VIII.
Magdeburg. Kritik der Berliner Hof- und Dom-Agende. Berlin. Wie Schleiermacher und Steffens mich bezauberten. Die Renaissance.

[192] Nach der Mitte August reiste ich mit Müller nach Hause. Er blieb einige Tage bei uns. Dann wanderte ich mit ihm nach dem mir so lieb gewordenen Neuhaldensleben, wo ich eine Woche bei ihm zubrachte. Zufällig traf es sich, daß Karl Immermann dort zum Besuch bei einer sehr gebildeten Dame, der Frau Mertens, anwesend war. Ihre beiden Söhne waren mir vom Gymnasium her befreundet. Auch Bernhard Nöldechen war bei Verwandten zum Besuch gekommen. So fand sich eine kleine Schaar Studenten zusammen. Freund Grubitz war nicht zu Hause, weil er anderweit verreist war. Frau Mertens veranstaltete[192] nun einige ästhetische Abende, wo Immermann als Vorleser in der Tieck'schen Manier glänzte. Ich hatte bis dahin Immermann zwar oft genug gesehen, aber ich war ihm persönlich fern geblieben. Jetzt machte ich auch seine Bekanntschaft, in deren Folge ich ihn von nun ab auch zuweilen in Magdeburg, so lang er dort war, besuchte. Ich konnte ihm auch kleine Gefälligkeiten erweisen. Ich nahm einmal ein Säckchen mit Diamanten im Werthe von mehreren tausend Thalern nach Berlin mit, welche er im Auftrage der Frau Gräfin von Ahlefeld an die Frau Professor Dieffenbach, ich weiß nicht, in welchem Zusammenhang, schickte. Ich besorgte ihm von der königlichen Bibliothek ein Exemplar der Werke von Gryphius, dessen Trauerspiel »Cardenio und Celinde« er umarbeiten wollte. Ich bestellte für ihn eine Büste Göthe's bei Rauch, dessen Atelier im Lagerhause, dicht bei meiner Wohnung war, und was solcher kleinen Liebesdienste mehr waren, die mich auch in eine oberflächliche vorübergehende Correspondenz mit ihm brachten. Von einem Dichter, wie Immermann, einige Zeilen zu erhalten, war aber für einen Studenten immerhin schon ein Ereigniß. Die Gespräche mit ihm drehten sich damals besonders um die Theorie der Tragödie, weil er eine Abhandlung über den rasenden Ajax des Sophokles schrieb, um von der philosophischen Fakultät in Halle, wo er studirt hatte, zum Doctor promovirt zu werden. In der Kunst der prosaischen Erzählung verehrte er Cervantes, in der poetischen Erfindung Göthe, in der theatralischen Technik und dramatischen Sprache Shakespeare als seine Muster. Es konnte nicht fehlen, daß wir jungen Leute mit Ehrfurcht und Staunen zu einem Manne aufblickten, der in einem verhältnißmäßig kurzen Leben eine so reiche Folge bedeutender Dichtungen schuf. Wir begleiteten seine Entwickelung Schritt vor Schritt mit steigendem Antheil. Jedes seiner Werke: Die Papierfenster eines Eremiten, Periander und sein Haus, die schelmische Gräfin, Das Trauerspiel in Tyrol, Friedrich II., der Hohenstaufe, Das Auge der Liebe, seine Gedichte u.s.w. wurden von uns mit einer gewissen Andacht gelesen und besprochen. Seine Freundschaft mit Heinrich Heine, der einmal auf ein paar Tage ihn in Magdeburg besuchte, sein Streit mit Platen, sein Verhältniß in Düsseldorf zu Grabbe, seine Bestrebungen daselbst für die idealere Gestaltung der deutschen Bühne wurde von[193] uns Magdeburgern stets mit wärmstem Interesse verfolgt. Im persönlichen Verkehr konnte er sehr heiter und liebenswürdig werden, hatte aber eine Neigung zu sarkastischen Wendungen und eine gewisse Strenge der Haltung, der gegenüber man wohl fühlte, daß man sich zusammen zu nehmen habe und sich nicht in Trivialitäten fallen lassen dürfe, wollte man sich nicht seinen Epigrammen aussetzen. Er hat unter sein Portrait geschrieben:


Das Leid, die Freude einer Welt empfinden,

Und unerschüttert, in geheimem Stand

Verborg'ne Dinge schau'n, dazu schuf

Mein Stern mich in der Laune seiner Bahn.


In diesen Versen scheint sich mehr der Criminalrichter jener Zeit, der den inquisitorischen Proceß bei verschlossenen Thüren zu führen hatte, als der Dichter auszusprechen.

Indem ich weiterhin nur noch einmal Veranlassung haben werde Immermann's in bestimmter Beziehung auf mich zu erwähnen, kann ich nicht umhin, einen Uebelstand in unserer Literatur zu berühren, der durch die Zersplitterung derselben hervorgerufen wird. Wir besitzen von den Schriften unserer hervorragenden Geister sehr selten wirkliche Gesammtausgaben, die uns in den Stand setzen, uns von ihnen mit leichter Zugänglichkeit eine adäquate Anschauung ihres Wirkens zu machen. Wir sind unermüdlich, Blumenlesen aus unsern Classikern zu drucken, in denen ein Dutzend ihrer Gedichte und einige Fragmente ihrer Prosa in herkömmlicher Weise wiederholt werden und eine höchst einseitige Vorstellung von ihnen befestigen. Wollen wir aber einen Geist seiner Totalität nach zu unserer Anschauung bringen, so müssen wir uns hierhin und dorthin wenden, seiner Schriften habhaft zu werden. Von Immermann existirt, soviel ich weiß, keine Gesamtausgabe, nur eine Auswahl aus seinen Schriften. Viele kennen jetzt nur noch seinen Münchhausen, der allerdings als sein selbstständigstes Product gelten muß. Aber auch hier hat man sich zuletzt auf die Dorfgeschichte vom Hofschulzen, seiner anmuthigen Tochter Lisbeth beschränkt. Verdient denn aber, was Immermann sonst noch geleistet hat, nur noch die Aufmerksamkeit des Literaten vom Fach, der sich damit nur kritisch zu thun macht? Bei den Franzosen und Engländern ist dies ganz anders.[194] Sie haben von allen ihren Autoren, welche die Mittelmäßigkeit durchbrechen und den Fortschritt der Nation nach irgend einer Seite hin entschieden fördern halfen, Gesammtausgaben. Es ist von mir zu diesem Wort oben noch das Prädikat »wirklich« hinzugefügt. Zuweilen nämlich besitzen wir Gesammtausgaben, die es thatsächlich doch nicht sind. Von Göthe z.B. wird man der Meinung sein, daß von seinen Werken eine Gesammtausgabe existirt, da er ja selber eine solche veranstaltet hat. Göthe selber hat ganz richtig darin nur dasjenige aufgenommen, was er als eine Aeußerung seiner poetischen oder wissenschaftlichen Produktivität ansehen durfte. Gehört aber in weiterem Betracht sein Briefwechsel nicht zu seinem vielseitigen und ersprießlichen Wirken? Finden wir in Voltaire's Werken nicht seinen Briefwechsel mit d'Alembert, mit Friedrich dem Großen? Man hat nicht ermangelt, die kleinsten Billete Göthe's drucken zu lassen, aber eine chronologisch nach der Epoche, welche diese Correspondenzen bei ihm bezeichnen, wohlgeordnete Ausgabe aller seiner Briefe giebt es nicht. Ich meine das so, daß sich seine Briefe mit Merk, mit Lavater, mit Sömmering, mit Jacobi, mit der Gräfin Stollberg, mit Frau von Stein, mit Schiller, Reinhard, Boisserée, Zelter, abgeschlossen als chronologische Gruppen einander folgen sollten. – Ich nenne hier nur die vorzüglichsten Sammlungen. Sehr leicht würden sich kleinere als Ergänzungen oder Uebergangsglieder zwischen ihnen einschieben lassen. In jedem dieser Briefwechsel tritt eine Hauptangelegenheit der Göthe'schen Thätigkeit und Sinnesweise hervor: Physiognomik, Anatomie, Spinozismus, Liebe, Poesie, Farbenlehre, Baukunst, Musik – Alles umrahmt von dem reichen Weltleben, in dessen Mitte der Dichter sich stets fortstrebend bewegte. In jedem tritt eine besondere Seite seines Charakters, in jedem eine besondere Stufe seines Alters hervor. – Als ein gelungenes Beispiel, wie man die Werke eines Dichters in ihrer Gesammtheit behandeln kann, möchte ich die Ausgabe anführen, welche die Cotta'sche Buchhandlung in Stuttgart von Platen's Schriften in Einem Bande veranstaltet hat. Jetzt hat sich die Concurrenz auf den Druck unserer Classiker geworfen. Man kann den ganzen Schiller für einen einzigen Thaler kaufen. Ob man aber diese Ausgabe auf sehr[195] dünnem Papier mit einer die Augen verderbenden Kleinschrift mehr als kaufen, ob man sie auch lesen wird, ist mir sehr zweifelhaft.

