögert ward, so will ich mich hier nur auf die Bemerkung beschränken, daß Lachmann merkwürdiger Weise bei dem Parcival im geraden Gegensatz zu seiner Behandlung der Nibelungen[176] die gestaltende Kraft des Künstlers auf die Spitze getrieben hat. Wolfram hat die Parcivalsage nicht erfunden. Sie ist eine ganz undeutsche. Er selber hat zwei verschiedene französische Darstellungen gekannt, von denen er die eine als die echte der andern als einer verfälschten vorgezogen hat. Und dennoch soll nun Wolfram nach Lachmann die Sage so originell aufgefaßt, er soll sie mit seinem sittlichen Ernst, mit seinem religiösen Sinn so selbstständig umgedichtet haben, daß das französische Original in dieser deutschen Wiedergeburt gleichsam verschwunden sei. Da wir das französische Vorbild Wolfram's nicht kennen, so ist hierüber kein sicheres Urtheil möglich. Wenn die Erfindung Wolfram's bei dem Parcival in so hohem Grade, als Lachmann annimmt, thätig gewesen wäre, warum ist dann sein Wilhelm von Oranse gegen den Parcival gehalten, fast langweilig zu nennen? Wenn Wolfram aus französischen Vorlagen ein gutes Gedicht schaffen konnte, warum sollte man dann dem Dichter der Nibelungen nicht zugestehen, als ein wahrhafter Künstler die rhapsodischen Elemente der Volkssänger zu einer organischen Einheit umgedichtet zu haben, die vor ihm nur als eine ungefähre Anlage vorhanden war? Weil bei der Homerischen Odyssee die Einheit eines mit künstlerischer Absichtlichkeit geschlossenen Ganzen schwer zu verkennen ist, so hat sich die Atomistik vorzüglich an die Ilias gehalten. Wie ist es aber möglich, zu glauben, daß eine Beschreibung, wie Homer sie von dem Schilde des Achilleus macht, nicht aus dem Genie eines Dichters entsprungen sei, der das Ganze vor sich hatte? Homer schildert in der Ilias die Kämpfe der Helden. Der größte derselben, Achilleus, soll jetzt wieder in das Schlachtgetümmel eintreten, dem er grollend sich lang entzogen hat. Er soll mit dem künstlichsten Schilde ausgerüstet sein, welches sorgliche Mutterliebe ihm zuwendet.

Aber auf diesem Schilde bildet der Feuergott alle Hauptscenen des friedlichen Lebens der Menschen ab, Ackerbau, Weinlese, Jagd, Tanz, Hochzeit. O wie schön contrastiren diese reizenden Gemälde mit den blutigen Kämpfen der Krieger und wie wird durch sie innerhalb der Ilias die Totalität des ganzen Menschenlebens, Friede und Krieg, vor Augen gestellt!