Man verzeihe diese Abschweifung, die sich mir bei dem Andenken an Immermann aufdrängte.

Ich machte in den Ferien einen Ausflug nach Quedlinburg, wo ich im Gasthaus »zur Pölle« mich festsetzte und von hier aus Streifereien in die Umgegend unternahm. Volk hatte hier einen Onkel, welcher die Apotheke des Ortes besaß. Er war unverheirathet, recht wohlhabend und ich brachte mit Volk einige Abende bei ihm in großer, etwas burschicoser Heiterkeit zu, welche der vortreffliche Weinkeller des alten jovialen Herrn manchmal zur Ausgelassenheit steigerte. Mit Volk, unter Führung eines Vetters von ihm, Adolf Heine, der die Wege gut kannte, bestiegen wir eines Tages den damals noch recht wilden Hexentanzplatz, kletterten – oft auf Händen und Füßen – das Gerölle der sogenannten Schurre in's Bodethal hinab, gingen dasselbe bis zum Bodekessel aufwärts, kamen dann oberwärts auf die Roßtrappe zurück und stiegen dann den Weg nach Thale hinunter. Diese Partie mit den weithin ragenden, wildgezackten Felsen, in deren Mitte der Bodefluß sich schäumend hinwälzt, mit dem Gegensatz von Thalenge und offener Fernsicht über eine große, fruchtbare, von kleinen Städten und Dörfern übersäete Ebene ist unstreitig einer der schönsten Punkte des Harzgebirges. Dennoch gewährte mir ein Gang, den ich ein paar Tage später ganz allein machte, einen viel größeren, unauslöschlichen Eindruck, weshalb ich ihn dankbar erwähne. Ich ging früh von Quedlinburg aus, ging nach der Lauenburg, von welcher damals noch malerische Ruinen übrig waren, verlor mich in dieser Umgebung in phantastische Träumereien, wanderte dann nach Gernrode, bestieg den Stubenberg und kam spät Abends über den Kamm der Kalkhügel, die sich von hier nach Quedlinburg hinziehen, zurück.

Wie selten sind ganze selige Tage in unserem Leben! Diesen Tag rechne ich zu ihnen. Ich war jung, voll von Gedanken, die mich angenehm beschäftigten, von innigster Empfindlichkeit für alle Schönheiten der Natur, die mich umgaben, und schlürfte die balsamische Luft der Wälder und Felder mit Wonnegefühl. Das Wetter war herrlich und der Uebergang der Farben der Landschaft vom Strahl der Morgensonne[196] bis zum Roth des glühenden Abendhimmels von bezauberndem Wechsel. Alles schien mein Entzücken zu theilen, und selber der alte, weitläufige Gasthof, worin ich wohnte, mit seinen langen Corridoren, dunkelschattigen Zimmern und alterthümlichen Möbeln erschien mir des Pinsels eines Callot-Hoffmann nicht unwürdig. Von Quedlinburg ging ich, auch allein, nach Hädersleben auf dem Huy, einem Vorberg des Harzes, wo Strebe damals Pfarrer war. Ich blieb einige Tage bei ihm und lernte seine Frau und deren Schwester, Tante Auguste, kennen, die mir im Laufe des Lebens noch manchmal die zärtlichste Pflege angedeihen ließ. Als ich auf dem Rückmarsch durch Egeln kam, war in der Stadt gerade eine heftige Feuersbrunst ausgebrochen, deren angstvolles Schauspiel zu dem Frieden der Natur, aus welchem ich kam, wie der Pessimismus zum Optimismus contrastirte.

Als ich von Berlin nach Hause gekommen war, fand ich den Vater bei dem dritten Bande der Raumer'schen Hohenstaufen, den ich auch sofort durcharbeitete und auch die Karte Europa's vom zwölften Jahrhundert, die ihn begleitet, abzeichnen mußte. Während ich hiermit noch beschäftigt war, vertiefte sich der Vater schon wieder in ein anderes, neues Werk, Sieber's malerische Fußreise durch die Insel Kreta, worin ich ihm ebenfalls nachfolgte. Ich erwähne dies Buch, weil es uns so viel Vergnügen und Belehrung gewährte, daß wir es später noch gar manchmal mit Dankbarkeit gegen den Verfasser in unsern Unterhaltungen von Neuem durchwanderten. Alles, was sich auf Griechenland bezog, hatte damals noch wegen des Kampfes, welchen die Hellenen gegen die Türkei bestanden hatten, ein doppeltes Interesse. Kreta liegt nicht auf dem Wege, den die Touristen auf Reisen nach Griechenland zu nehmen pflegen. Wir wußten nur das Allgemeinste von dieser schönen und großen Insel, der Wiege des Zeus und der bewunderten Geseßgebung des Minos. Sieber schildert die Insel mit ihren Bergen und Thälern, ihren schattigen von Oleanderbüschen bedeckten Buchten, ihren Eichenwäldern, Weinbergen, ihren Klöstern, Schaafheerden und schiffkundigen Bewohnern so anschaulich, daß man völlig einheimisch darin wird. Die große Bedeutung der Griechischen Kirche, deren Studium mich später recht ernstlich in Anspruch nehmen sollte, wurde mir hier zum ersten Mal enthüllt.[197]

Doch der größte Theil der Ferien in Magdeburg wurde durch das Interesse hingenommen, welches der Streit über die Einführung der Hof- und Domagende von Berlin damals in der ganzen Gesellschaft hervorrief. Die Magdeburger waren gute Royalisten. Sie verehrten den König mit aufrichtiger Hingebung, aber mit der Zumuthung, die vom Könige und einem seiner Adjutanten selbst verfaßten Agende anzunehmen, konnten sie sich nicht vertragen. Es entstand ein heftiges Hin- und Herreden darüber. Die Geistlichen, welche geneigt schienen, sie ihren Gemeinden zu empfehlen, wurden angefeindet. Da das Reformationsfest 1817 die Union der Lutherischen und Reformirten Kirche zu ihrem eigentlichen Inhalt gehabt hatte, so kann man die Agende als den ersten rohen Versuch betrachten, dieser Union einen bestimmteren Ausdruck zu geben. Die eigentliche Aufgabe wäre gewesen, ein neues Glaubensbekenntniß zu schaffen, worin die zwischen jenen beiden Confessionen obwaltenden Gegensätze aufgelöst und aus welchem eine neue ihm entsprechende Form des Cultus abgeleitet wäre. Statt dessen sollte der Formalismus eines blos liturgischen Werks die Basis einer unirten evangelischen Landeskirche abgeben. Als Privatmann gehörte der König der reformirten Confession an; als König stand ihm für die protestantische Kirche in seinem Staat die bischöfliche Macht als Aufsichtsrecht zu. In der reformirten Kirche ist das liturgische Element ein ganz untergeordnetes; in der lutherischen ist es sehr ausgebildet, aber auf ganz individuelle Weise, so daß in verschiedenen Gemeinden die mannigfaltigsten Abweichungen vorkommen. Die Reformirten bedurften einer solchen Agende gar nicht und die Lutheraner sträubten sich gegen die Uniformirung, welche die Eigenthümlichkeit der Form bedrohte, an welche sie seit lange gewöhnt waren. Der König verwickelte sich daher mit beiden Confessionen in einen Kampf, für welchen es keinen Richter gab. Die Folge davon war, daß er, der sich den Beinamen des Gerechten erworben, durch die Opposition, die überall erwachte, gereizt und selbst zur Ungerechtigkeit und Härte hingerissen wurde. Die Entstehung der sogenannten Altlutheraner im Unterschied von denen, welche die Agende annahmen, war hievon die Folge. Scheibel in Breslau trat als gewichtiger Vorkämpfer für sie auf. Mein Vater war eigentlich ein wahrhaft evangelischer Christ, der den Gedanken[198] der Union mit Freuden begrüßt hatte. Er war ursprünglich Lutheraner gewesen, aber, als er meine Mutter heirathete, ohne alles Bedenken über die dogmatische Differenzen zur Reformirten Kirche übergetreten. Da er aber auch ein treuer Anhänger des Preußischen Königthums geworden war, so fand er sich durch jenen Streit schmerzlich berührt und wußte nicht recht, was er daraus machen sollte. Ich bat ihn, mir ein Exemplar der Hof- und Domagende zu verschaffen, was er auch that.