Professor v.d. Hagen und Professor Lachmann waren ganz entgegengesetzte Naturen. Dies spiegelte sich auch in ihrer äußeren Erscheinung[177] ab. Jener war schwarzhaarig und die Locken seines Hauptes schüttelten sich langwallend bis auf seine Schultern herab. Seine Sprache war zwar volltönend, aber nicht ohne eine gewisse Dumpfheit. Dieser war blond und hatte eine schroffe, schneidende Stimme. Der dritte Professor, den ich in seinem Hause aufsuchte, war Friedrich von Raumer. Er wohnte damals in einem Hause auf dem Durchgang von dem Spittelmarkt nach dem Dönhofsplatz. Er hatte 1823 seine Geschichte der Hohenstaufen herauszugeben angefangen. Mein Vater, der große Geschichts- und Reisewerke bevorzugte, hatte sogleich dasselbe zu lesen begonnen und wurde auf das Aeußerste dafür eingenommen, weil ihm eine solche Schilderung des deutschen Mittelalters noch nicht vorgekommen war. Ich durfte mit der Lectüre nicht zurückbleiben. Daß ich in Berlin einen solchen Mann hören müsse, war selbstverständlich. Der Vater hatte mir aufgetragen, ihm, wenn es sich schicklich machte, seinen Dank und seine Bewunderung auszusprechen, was ich auch that, da Raumer mich sehr freundlich empfing. Ich habe dann auch ein ganzes Jahr lang erst die Geschichte des reformatorischen Zeitalters bis 1648, dann die des revolutionären bis auf das Napoleonische Kaiserthum mit höchstem Interesse gehört. Bei dem letzteren Collegium, im Winter-Semester von 1824 auf 1825, waren auch die Polen stark ver treten. Wir saßen in dichtgedrängten Reihen. Das Collegium über das Mittelalter im Sommer 1825 entsprach aber meinen zu hoch gespannten Erwartungen nicht, so daß ich es auch nicht annahm. Raumer hatte nicht viel Zuhörer in demselben und machte es sich öfter bequem, indem er aus Büchern, z.B. Manso's Geschichte der Ostgothen, ja aus seinen eigenen Hohenstaufen recht lange Abschnitte vorlas. Aus dem Antrittsgespräch mit ihm hatte ich erfahren, daß er ein Handbuch merkwürdiger Stellen aus den lateinischen Geschichtsschreibern des Mittelalters herausgegeben hatte, welches er mir zur größeren Vertrautheit mit dem Styl der Quellenschriften empfahl. Ich schaffte es mir sogleich an und verschlang es gleichsam, da es eine chronologisch geordnete Sammlung der Hauptbegebenheiten von der Völkerwanderung bis 1204 enthielt. Auf dem Gymnasium hatte ich ein Buch kennen gelernt, das mir sehr gefallen hatte. Es war von dem Professor Hegewisch in Kiel; Charaktere und Sittenschilderungen zur deutschen Geschichte aus den[178] Geschichtsschreibern des Mittelalters. Hegewisch fing mit Eginhard's Leben Karl's des Großen an und hörte mit der vortrefflichen Sachsen-Chronik Bruno's auf. Er hatte zu jedem Schriftsteller eine kritischliterarische Einleitung gemacht und dann ein bedeutsames Capitel zur Uebersetzung ausgewählt. Das Buch war 1785 erschienen und seitdem, mit Ausnahme einer Bearbeitung Otto's von Freysingen, nichts Aehnliches versucht worden. Ich fiel daher darauf, Raumer's Handbuch zu übersetzen und kam damit bis auf Ermoldus Nigellus. Die schön geschriebene Arbeit habe ich mit besonderer Gunst aus dem Untergang so vieler meiner Papiere gerettet und blicke jetzt mit Wehmuth auf dieselbe, denn auch sie wurde durch die Katastrophe, in welche Schleiermacher mich hinriß, abgebrochen. Ich war damals sehr ernstlich auf historische Studien, natürlich nur für das Mittelalter, gerichtet. Und so finde ich denn unter den Trümmern meiner Studien aus jener Zeit auch einen Auszug aus einem Handbuch der Diplomatik, welches ein Benedictiner Gruber im vorigen Jahrhundert herausgegeben hatte.

Von der Wichtigkeit, welche Raumer's Hohenstaufen für jene Epoche hatten, kann man sich jetzt kaum eine genügende Vorstellung machen. Die Regierungen hatten durch die Carlsbader Beschlüsse die Burschenschaft, welche sich mit dem Wiederbau eines deutschen Kaiserreichs trug, geächtet. Professoren und Studenten, welche diese Richtung theilten, wurden als Demagogen verfolgt. Die Mainzer Commission übte einen scheußlichen Terrorismus. Gegen ein Werk solider Wissenschaft aber, wie Raumer's Hohenstaufen, konnte man doch, ohne sich vor ganz Europa zu prostituiren, nichts einwenden. Man mußte es dulden. Ja, man sah es vielleicht gern, daß die politische Begeisterung sich in den Enthusiasmus historischer Forschung verwandelte. Raumer's Werk diente auch bald den Dichtern zur Fundgrube tragischer Stoffe. Schon Klinger hatte Konradin's Geschichte dramatisirt. Jetzt begann es von Hohenstaufen-Tragödien zu wimmeln, unter denen die von Raupach obenan standen. Waren die Deutschen hiermit aus dem historischen Studium in die ästhetische Verarbeitung seiner Resultate übergegangen, so konnten die Regierungen ihnen das kindliche Vergnügen überlassen. Im Streit der Journale über die Dichter und Schauspieler verpuffte alle Gefahr. Spätere Historiker haben die Geschichte der Hohenstaufen gründlicher[179] als Raumer geschrieben, aber keiner hat die Wirkung erreicht, die er ausübte. Ohne es zu wollen, war Raumer der Historiker der damaligen Romantik.

Ich sage, der damaligen, um auszudrücken, daß man die Romantik überhaupt von derjenigen Gestalt unterscheiden müsse, welche sie zu jener Zeit in Deutschland gewonnen hatte. Heut zu Tage verstehen die Meisten unter Romantik nur eine verwerfliche Richtung der Phantasie. Sie verfolgen die Romantik schlechtweg als eine nicht sein sollende Tendenz. Arnold Ruge hat diesen negativen Begriff zuerst in den Halleschen Jahrbüchern aufgestellt. Julian Schmidt und Rudolph Gottschall sind ihm darin gefolgt. Ich habe mich, um für diese Sphäre nicht in's Nebelhafte zu gerathen, immer an Schiller's Unterschied der naiven und sentimentalen Dichtung gehalten. Die naive fühlt sich mit der Natur in unmittelbarer Harmonie, die sentimentale hat mit der Natur gebrochen und kann nur durch Ueberwindung des Bruches zur Versöhnung mit der Natur zurückkehren. Statt des Wortes Natur muß man freilich, wie ich glaube, Realität, Wirklichkeit überhaupt setzen, um nicht in eine überflüssige Beschränkung zu gerathen. Jedes dieser Ideale hat sein Recht. Es ist nicht abzusehen, warum das sentimentale oder romantische Ideal nicht eben so gut als sein Gegentheil, das naive, solle existiren dürfen. Sehnsucht, Wehmuth, Ahnung, Geisterschauer, dämonische Stimmungen liegen auf der Seite des sentimentalen Ideals. Schiller selber hat es schon ausgesprochen, daß mit diesen Gefühlen oft eine Krankhaftigkeit des Gemüths verbunden ist, der gegenüber das naive Ideal uns die positive Heiterkeit eines gesunden Muthes zeigt. Romantik ist ein Element aller Kunst, weil das Wesen des Geistes, die Freiheit ihn mit Nothwendigkeit dazu führt, sich der Natur, aus welcher er herkommt, entgegenzusetzen. Die Romantik stellt der Kunst die tiefste Aufgabe, weil sie sich in die tiefste Entzweiung des Geistes einlassen muß. – Wie will man Dichtungen, wie Dante's göttliche Komödie, Cervante's Persiles und Sigismunda, Shakespeare's Hamlet, Göthe's Werther und Faust, anders als romantisch nennen? Sind sie, weil sie romantisch sind, häßlich? Die Häßlichkeit entsteht mit der Ausartung des Sentimentalen in die Sentimentalität als Empfindelei, als leeres und selbstsüchtiges Spielen mit der Empfindung, als phantastische[180] Uebertreibung. In diese Phase war die deutsche Poesie damals allerdings eingetreten. Als Sturm- und Drangperiode hatte die Romantik sich bei uns zuerst der Plattheit und Nüchternheit der Aufklärung entgegengesetzt. Heinse, Maler Müller, Lenz, Klinger bezeichnen diese Periode. Göthe und Schiller gaben der Romantik den wahren Gehalt der Aufklärung zurück und wurden eben dadurch unsere classischen Dichter. Göthe ist in seiner Lyrik, in seinem Drama und Roman wesentlich romantisch, unterscheidet sich aber von den Stürmern und Drängern durch das Maßvolle einer edlen Form. In der Stella, im Triumph der Empfindsamkeit, in dem vergötterten Satyr, in den Göttern, Helden und Wieland, im Faust selber, zeigt er uns noch Excentricitäten genug, die ganz im Sinne der Sturm- und Drangperiode componirt sind. Schiller's Lyrik enthielt ganz naive oder antik gedachte Producte, aber die Anzahl der romantisch gefühlten Compositionen ist die bei weitem überwiegende. Manchmal hat er antike Mythen mit romantischem Duft durchhaucht, wie z.B. in der Klage der Ceres. Der holde Lenz ist erschienen; die Erde hat sich verjüngt, aber die schöne Natur be friedigt die Göttin nicht. Ihr-Mutterherz ist gebrochen und sie sehnt sich nach der Tochter, die unten im Reiche der Schatten weilt. – Aus dem Eleusinischen Fest hingegen strahlt uns die Freude an der Natur aus jedem Wort entgegen. Die thurmgekrönte Göttin, deren Wagen von Panthern und Löwen gezogen wird, hat durch Ackerbau und Städtegründung die Gesittung der Menschen herbeigeführt, aber die Feier dieser Wohlthat wird nicht als ein Gegensatz der Cultur zur Natur, sondern als die folgerichtige Vollendung der Natur selber ausgesprochen. Schiller hat seinen Spaziergang Elegie betitelt, aber diese Elegie ist ganz antik gedacht. Sie breitet sich zu einem Panorama aus, in welchem der Dichter vom Gipfel des Berges im Glanz der sinkenden Sonne die Wechselwirkung von Natur und Geschichte anschaut. Da ist nichts von moderner Verdrießlichkeit, nichts von Weltschmerz zu spüren, sondern so wie's ist, so ist es recht, und die Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns. Wie man Schiller's Dramen, die bürgerlichen wie die politischen, anders als romantisch nennen will, ist mir unerfindlich. Im Roman hat er aber wohl durch seinen Geisterseher einen starken Schritt zur Romantik in der Gestalt gethan, die man jetzt vorzugsweise vor[181] Augen hat, wenn man sie verwirft. Diese Gestalt war diejenige, in deren Entwickelung meine Jugend fiel.