Nun warf ich mich dahinter und schrieb binnen einigen Wochen eine ausführliche Kritik derselben, die ganz zu ihren Ungunsten ausfiel. Sie schien mir ein höchst unerquickliches Aggregat von Gebet und Gesang zu sein. Bei den Gebeten tadelte ich, daß sie abgelesen werden sollten. Ein Gebet muß urkräftig aus dem Herzen kommen, wenn es zum Herzen dringen soll. Ein abgelesenes Vaterunser dünkte mich die beseligende Kraft seiner Worte zu ertödten. Ebenso stieß ich mich daran, daß die Antiphonien von einem Chor gesungen werden sollten. Ich hatte in lutherischen Kirchen bei festlichen Gelegenheiten wohl Cantaten aufführen und von den Geistlichen, oft nicht ohne feierliche Empfindung die Worte der Einsetzung des Abendmahls absingen gehört, aber die passive Haltung der Gemeinde einem Chorgesange gegenüber streifte für mich fast an die katholische Messe. Auch wollte ich den Herrn Zebaoth, dessen Heiligkeit vom Chor gepriesen wird, nicht dulden, weil er uns Christen doch ein gar zu entlegenes an den Sternendienst der Kleinasiaten erinnerndes Wesen sei. An Inhalt und Form der Gebete fand ich vielerlei auszustellen, was mir jedoch entschwunden ist. Ich erinnere mich nur, daß ich mich auch z.B. gegen die Bitte auflehnte, Gott soll alle königlichen Länder und das königliche Kriegsheer beschützen; er soll ein Heiland aller Menschen, besonders aber der Gläubigen sein u.s.w. Die erstere Stelle kam mir, Gott gegenüber, zu speciell vor, und bei der zweiten behauptete ich, daß der Zusatz heißen müsse, besonders derer, die noch nicht so glücklich sind, von der Wahrheit des Evangeliums erleuchtet zu sein. Daß Gott ein Heiland aller Menschen sein soll, war mir ganz aus der Seele gesprochen, daß aber die Gläubigen, die durch ihren Glauben schon selig sind, noch einer aparten Bevorzugung empfohlen wurden, widerstand mir. So[199] wollte es mir auch nicht in den Sinn, daß Gott die Soldaten und Beamten lehren solle, stets, wie Christen, ihres Eides eingedenk zu sein. Hat nicht, entgegnete ich, Christus ausdrücklich das Schwören verworfen? Die Rede eines Christen soll Ja und Nein sein; was darüber ist, ist vom Uebel. Und nun soll Gott, im Widerspruch mit diesen Worten, das Militair und die Bureaukratie lehren, wie Christen, ihres Eides zu gedenken? Ist es nicht auch vielleicht, fügte ich hinzu, ganz unklug, sie jeden Sonntag daran zu erinnern, daß sie ihren Eid brechen können? Ich stellte dies, da ich Student war, mit der Unterschrift der Reverse in Parallele, durch welche wir uns beim Eintritt in die Universität verpflichten mußten, uns in keine verbotene Verbindung einzulassen. Ich fand dies aber so überflüssig als gefährlich; überflüssig, weil Niemand im Staat ohnedem schon einer verbotenen, geheimen Gesellschaft angehören darf; gefährlich, weil man durch den Revers dem Studenten eine Wichtigkeit beilegte, die in ihm eine Macht fürchtete, an die er selber bis dahin wohl nie gedacht hatte.

Als ich mit meiner Kritik fertig war, übergab ich sie dem Vater. Er las sie, tadelte die Heftigkeit einiger meiner Ausdrücke, wollte sie aber erst genauer prüfen, bevor er mir über ihren Inhalt seine Meinung mittheilte. Wir haben aber nie wieder darüber gesprochen und ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist, denn nach seinem Tode habe ich sie unter seinen Papieren nicht gefunden. Ich denke, er hat sie vernichtet, weil ich später Theologie studiren wollte und weil er die Existenz eines solchen Schriftwerks für mein Fortkommen als gefährlich erachten mochte. Als ich es verfaßte, hielt ich mich noch für einen Philologen.

Ich hatte meine Arbeit noch ohne alles theologische Pathos ganz in dem Sinne aufgeklärter Humanität gemacht, worin ich erzogen war und welchem bis dahin auch die Romantik nichts angehabt hatte. Meine Eltern verkehrten mit Menschen der verschiedensten religiösen Ueberzeugung, sofern sie sonst rechtschaffene Leute waren, mit gleicher Freundlichkeit. In der Neustadt waren Mönche und Nonnen in unserm Hause aus- und eingegangen und ich war mit meiner Schwester im Nonnenkloster von den Schwestern Cäcilie und Agathe nur mit Liebkosungen gehätschelt und mit Zuckerwerk und Bildern beschenkt. Mein[200] Verkehr mit der jüdischen Familie Simon wurde nur mit allgemein menschlichen Augen betrachtet. Niemals war von ihrem Glauben die Rede und höchstens wurde erwähnt, daß sie den Mazzekuchen anders backen, als Christen ihren Osterfladen. Es gab im Kreise unserer Bekanntschaft einige Personen, über deren religiösen Standpunkt zuweilen gesprochen wurde. Da war z.B. Professor Seiffert. Er war Mönch gewesen, hatte das Kloster verlassen, geheirathet und ernährte sich von einem doppelten Unterricht. Er unterrichtete theils in der Miniaturmalerei, die er wohl in einem Benedictiner-Kloster erlernt haben mochte; theils in der lateinischen Sprache, über welche er eine größere und kleinere Grammatik herausgegeben hatte, die sehr geschätzt wurden und von einer großen Belesenheit in den römischen Classikern zeugten. Er galt als eine kirchliche Merkwürdigkeit, weil er Mönch gewesen war und sich säcularisirt hatte. Da war ein Freund meines Vaters, Vokel, ein kleiner buckliger Mann mit einem großen Kopf, hoher Stirn, unterbuschigen Augenbrauen, grauen Augen mit scharfem Blick, mit einem etwas negerartigen Munde, aber mit einer höchst einnehmenden Stimme und mit höchst geschmackvoller Diction. Alles, was er sagte, hatte ein eigenthümliches Gepräge und verrieth sich als ein Product tieferen Nachdenkens. Er neigte zur Satire, ohne boshaft zu sein. Zu gewissen Zeiten ward er Sonntags als Mittagsgast eingeladen und ich lauschte dann seiner Rede, die sich so hoch über den gewöhnlichen Bildungsdurchschnitt erhob, mit gespannter Aufmerksamkeit. Er war in der neueren Literatur sehr bewandert und wußte über Dichter ganz originell zu sprechen. Nun wußten wir durch den Vater, daß er nie eine Kirche besuchte. Er hatte sich in religiöser Hinsicht ganz an Klopstock hingegeben. Der Messias desselben war bei ihm an die Stelle der Bibel getreten. Er las ihn immer von Neuem, indem er die zwölf Gesänge auf die zwölf Monate des Jahres vertheilte. Er behauptete, daß Klopstock das in den Evangelien zerstreute und verschieden gefaßte Bild des Erlösers zu einer lebendigen Einheit zusammen geschmolzen und durch seine Psychologie wie durch seine Poesie zu einer Vollendung erhoben habe, die nicht mehr übertroffen werden könne. Er hielt Klopstock für eben so wohl inspirirt als die Apostel. Wenn er beim Glase Wein des Nachtisches manchmal auf dies Thema kam,[201] so wurde er begeistert. Der Satiriker, der gerne mit Heiterkeit spottete, verschwand in dem Enthusiasten, und nicht nur wir Kinder, auch der Vater, hörten ihm dann mit einer gewissen Andacht zu, als ob er im Besitz einer höheren Religiosität sei. Doch auch dieser Mann galt eben nur als eine Merkwürdigkeit, in welcher wir besonders die Macht bewunderten, welche ein Dichter, wie Klopstock, über das menschliche Gemüth auszuüben vermochte. Da war ferner Vetter Brennecke, ein alter Candidat der Theologie, der von den Zinsen eines Capitals ganz behaglich lebte. Auf diesen Vetter, wenn er zuweilen vorsprach, blickten wir Kinder mit einer gewissen Scheu, weil sein Hauptbestreben darauf gerichtet war, in der Geschichte Christi die größten Irrthümer nachzuweisen. Wenn Freund Bokel Christus in den Glorienschein des Klopstock'schen Messias stellte, so zerarbeitete sich der kritische Verstand des Vetters Brennecke, aus der Bibel selber den Beweis zu führen, daß Christus nach seiner Kreuzigung noch 27 Jahre auf Erden gelebt habe. Er war Jahre lang mit einem gelehrten Buch hierüber beschäftigt, das er endlich auch drucken ließ und großen Anstoß damit erregte; denn, wenn Christus durch die Kreuzigung nicht gestorben war, so fiel damit auch die Auferstehung vom Ostermorgen, sein geheimnißvolles Erscheinen bei seinen Jüngern und die Himmelfahrt hinweg. Darüber schüttelten Vater und Mutter bedenklich den Kopf, behandelten den gelehrten Vetter übrigens nur als eine Merkwürdigkeit, als einen Theologen, der sich durch seine Studien verwirrt habe. Da er seine Ueberzeugung mit Aufrichtigkeit aussprach und sich für ihre Begründung auf das Neue Testament selber stützte, so mußte man ihn immer noch als Protestanten gelten lassen. Er protestirte gegen einen Irrthum der ganzen Christenheit, den er entdeckt zu haben glaubte. So könnte ich noch manche Figur aus meiner Erinnerung heraufbeschwören, zu zeigen, wie sich die Toleranz in Preußen befestigt hatte. Nunmehr aber trat, zunächst durch den Streit über die Agende, eine kritische Unruhe in die Gesellschaft. Es wurde zwischen wahrem und falschem Glauben unterschieden, und die Cultusformen wurden auf die Dogmen, von denen sie ausgingen, zurückbezogen.