War die Sturm- und Drangperiode von Frankfurt und Straßburg ausgegangen, war die classische Poesie, die ideale Verklärung der Romantik die That Weimar's gewesen, so wurde die Romantik in krankhafter Manier von Jena und Berlin aus verbreitet. Ludwig Tieck, Novalis, Friedrich Schlegel, Achim von Arnim, Hoffmann, Werner, Fouqué waren ihre Koriphäen. Welch einen Einfluß Göthe's Wilhelm Meisters Lehrjahre, sowie die Spukgeschichten nebst dem Märchen von der Schlange in seinen Erzählungen der Ausgewanderten auf die romantische Schule gehabt haben, liegt zu offenkundig da, es leugnen zu können. Nicht weniger tief griffen Schiller's Braut von Messina, Maria Stuart und Jungfrau von Orleans ein. Das, was die Modernen an der romantischen Schule vorzüglich bekämpfen, ist nicht sowohl das poetische Element in ihr, als ihre Hinneigung zum Feudalismus und Katholicismus des Mittelalters. In dieses aber hatte sich der Geist jener Epoche versenkt, weil er von dem Bedürfniß getrieben wurde, sich durch die Vergegenwärtigung deutschen Lebens in seiner früheren Selbstständigkeit und Herrlichkeit gegen die Uebermacht des gallischen Siegers zu schützen. Das patriotische und religiöse Pathos wurde von jenen Männern mit Begeisterung geltend gemacht. Man muß die Verirrungen, in welche sie damals verfielen, nicht zum absoluten Maaßstab für ihre poetischen Leistungen machen. Wir kennen jetzt das nach allen Richtungen durchforschte Mittelalter viel gründlicher als sie, allein es lebte in ihnen eine Kraft der Liebe zu unserer Nation, der wir viel schuldig geworden sind. Es soll doch Jemand unternehmen, heut zu Tage solche Vorrede zu schreiben, wie Arnim sie des Knaben Wunderhorn, Görres sie seiner Sammlung von Minne- und Meisterliedern vorsetzte. Welch' innige Vertiefung in unser gesammtes Volksleben gehört dazu, um dasselbe mit so lebendigen Farben, als hier geschehen, zu schildern! Eben diese Vergangenheit mit ihren Burgen und Rittern, mit ihren Klöstern und Mönchen, mit ihren Städte-Republiken und zünftigen Bürgern, mit ihren Domen und Priestern, mit ihrem Glauben an Wunder und Zauberei war undwiederbringlich dahin. Die Glorie, in welcher die Berliner Romantik das Mittelalter erscheinen ließ, mußte[182] daher eine Reaction zur Folge haben, welche das Ideal der Gegenwart in seinem absoluten Recht gegen den Feudalismus und gegen die Hierarchie durchsetzte. Das ist der Ursprung von Ruge's und Echtermeyer's bekanntem Manifest gegen die Romantik in den Halleschen Jahrbüchern.

Was mich selber betrifft, so habe ich alle guten wie alle schlechten Seiten der damaligen Romantik durchlebt. Ich bin von keiner ihrer Verirrungen frei geblieben. Ich habe ihren Verkehrtheiten mit einer Inbrunst nachgehangen, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre. Ich habe, als ich sehr langsam zum Bewußtsein über den wahren culturgeschichtlichen Werth des Mittelalters kam, einen furchtbaren Kampf zu bestehen gehabt, der das eigentlich Bedeutungsvolle meiner Geschichte ist.