Mein Interesse an der Theologie erwachte, und ich glaubte, als ich Mitte October nach Berlin zurückkehrte, recht klug zu handeln, wenn[202] ich ihr Studium neben dem der philosophischen Wissenschaften versuchte. Wie ich dieses mit dem der Encyklopädie eröffnet hatte, so nahm ich nun bei Marheinecke ein Collegium über theologische Encyklopädie, außerdem aber bei Schleiermacher Exegese der Paulinischen Briefe an die Kolosser, Epheser und Tessalonicher, so wie der theologischen Moral an. In der Philosophie fuhr ich bei Raumer mit der Geschichte des Zeitalters der Revolution, bei Herrn von Henning mit der Logik und Metaphysik fort, glaubte aber die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen zu dürfen, ein Publicum über Religionsphilosophie bei einem Dr. von Kayserling dreistündig anzunehmen.

Ich besuchte alle diese Collegia mit regelmäßigem Fleiß, stürzte mich aber, nach meiner Gewohnheit, neben ihrem Betrieb in eine Arbeit, die mir viel Zeit kostete und mit welcher ich zuletzt doch nicht zu Ende kam. Ich fand am schwarzen Brett eine Aufforderung der philosophischen Fakultät an ihre Studirenden, die Geschichte Heinrichs VII., des Lützelburgers, aus den Quellen darzustellen. Sofort zweifelte ich gar nicht, daß dies Thema für mich ganz wie gemacht sei und beschloß, um den dafür ausgesetzten Preis zu concurriren. Damit Andere mir nicht zuvor kommen möchten, eilte ich auf die Königliche Bibliothek und schleppte mir von ihr die nöthigen Folianten zusammen. Unter den Quellenschriftstellern für Heinrich VII. ist Albertus Mussatus, der sogenannte zweite Livius, von besonderer Wichtigkeit. Ich war so glücklich, ihn zu erhalten. Reuberi Scriptores Rerum Germanicarum und andere secundäre Quellen wurden mir auch zugänglich. Ich hatte keine Anleitung zu solchen kritisch historischen Arbeiten, traute mir aber zu, Herr des Stoffes werden zu können, der in lateinischer Sprache dargestellt werden sollte, was mir keine Schwierigkeit machte und sogar angenehm war, da ich es mit lauter lateinischen Autoren zu thun hatte. Von der Mühsamkeit einer solchen geschichtlichen Forschung hatte ich anfänglich noch gar keine Vorstellung. Als ich den trefflichen Albertus Mussatus in die Hand nahm, entdeckte ich im Anhange des Folianten ein Trauerspiel desselben: Eccerinus, welches die Geschichte des berüchtigten Ezzelino in einer dem Seneca nachgeahmten Form behandelte. Das war mir eine ganz neue Entdeckung. Noch nirgends hatte ich von dieser, wie mir schien, so merkwürdigen Thatsache gehört,[203] und am liebsten hätte ich gleich hierüber eine Abhandlung geschrieben, welche diese erste Vereinigung der Form des antiken Dramas mit einem mittelaltrigen Gegenstande in das würdigste Licht setzen sollte. Doch unstreitig ging der Kaiser vor: Ich las und las, aber das Lesen allein fruchtete mir nicht. Ich mußte die Quellen vergleichen, Uebereinstimmung und Widersprüche zwischen ihnen ausfindig zu machen. Da Heinrich nicht lange regiert hatte, so war dies Geschäft, wie es mir vorkam, nicht zu schwierig. Ich fiel auf den ganz richtigen Gedanken, mir zunächst Annalen anzulegen, diese wieder in Monate, diese abermals in Wochen zu theilen und nun alle Thatsachen aus den Quellen, für welche ich neben einander Columnen herstellte, einzutragen. So glaubte ich der Wahrheit bald auf den Grund zu kommen. Doch wie oft gerieth ich wegen verschiedener Angaben der chronologischen Daten, weiterhin sogar wegen der Personen, die als Träger einer Thatsache angegeben wurden, in Verzweiflung. Um einen allgemeinen Leiter zu haben, hielt ich mich an Häberleins deutsche Reichsgeschichte. Man muß bedenken, daß die Geschichte des Luxemburgers damals noch sehr zurück war. Barthold's ausführliche Monographie über seinen Römerzug erschien erst zehn Jahre später. Albertus Mussatus verdient als Zeitgenosse des Kaisers gewiß das größte Vertrauen, aber es hätte doch der Aufgabe der Fakultät nicht entsprochen, ihn ohne Controle zu lassen. Auch reicht er nicht für die Anfänge des Luxemburgers und noch weniger für sein Ende hin, über welches ich, je mehr ich las und verglich, immer unsicherer wurde, ob er nämlich durch eine Hostie vergiftet worden oder nicht? Um die kolossale Arbeit zu bewältigen, stand ich, in einem sehr harten Winter, jeden Morgen um fünf Uhr auf und opferte mich der Lectüre und dem Excerpiren lateinischer Chronisten bis zum Kaffee. Die Folge meines Ueberfleißes war, daß ich nach Neujahr 1825 ein paar Wochen krank wurde. Ich erholte mich zwar rasch von dem fieberhaften Zustande, aber ich mußte die Arbeit aufgeben. Ich that dies zwar mit dem glücklichen Leichtsinn der Jugend, doch nicht ohne Schmerz, weil die zusammenhängende Darstellung, nachdem ich die dornigen Vorarbeiten ziemlich im Rücken hatte, mir als der schönste Lohn dafür erschienen war. Ich hatte aber[204] durch mein Unwohlsein zu viel Zeit verloren, um den rechtzeitigen Termin der Ablieferung der Arbeit einhalten zu können.

Doch es war auch wohl ein anderes, ganz entgegengesetztes Interesse, das mich unerwartet gepackt hatte und das mich gegen den Eifer, mit welchem ich die historische Arbeit begann, gleichgültiger werden ließ. Henrik Steffens, dieser von mir so hoch verehrte Mann, war nach Berlin gekommen. Er hatte seine norwegische Heimath besucht, sich mit der Rückkehr nach Breslau, wo er damals Professor war, verspätet, konnte dort seinen regelmäßigen Cursus nicht mehr eröffnen und wollte den Ausfall der Honorare durch Vorlesungen in Berlin ersetzen, zu denen ihm auch die Erlaubniß ertheilt ward. Er richtete zwei Cyclen ein; einen dreistündigen in der Universität zur Mittagszeit, einen dreistündigen für die Berliner Aristokratie zur Abendzeit in dem Saal des Gouvernementshauses. Dies war ein Ereigniß für die gebildete Welt Berlins, das ich nur mit den späteren Vorlesungen Alexanders von Humboldt über den Kosmos zu vergleichen wüßte. Nicht nur die Studenten, auch die Professoren, wurden von der regsten Theilnahme ergriffen. Steffens kündigte Naturphilosophie als Theil der allgemeinen Bildung an. Wenn man durch den Flur der Berliner Universität in das Kastanienwäldchen nach hinten hin ausschreitet, so befindet sich zur Linken ein Auditorium, welches amphitheatralisch aufgerichtete Bänke hat und in der Mitte von vier hölzernen Säulen getragen wird. Es diente zu Vorlesungen, die mit Demonstration verbunden sind, und, zu meiner Zeit wenigstens, zu den Uebungen des homiletischen Seminars, was ich äußerst zweckmäßig fand, weil dadurch die Kirchen mit der unvollkommenen Beredtsamkeit der Studenten verschont blieben. Hier eröffnete Steffens seine Vorträge. Der Saal war gedrängt voll. Der größte Theil der Zuhörer mußte stehen. Als Steffens sich endlich zum Katheder hindurchgearbeitet hatte, konnte ich ihn die ganze Stunde nicht sehn, weil ich hinter eine jener Säulen gepreßt war. Um so wunderbarer, um so geisterhafter wirkte seine Sprache auf mich ein. So etwas hatte ich noch nie vernommen. Kraft und Wohlklang der Stimme vermählten sich hier mit einer Fülle der Phantasie, mit einem Reichthum von Kenntnissen, mit einer Frische urlebendigster Erzeugung, daß ich zum höchsten Entzücken fortgerissen wurde. Steffens sprach ganz[205] frei und überließ sich mit völlig naiver Genialität dem begeisterten Drange seiner Gedanken. Ich habe ja viel vortreffliche Lehrer gehabt, aber einen solchen Genuß, wie Steffens, hat mir keiner gewährt. Ich mußte Schleiermacher's Methode für die wahrhaft wissenschaftliche Bildung vorziehen, aber die malerische und pathetische Manier seines Freundes Steffens war für mich damals überwältigend. Er mußte, da auch in der zweiten Stunde der Saal überfüllt war, nach Nummer VIII wandern, wo ich neben dem Katheder ein Plätzchen erhielt, von welchem aus ich ihn nur seitwärts ansehn konnte, dafür aber mir gegenüber auf der ersten Bank die interessanten Köpfe und Mienen der Professoren Ermann, Link und Anderer hatte, welche Steffens zuweilen als seine Gegner polemisch heranzog. Leopold von Henning, den ich auch in den beiden ersten Stunden bemerkt hatte, wollte uns Studenten in der Logik gegen Steffens einnehmen. Er sprach sehr kühl von den zwar funkelnden, aber nur blendenden Blitzen rhetorischen Schwulstes, jedoch ohne Steffens Namen zu nennen. Wir versenken uns hier, pflegte er zu sagen, in die Nacht des reinen Gedankens. Da dieser reine Gedanke für mich damals noch voller Finsternisse war, mit deren Aufhellung Herr von Henning sich allerdings redlich abmühete, so verfing seine Warnung bei mir nichts. Dem Inhalt nach trug Steffens, wie ich später erkannte, ausgewählte Capitel aus seiner Anthroprologie vor. Da er aber frei sprach, so gewann Alles eine eigenthümliche, zuweilen gewiß ihn selbst überraschende Gestalt, zu welcher der Blick in das Auge der Gegner, die er vor sich hatte, beitrug. Gerade in solchen polemischen Ergüssen wurde er höchst interessant. Ich erinnere mich namentlich einer Stunde, worin er die Hypothese bestritt, daß am Nordpol in der Urzeit ein großes Thal mit tropischer Flora und Fauna sich befunden habe und durch Massenerhebung aus dem gluthflüssigen Innern der Erde vernichtet sei, was seiner Ansicht von einem festen, magnetischen Eisenkern der Erde widersprach. Die Wogen seiner Beredtsamkeit brausten donnernd über das nach seiner Meinung fictive Werk des Plutonismus hin und er schloß triumphirend die Stunde mit der Frage an die Zuhörer, ob man den Urhebern jener Hypothese nicht sagen müsse:

Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo. Manchmal[206] verlor er sich in Visionen. Er hatte vom Gehör und von dessen unendlicher Bedeutung – dies war eine oft wiederkehrende Phrase bei ihm – gehandelt. Schon hatte es voll geschlagen. Schon entstand die in den Auditorien bekannte Unruhe des Aufbruchs. Steffens selber nahm seinen Hut in die Hand, sprach aber fort. Dann setzte er sich den Hut auf, sprach aber fort. Er malte nämlich aus, wie die unendliche Bedeutung des Ohrs sich schließlich darin zeige, daß wir bei dem Eintritt des jüngsten Gerichts den Schall der Posaune in den Gräbern vernehmen würden. Er vergaß offenbar Alles um sich her und versenkte sich ganz in das Gemälde der Nacht des Grabes, des in sie hinein dröhnenden Posaunenschalls und der nun entstehenden Bewegung. Bei Raumer, Schleiermacher, Marheinecke schrieb ich ganz gute Hefte nach. Bei Steffens versuchte ich anfänglich auch nachzuschreiben, überzeugte mich aber bald von der Unzulänglichkeit meiner Notizen, welche mir überdem die rücksichtslose Hingabe an seinen Vortrag verdarben. Ich wollte nachher zu Haus die Hauptsache niederschreiben, aber auch dieser Versuch mißlang, weil der Inhalt ohne die Fülle der rednerischen Ausführung zu schwierig darzustellen war. Ich begnügte mich daher zuletzt mit epigrammatischen Andeutungen; z.B. die Urgebirge stellen uns in ihrer Bildung den Titanenkampf der Erde vor; oder die Ewigkeit des Kusses u. dgl. Ich wußte wohl im Allgemeinen, daß Steffens aus der Schelling'schen Philosophie herkomme, aber eben diese Philosophie hatte ich noch gar nicht studirt. Durch Novalis Schriften hatte ich ihr Princip auch schon kennen gelernt, allein ohne ein historisches Bewußtsein über diesen Zusammenhang zu haben. Für den romantischen Standpunkt, auf welchem ich mich befand, war Steffens Naturphilosophie eben recht. Die Parallele, welche sie beständig zwischen den Stufen der Entwickelung der Natur und denen des Geistes zog, regte mich mit geheimnißvollen Ahnungen an; daß Natur und Geist an und für sich Eines, oder, wie man sagte, daß sie identisch seien, glaubte ich zu verstehen. Das Absolute offenbart sich sowohl in der Natur als in der Geschichte. Eben deswegen ist es an und für sich ihre Indifferenz. Die Differenz fällt nur in die Erscheinung.

Ich hatte noch die Vorstellung, daß Hegel mit Schelling denselben Standpunkt einnahm und wunderte mich daher, wenn ich Herrn von[207] Henning in der Logik und Metaphysik gelegentlich gegen Schelling polemisiren hörte. Ich hatte, trotz meines mangelhaften Verständnisses, noch ein sehr günstiges Vorurtheil für die Hegel'sche Philosophie. Die große Wichtigkeit der Kategorien von Qualität und Quantität, von Wesen und Erscheinung, von Begriff und Realität, fing mehr und mehr an, mir aufzudämmern, aber die Uebergänge von Kategorie zu Kategorie, auf deren Dialektik vom Katheder her gerade ein so großer Nachdruck gelegt wurde, blieben mir noch außerordentlich dunkel. Das Collegium wurde mir immer schwerer und ich beschloß es mit einer Ermüdung, die an starke Abneigung grenzte. Neben Steffens Naturphilosophie, in welcher Metalle und Felsarten, urweltliche Pflanzen und Thiere, die Sinne in ihrer Wechselwirkung mit einer ihnen correlaten Welt, die Temperamente und Anlagen des Menschen, die Anfänge der Geschichte durch die Rassenbildung, dem erstaunten Auge vorschwebten, konnte mir die Welt des logischen Begriffs mit ihrer Dialektik nur als eine öde Abstraction erscheinen. Von logischer Behandlung war allerdings bei Steffens nichts zu finden. Er hatte natürlich das Bedürfniß derselben, aber er konnte es immer nur auf Umwegen, durch Analogie, befriedigen. Ich war daher gar nicht im Stande, der Aufforderung meines Oheims zu genügen, ihm doch von Zeit zu Zeit über Steffens Vorträge zu berichten. Was ich daraus vorbrachte, wurde von ihm als Phantasterei gescholten und er gab mir Fries' mathematische Naturphilosophie, die 1822 erschienen war, in die Hände, mir zu zeigen, wie man diesen Gegenstand wissenschaftlich behandeln müsse. Ich blätterte das Buch durch, kam aber erst, aus ganz anderen Ursachen, im nächsten Winter dazu, es wirklich durchzulesen und zu excerpiren. Ich hielt nun meinem Oheim gegenüber, der ganz in Newton und Kant abgeschlossen war, mit meinem Enthusiasmus für Steffens zurück, ließ demselben aber für mich im Stillen um so mehr die Zügel schießen. Ich schaffte mir die kleinen Schriften desselben an, die er 1821 aus Zeitschriften gesammelt hatte. Aus ihnen wurde mir Vieles klarer, weil sie mich mit der wissenschaftlichen Bildungsgeschichte von Steffens, mit der successiven Entstehung seiner besondern Ansichten, bekannt machten. Was man auch, wie ich es später ja auch selber gethan habe, an Steffens Philosophie auszusetzen habe, so wird ihm doch immer zugestanden[208] werden müssen, daß er für die Natur einen tiefen Blick besaß, der stets auf ihre Totalität und Einheit hingerichtet war. Als ein ganz ausgezeichnetes Beispiel seines ursprünglichen Natursinns will ich aus jener Sammlung nur den Aufsatz über die Farben nennen, welcher durch die Forschungen des Malers Runge hervorgerufen war. Das Studium von Steffens begleitete mich bis spät in den Frühling von 1825, indem ich aus der Werkmeister'schen Leihbibliothek in der Jägerstraße, die einen Reichthum wissenschaftlicher Schriften besaß, wie er in solchen Anstalten sich selten findet, auch noch seine Caricaturen des Heiligsten erlangte, die ich mit andächtiger Hingebung las und excerpirte. Meine Liebe zu Steffens ist sich immer gleich geblieben. Ich habe sein letztes größeres wissenschaftliches Werk, die Religionsphilosophie, zwölf Jahre später in den Berliner Jahrbüchern streng beurtheilt, aber die Liebe zu dem Verfasser wird man in dieser Kritik nicht vermissen.