Nach dem Kampfe, wie die Deutschen ihn gegen Napoleon gestritten hatten, schien es unglaublich, daß sie einerseits von der süßlichen und gemein realistischen Romandichtung Clauren's, andererseits von der träumerischen und spukhaften Welt von Tieck's Phantasus und Hoffmann's Serapionsbrüdern ein Genüge hätten finden können. Und doch war dem so. Und gerade in Berlin culminirte dieser Opiumrausch. Man trieb sich mit den albernsten Narrheiten als mit poetischen Wichtigkeiten herum. Ich erinnere mich z.B., daß zwei meiner schönen Cousinen eines Tages auf den Einfall kamen, die Lectüre einer Hoffmannschen Schauergeschichte, welche sie mit Freund Müller und mit mir gemeinschaftlich lasen, dadurch zu erhöhen, daß am hellen Tage in einem abgelegenen Zimmer neben der Bibliothek die Fensterladen geschlossen und Spiritusflammen angezündet wurden, weil durch sie unsere Gesichter einen gespenstischen, bläulichen Schimmer empfingen. So erklärt sich denn, daß ich selber darauf verfiel, eine solche ungeheuerliche Erzählung zu schreiben. Mai und Juni hatte ich jeden Morgen zwei Stunden Mathematik getrieben. Im Juli warf ich diese Studien, deren Fortsetzung ich leider nicht wieder aufnahm, bei Seite und machte mich daran, einen Roman: »Graf Gundolf«, zu schreiben, mit welchem ich August über auch zu Ende kam. Es war die Geschichte zweier Brüder, in deren entgegengesetztem Naturell ich den Zwiespalt meiner eigenen Seele conterfeite. Die Erfindung war sehr schwach. Die Reflexion überwog. Poetisch genommen, war das Beste wohl die Beschreibung[183] einer Episode aus dem Leben Agrippa's von Nettesheim, die ich in den Roman verflochten hatte. Ich entnahm sie aus dem ersten Band von Meiner's Lebensbeschreibungen berühmter Männer aus dem Zeitalter der Reformation. Diese Biographie ist sehr vollständig und mit einer großen Menge sehr anziehender Beweisstücke aus Agrippa's Schriften ausgestattet, so daß sie mir eben so viel Belehrung als Vergnügen gewährt hatte. Agrippa war ganz und gar eine Figur im Hoffmann'schen Geschmack, wie ich sie zu den übrigen Zauberwesen brauchen konnte. Ich beschränkte mich zunächst auf das Abenteuer seiner Jugend, als er einmal französischer Hauptmann war und im südlichen Frankreich auf dem sogenannten schwarzen Schloß eine Belagerung durch aufrührerische Bauern auszuhalten hatte.

Ich schickte den Roman einige Monate später an die Arnold'sche Buchhandlung in Dresden, welche sich auch bereit erklärte, ihn zu drucken, falls ich auf Honorar verzichtete. Ich ging natürlich darauf ein. Während dieser Verhandlungen aber, die sich etwas hinzogen, war ich tiefer in Schleiermacher gerathen. Ich wurde von Reue ergriffen, ein so abnormes Product, wie dieser Gundolf war, drucken zu lassen. Diese Reue war das erste Symptom meiner verdüsternden Stimmung, die sich meiner so lebenslustigen, heiteren Natur immer steigend bemächtigen sollte. Ich schrieb daher nach Dresden, mir das Manuscript sofort auf meine Kosten zurückzusenden, was auch geschah. Zu verbrennen, wie ich es später so oft mit meinen Arbeiten gethan habe, wagte ich das Manuscript noch nicht. Dazu hing ich ihm noch zu sehr an. Ich ergriff einen Ausweg, es von mir zu entfernen, indem ich es meiner Schwester schenkte, die ein ebenso geschicktes und wirthschaftliches Mädchen, als in der gesammten romantischen Literatur, mit Einschluß Calderon's, belesen war. Sie heirathete später den Dr. Wilhelm Genthe. So kam das Manuscript durch sie in seine Hände. Er machte es zum Ausgang eines Romans, den er in Magdeburg 1831 unter dem Titel: »Graf Gundolf« herausgab und mir zueignete. In der Zueignung sagt er, daß ich wohl bekannte Stellen mit Bleistift anzeichnen würde. Dies bezieht sich auf die Fragmente, die er aus meinem Roman dem seinigen einschaltete.

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878, S. 154-184.
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Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

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