Den größten Contrast zu den poesiereichen Schilderungen der Natur von Steffens bildete das Collegium über Religionsphilosophie, welches Herr von Kayserling las. Ich hatte dasselbe noch in dem naiven Glauben angenommen, daß jede Wissenschaft doch ein ganz bestimmtes Gebiet beherrsche, daß ihr allgemeiner Begriff feststehe, daß ihre Ausführung eine eigenthümliche sein könne, daß sie jedenfalls aber alle wesentlichen Elemente der Wissenschaft überliefern müsse. Auf dem Gymnasium gewöhnen wir uns, die Resultate der Forschung als ein abgeschlossenes, zur Geltung gelangtes Ganze überliefert zu erhalten, wie ich auf solche Weise die empirische Psychologie, die Poetik, die philosophische Sprachlehre und formale Logik überkommen hatte. Auf der Universität tritt aber die Forschung selber an uns heran und der Lehrer ist berechtigt, uns in neue Bahnen fortzuleiten. In der Philosophie wird die Originalität solcher Bestrebungen den Docenten sogar zum Ruhm ausschlagen, wenn er durch sie ein in der That vorhandenes Bedürfniß der Wissenschaft befriedigt. Herr von Kayserling hatte soeben einen Abriß seiner Religionsphilosophie drucken lassen, den er seinen Vorträgen zu Grunde legte. Das konnte um so mehr Vertrauen einflößen. Die mündliche Erörterung konnte von diesen elementaren Bestimmungen mit um so größerer Sicherheit und Freiheit in das Detail sich einlassen. Aber wie fand ich mich getäuscht! Herr von[209] Kayserling kam nicht über das, was er hatte drucken lassen, hinaus. Er wußte offenbar nicht mehr von seinem Gegenstande. Wir waren nur etwa sechs bis sieben Studenten in einem kleinen Auditorium, welches in dem nach der Akademie zu gelegenen Flügel des Universitätsgebäudes nach der Straße hinaus lag. Herr von Kayserling, zwar noch Privatdocent, allein ein Mann von schon vorgerückterem Alter, pflegte spät zu er scheinen. Ueber einen blauen Leibrock mit goldbesponnenen Knöpfen trug er einen großen, schweren, braunen Flauschrock, mit welchem er sich nachlässig auf den Lehnsessel hinwarf, seine goldene Uhr herauszog, auf den Tisch legte, sein Buch mit einigen Papierrollen eröffnete und nun in seiner monotonen Weise zu sprechen anhub, indem er uns Studenten keines Blickes würdigte, sondern gewöhnlich auf das bunte Treiben hinausschaute, welches die Straße an diesem frequentesten Punkte Berlins belebte. Er erging sich in den wenigen Kategorien, die ihn beschäftigten, mit Geläufigkeit und unendlichen Wiederholungen, so daß nach einigen Wochen schon einige der Studenten wegblieben und ich zuletzt oft nur mit einem einzigen älteren Theologen, Olleroth, einem stillen, ernsten Commilitonen, allein mich einfand, mehr aus Mitleid, als aus Interesse.

Das ganze Collegium war nichts, als eine heftige Polemik gegen eine Aeußerung Hegel's über Schleiermacher's Dogmatik. Hegel hatte 1822 in einem Vorwort zu dem Buche eines seiner Schüler, Hinrichs, die Religion im innern Verhältniß zur Wissenschaft, ohne Schleiermacher's Namen zu nennen, das Princip des Gefühls der Abhängigkeit des Menschen von Gott angegriffen, auf welches Schleiermacher seine Glaubenslehre begründete. Hegel hatte darin gesagt, daß, wenn es sich so verhielte, der Hund der beste Christ sei, da in ihm das Gefühl der Abhängigkeit am stärksten sei und auch, wenn dem Hungrigen ein Knochen vorgeworfen werde, Erlösungsgefühle dem Hunde nicht fremd blieben. Hiergegen empörte sich nun Dr. von Kayserling, und dies war der eine Punkt, der mich wegen meiner Verehrung Schleiermacher's bei ihm festhielt. Er suchte diesen durch die Jacobi'sche Philosophie zu unterstützen. Er stellte den Begriff Gottes als den des Unbedingten, den der Welt und des Menschen als den des Bedingten auf, das also nothwendig von dem Unbedingten abhängen müsse. Diese Kategorie des[210] Unbedingten und des Bedingten war es, die er nun ausführlich hin- und herwälzte. In der entsetzlichen Langenweile, welche diese dürftige Metaphysik bei uns hervorbrachte, fing ich an, zu erkennen, daß der Begriff Gottes doch noch ganz andere Kategorien erfordere. So lieb mir Schleiermacher's Vertheidigung war, so regten sich doch gerade bei den nachdrücklichen Accentuationen der Abhängigkeit des Menschen von Gott Erinnerungen an Stellen des Neuen Testaments, worin die Freiheit des Menschen als der Zweck der Religion hervorgehoben wird. Christus sagte, wir sollen die Wahrheit erkennen, denn sie werde uns frei machen. Die Liebe zu Gott und zu den Menschen als das Princip der Religion soll alle Furcht, also das Gefühl der Abhängigkeit, austreiben. Wir sind nicht Knechte Gottes, sondern Kinder seines Hauses. Wir sind Brüder Christi, welche durch ihn zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes erzogen werden u.s.w. Dergleichen Stellen, wie gesagt, fielen mir ein, aber ich vermochte doch noch nicht, gegen die gewaltige Kategorie des Unbedingten, die jede Stunde als schweres Geschütz vorgeführt wurde, den rechten Hebel einzusetzen. Ich tröstete mich, daß bei Schleiermacher sich Alles wohl noch ganz anders verhalten werde, als Herr von Kayserling selber wisse. Allmälig ging ihm offenbar der Stoff aus, und doch war noch nicht einmal der Februar erschienen. Ein Halsübel, das ihn schon vor Weihnachten einmal glücklich von einigen Wochen Vortrag dispensirt hatte, war nicht so gefällig, sich wieder einzustellen. Da fiel er auf einen neuen Punkt, der mich wieder anzog. Er brachte eines Tages große Papierstöße mit und fing an, die Streitigkeiten über die Agende, deren Gegner Schleiermacher war, vorzunehmen. Da ich selber über die Agende geschrieben hatte, so freute ich mich, weiter und gründlicher darüber nachzudenken, um mich mit Herrn von Kayserling in bester Uebereinstimmung finden zu können. Da er nun hier aus der Tagespresse frisches Material genugsam empfing, so lavirte er sich bis Anfang März noch mit Anstand durch. Dieser Mann, ein ostpreußischer Baron, hatte gewiß den redlichsten Willen, aber es fehlte ihm theils an Gelehrsamkeit, theils an Lehrgeschicklichkeit, und so ist der Verlauf seines weiteren Lebens ein höchst trauriger geworden, den er selber in einem Bändchen Denkwürdigkeiten bis in das Einzelste hin beschrieben hat.[211]

So unvollkommen Hermann von Kayserling's Religionsphilosophie war, so blieb mir doch ein Stachel von ihr zurück, der sich immer tiefer in meine Seele senkte. Dies war das Problem, ob der menschliche Geist Gott so wissen könne, wie er an sich ist? Daß ein Absolutes, oder, wie der Glaube es nennt, ein Gott sei, wurde nicht in Frage gestellt, wohl aber, ob wir das Wissen des Absoluten von sich selber zu unserem eigenen, also unser Wissen zu einem absoluten machen könnten? Hegel, so hörte ich versichern, bejahte diese Frage; von Kayserling verneinte sie. Er gestand den Menschen allerdings die Möglichkeit eines Wissens von Gott, aber eines nur relativen, approximativen zu. Suchte ich für diese Frage in Hegel's Encyklopädie Aufschluß, so fand ich mich in der Antwort, die ich herauslesen konnte, unbefriedigt. Die Philosophie, hieß es, habe nur mit dem Absoluten zu thun, dessen absolute Form der Begriff sei. Religion und Philosophie hätten denselben Gegenstand, nur daß er für jene als Vorstellung, für diesen als Begriff im Bewußtsein erscheine. Das klang sehr beruhigend. Ich vermißte aber in der Encyklopädie ein Kapitel, welches ausdrücklich von Gott handelte. Ich erfreute mich an dem Gedanken, daß in dem System der Wissenschaft jede Bestimmung eine Stufe in der fortschreitenden, immer wahrhafteren Definition des Absoluten sein sollte. Wenn ich aber am Ende anlangte, wo alle vorangehenden Definitionen sich in eine einzige, letzte, schlechthin absolute aufheben und vereinigen sollten, so traf ich, statt des absoluten Subjectes, nach welchem ich mich sehnte, den Begriff der Philosophie aufgestellt. Und in diesem Begriff war weiter kein besonderer Inhalt gegeben, vielmehr hieß es, daß das absolute Wissen, zu welchem der Geist hier gelangt sei, schon in allen früheren Stufen seine Entwickelung gefunden habe, also nur ein Rückblick auf sie eintreten könne. Herrn von Henning's Logik und Metaphysik zeigte mir doch immer nur eine Dialektik von Begriffen, und ich konnte mich, was er auch sagte, schlechterdings nicht überzeugen, daß ich in ihm mit der Natur Gottes selber zu thun hätte. Ich fing daher an, den Commentar, den er uns zu den Paragraphen des ersten Theils der Encyklopädie vortrug, mit stetem Zweifel zu begleiten, ob er Recht habe, oder ob ich ihn unrichtig verstände. Ich gab, besser folgen zu können, endlich auch das Nachschreiben auf, finde aber in[212] meinem Heft, so weit es läuft, schon bei Paragraph 17 ein sehr komisches Intermezzo. Statt Henning's Erläuterungen steht ein heftiger, sehr schwülstiger Erguß gegen die Hegel'sche Dialektik. Ich spotte über ihren Dreischlag der Begriffsmomente; ich er blicke mich in diesen Abstractionen auf einem öden Felsen, der von unfruchtbaren Winden umtobt wird; ich spotte über den Spott, mit welchem die empirischen Wissenschaften von dem spekulativen Hochmuth herabgesetzt wurden; man meine Faust zu sein und sei selber nur ein trockener Wagner, der Famulus eines Pseudo-Faust; ich dürstete nach Leben und Liebe. Doch hoffte ich immer noch weitere Aufklärung und hielt das Collegium gewissenhaft aus. – Es ist keine Frage, daß Steffens mir unendlich mehr zusagte und daß von ihm aus jene Reaction gegen die Hegel'sche Logik ihre vorzüglichste Nahrung empfing. Wenn Steffens darüber sprach, daß sich jetzt eine neue Ansicht der Natur vorbereite, deren höhere Ahnungen die Wissenschaft schon als ein Frühlingsgefühl durchziehe, so war es mir, als brächen tausend Knospen in meinem Gemüth hervor. Wenn ich aber von Herrn von Henning vernahm, wie das Sein nicht das Sein, sondern das Wesen, das Wesen nicht das Wesen, sondern der Begriff sei, so wurde mir oft ganz trostlos zu Muthe. Daß die Kategorien durch sich selber von Innen her zusammenhängen müßten, hatte meinen völligen Beifall, aber das Wie dieses Zusammenhangs blieb mir oft räthselhaft. Schleiermacher's Verfahren sagte mir unendlich mehr zu, und ich ließ von Ostern 1825 bis Ostern 1826, mit Ausnahme vorübergehender Anregungen durch Gespräche mit Diesem und Jenem, das Studium der Hegel'schen Philosophie völlig ruhen.

Ich hatte den Winter hindurch so gut wie gar keinen Umgang. Müller war zwar noch in Berlin, allein ich verkehrte viel weniger mit ihm, je mehr er in die Familie meines Oheims Eingang gefunden hatte, wo er durch seine Freundlichkeit und Gefälligkeit sich bald zu einem allbeliebten Gast gemacht hatte, der bei Allem dabei sein mußte. Es wurde in dem Hause meines Oheims viel Musik gemacht. Wenn junge Leute der Bauakademie, die bei meinem Oheim Zutritt hatten, Violine oder Flöte zur Begleitung des Claviers zu handhaben wußten, oder wenn sie gesanglustig waren, so hieß man sie willkommen. Ich suchte mich diesem Treiben so viel als möglich zu entziehen und bekam[213] auch im zweiten Jahre eine Stube nach der Straße hinaus, die dicht neben der Bibliothek lag und in welcher ich von dem musikalischen Lärm nichts mehr vernahm und lieber die eintönigen Hammerschläge des Ciseleurs hörte, der mir gegenüber im Lagerhause die Statue Blücher's für Breslau bearbeitete.

Ich fand mich mit der Geselligkeit, die zuweilen stark in's Rauschende überging, durch Composition von Gelegenheitsgedichten ab, die mir bei meiner großen Leichtigkeit, Verse zu machen, nicht schwer wurden. Ich dichtete in jenem Winter zu solchem Zwecke auch zwei kleine dramatische Impromptu's: »Oberon und die drei Perlen« zu einem Polterabend und »Federico und Cäcilie«, ein Singspiel, zur Geburtstagsfeier einer älteren Verwandtin, die auf ein paar Wochen zum Besuch gekommen war.

Müller vergnügte sich in diesem Gesellschaftstumult umsomehr, als er sich in eine meiner Cousinen leidenschaftlich verliebte. Als er Ostern 1825 die Universität verlassen wollte, in die Praxis überzugehen, machte er ihr einen Heirathsantrag, fand aber keine Erhörung. Bleich, zitternd, Thränenströme vergießend, stürzte er eines Abends in mein Zimmer, mir diesen unglücklichen Ausgang mitzutheilen. Er jammerte mich und ich entschloß mich, ihn nach Hause zu begleiten, um den Wahnsinn seiner grenzenlosen Verzweiflung einigermaßen beschwichtigen zu helfen. Er wohnte sehr weit von mir, in der Mauerstraße. Da es ein naßkaltes, windiges Wetter war, durch welches wir gingen, so ließ er eine kleine Bowle Punsch machen, die ungeheure Spannung des Gemüths, worin wir uns befanden, etwas zu lösen. Müller war ein so guter, liebevoller Mensch, wie ich wenige gekannt habe. Ich hatte mich aus Grundsatz bei seiner Liebschaft, die mir nicht entgangen war, ganz neutral verhalten und stand daher seinem Affect mit reinem Antheil gegenüber. Hundertmal, wie alle Leidenschaftlichen, wiederholte er mir dasselbe, erzählte mir in aller Breite die Geschichte seiner Empfindungen, fiel mir zwischendurch um den Hals, verlor sich in die Vergegenwärtigung von Schönheit und Liebenswürdigkeit seiner Angebeteten, ermüdete sich aber eben mit diesem pathetischen Erguß, so daß ich nach Mitternacht ihn beruhigter verlassen konnte. Wie traurig war mir dieser Gang durch die stillen Straßen zwischen den hohen,[214] finstern Häusern unter dem wolkendunklen Himmel! Müller reiste nach zwei Tagen in seine Heimath ab. Er konnte aber seinen Schmerz nicht überwinden und starb nach einem Jahre an der Auszehrung.

So sehr ich mich nun auch zurückzog, so konnte ich doch bei der Breite der geselligen Verhältnisse, mit denen ich mich ungesucht berührte, nicht vermeiden, vielerlei oberflächliche Bekanntschaften zu machen. Zu diesen gehörte auch ein Französischer Sprachmeister. Er klagte mir, daß seine Beschäftigung ihm noch nie die Muße gegönnt habe, eine Abhandlung zu schreiben, um auf Grund derselben von einer Universität zum Doctor der Philosophie promovirt zu werden, durch welchen Titel er sich in seiner Stellung, namentlich bei Schulen, höchst vortheilhaft verbessern würde. Dies reizte mich zu dem Vorschlag, ihm eine solche Abhandlung zu verfertigen. Ich verlangte dafür nichts, als, im Fall des Gelingens, ein Exemplar seines Diploms. Der Mann, ein Familienvater, that mir leid, aber die Eitelkeit, meine Kräfte an einer solchen Aufgabe zu versuchen, hatte wohl größeren Antheil. Die Verantwortlichkeit für die Täuschung schob ich seinem Gewissen zu. Nun kam es darauf an, ein Thema zu finden, welches doch mit dem Treiben eines Französischen Sprachlehrers in den Augen einer Fakultät homogen erscheinen konnte. Ich verfiel auf den Begriff der Renaissance. Wie oft hatte ich nicht von der Zeit der Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften gelesen. Die Göttinger Professoren gaben ja viele Jahre hindurch eine große Geschichte derselben seit jenem Zeitpunkt heraus: Bouterweck, die Geschichte der Poesie und Beredtsamkeit; Buhle, die Geschichte der Philosophie u.s.w. Das war ein Thema, worin ich mit der nöthigen Vorsicht gegen die Vorurtheile der Gelehrten eine glänzende Apologie des Mittelalters anbringen konnte, für das ich noch immer schwärmte.

Mit Hülfe von Meusel's Leitfaden zur Geschichte der Gelehrsamkeit konnte ich die Arbeit mit dem Vorrath von Namen und Jahreszahlen versehen, welche den Fakultäten als Beweis positiver Kenntnisse bei den Bewerbern um akademische Würden so angenehm sind, weil sie doch einen gewissen Anhalt dafür bieten, daß sich dieselben mit dem Gegenstande eingehender beschäftigt haben. Ich griff nun jenen Ausdruck zunächst von der Seite an, daß er nur eine relative Berechtigung[215] habe, denn man verstehe unter ihm das Studium und die Nachahmung der antiken Kunst und Literatur, als ob diese der absolute Inbegriff aller wahren Kunst und Wissenschaft sei, was doch eine viel zu weit gehende Behauptung sei. Sodann behauptete ich, daß das Germanische Mittelalter niemals aufgehört habe, sich, obwohl in beschränktem Maaße, mit der antiken Literatur zu beschäftigen. Freilich seien es vorzugsweise Römische Autoren gewesen, denen man Aufmerksamkeit schenkte. Terenz sei sogar von einer Nonne, Hroswitha, nachgeahmt; Virgil, Lucan, Ovid seien beständig gelesen. Bei den Historikern sei das Bestreben, dem Livius oder Sallust oder Curtius nachzueifern unverkennbar. Bei den Philosophen stehe Seneca als Muster voran; doch verriethen sich auch die Spuren der Lectüre Cicero's. Aristoteles habe die Philosophie lange nur in lateinischer Uebersetzung beherrscht, aber endlich sei man doch auch zur Kenntniß des Originals übergegangen. Scotus Erigena habe schon unter Karl dem Kahlen das Werk des Areopagiten über die Hierarchie aus dem Griechischen übersetzt. An Lateinischen Lehrgedichten über die mannichfaltigsten Lehrgegenstände, sogar über das Schachspiel, sei kein Mangel. Hierauf spielte ich den Haupttrumpf aus, daß man doch dem Mittelalter nicht deswegen Kunst und Wissenschaft absprechen könne, weil es die Alten nicht copirt habe. Vielmehr sei die Selbständigkeit anzuerkennen, mit welcher es in der Scholastik eine ihm eigenthümliche Philosophie, in der Epik, Lyrik und in den Mysterien eine ihm eigenthümliche Poesie hervorgebracht habe. Hier, wo ich die meisten Kenntnisse besaß, ließ ich mich nun weitläufiger aus. Ich fragte, ob man denn ohne diese Fülle origineller Schöpfungen, die sich unabhängig von den Vorbildern der Griechen und Römer entwickelt hätten, nicht einer unendlichen Armuth und Einförmigkeit preisgegeben sein würde, wenn statt jener Ursprünglichkeit Philosophen und Dichter immer nur Sclaven der Alten hätten bleiben sollen? Dante sei gewiß ein großer Dichter. Er sei 1321 gestorben, müsse also ohne Widerrede zum Mittelalter gerechnet werden. Wolle man nun ihn und auch Petrarca ihrer Originalität halber verwerfen?

Dann ging ich auf die übrigen Künste über.

Von der Musik sei es klar, daß eine Nachahmung der antiken unmöglich gewesen sei, da wir zu wenig von ihr wüßten. Und doch[216] habe gerade diese Kunst aus den Anfängen des Mittelalters heraus einen so gewaltigen Aufschwung gewonnen. Für die Baukunst bezweifle wohl Niemand mehr, daß das Mittelalter Großes in ihr geleistet habe, seitdem das Vorurtheil gegen die Gothik überwunden sei. Und nicht nur Kirchen habe das Mittelalter gebaut, sondern auch Burgen von außerordentlicher Schönheit, wie das Alhambraschloß in Spanien, wie die Marienburg in Preußen. Mit der Architektur habe sich zugleich von den decorativen Elementen derselben und von den Grabmonumenten aus eine allerdings strenge Sculptur hervorgebildet, die nur, um sich zur höchsten Reife zu vollenden, von der Nachahmung der Antike zu früh unterbrochen wurde. Für die Malerei könne man die Glasmalerei, Fresken, musivische Werke und Miniaturbilder anführen. Die so wichtige Erfindung der Oelmalerei könne man dem Mittelalter nicht streitig machen. In der Bearbeitung von Waffen, Rüstungen, Zeugen, Teppichen habe das Mittelalter dem Alterthum nicht nachgestanden.

Dies ungefähr war der Gedankengang, dem ich mich mit Begeisterung überließ und den ich sehr rasch zu Papier brachte, da er schon lange in mir gährte. – Der Sprachmeister wurde auf Grund dieses studentischen Elaborats von einer der kleineren Deutschen Universitäten wirklich zum Doctor promovirt, was mir natürlich viel Vergnügen machte. Um die Fiction aufrecht zu halten, daß ein französischer Sprachmeister der Verfasser sei, war ich zum Schluß noch einmal auf die französische Literatur eingegangen, welche das Princip der Nachahmung der Alten auf die Spitze getrieben habe. Sie habe dadurch auch eine große formale Reinheit gewonnen, aber in der Freiheit und Frische der Production sei sie auch seitdem durch pedantische Einseitigkeit verkümmert und habe ihr goldenes Zeitalter hinter sich. Seit Lessing und Winkelmann werde Niemand, außer den Franzosen, glauben, daß sie die Alten nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen hätten. Das Resultat des Ganzen war also, daß der beliebte Ausdruck: Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften, insofern unrichtig sei, als ob im Mittelalter nur Barbarei geherrscht habe, und weder Kunst noch Wissenschaft vorhanden gewesen sei; während doch thatsächlich eine große bildende Kunst, die noch in tausenden von herrlichen Denkmälern vor Augen stehe, eine umfangreiche und bedeutende Poesie und eine nicht[217] zu unterschätzende Wissenschaft existirt hätten, welche letztere der antiken Philosophie so wenig fremd gewesen sei, daß sie vielmehr die Aristotelische als den classischen Zeugen der menschlichen Vernunft zur Auctorität auch für die Kirche erhoben habe. Jener Ausdruck sei aber auch insofern schief, als er mit der Wiederherstellung nur die Nachahmung des antiken Standpunktes ohne originelle, schöpferische Thätigkeit bezeichne, gegen deren Erfindungslosigkeit die selbstständige Produktivität des Mittelalters noch im Vortheil sei.

Diese Arbeit war für mich wohlthätig, weil sie mich zum ersten Male veranlaßte, mich aus einer grenzenlosen Zerstreuung zu concentriren und wenigstens für eine der vielen Regionen, in die mein wissensdurstiger Geist sich auslegte, zu sammeln. Ich war nur zu sehr mir selbst überlassen. Meine Empfänglichkeit war ganz universell, und viele Umstände trugen dazu bei, mich bald hier- bald dorthin zu ziehen. Die Antiquare wurden mir besonders gefährlich. Gleich bei der Universität, auf der Seite nach der Hauptwache zu, hielt ein Bücherverkäufer unter freiem Himmel seinen Markt; auf dem unteren Sims des Schlosses, an der Ecke der Stechbahn, stellte ein alter Büchertrödler seine Lockungen aus; in der Neuen Königsstraße war es die Handlung des Bücher-Antiquars Franz, die mich bald bei sich heimisch machte. Ich kämpfte oft längere Zeit mit meinen Gelüsten, in der Regel aber erlag ich der Versuchung und gab mehr Geld aus, als ich gesollt hätte. Ich kaufte auch gar Manches, was ich sehr wohl entbehren konnte, z.B. Feßler's Geschichte von Spanien, Machiavelli's Florentinische Geschichte, sein Leben des Castruccio Castracani, eine alte Ausgabe des Decameron und was es sonst Ueberflüssiges gab. Dazu kamen noch andere Zerstreuungen, die mich mit neuen Gedanken erfüllten. Ich selber, ein obscurer Student, würde es wohl z.B. nicht gewagt haben, einer öffentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften beizuwohnen, aber an der Seite meines Oheims wagte ich mich in den Saal. So kam es, daß ich Wilhelm von Humboldt nicht nur zu sehen bekam, sondern ihn auch seine berühmt gewordene Abhandlung über die Bhagavatgita vorlesen hörte, in welcher er beweisen wollte, daß dem Indischen Pantheismus ein Monotheismus zu Grunde gelegen habe. Solche Eindrücke verwischen sich nicht.

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878, S. 192-218.
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